Poesie und Mystik im Gespräch mit dem Geheimnis

Vor vielen Jahren, bei einem meiner ersten Zen-Retreats, saßen wir beim Essen und nach der Mahlzeit sprach der Zen-Meister einige Worte. Und er richtete sie an eine kleine Fliege, die vor uns auf dem Tisch umherflog. Beziehungsweise er erzählte uns von ihr. Wenn wir dieses kleine unscheinbare Wesen wirklich sehen könnten, dann offenbare sich darin das Leuchten des Seins, das Wunder der Existenz. Wie die Fliege dasitzt, sich die Flügel putzt, die in strahlender Transparenz in der Sonne leuchten. Wie sie bald auffliegt, um am Rand der Schüssel nach Essenresten zu suchen.

Diese kleine Episode bleib mir in Erinnerung. Der neue, offene, staunende Blick auf diese unscheinbare, häufig als lästig wahrgenommene Kreatur, begleitete mich durch dieses Retreat. Ich übte mich darin, auch andere unscheinbare Dinge und Wesen, die ich sonst kaum bemerkte, mit einem solchen wachen, liebenden Blick anzuschauen. Und ich bemerkte wie viele solcher Dinge es gibt, die ich nicht wirklich wahrnehme. Unser ganzes Leben besteht ja aus den Begegnungen mit und in einer Wirklichkeit, als die sich unser Leben ereignet. Die Gegenstände, mit denen ich umgehe, die Menschen, mit denen ich lebe, die mehr-als-menschlichen Geschöpfe, mit denen ich verbunden bin, die große lebendige Welt der Natur, die Ereignisse meines Lebens, die Geschehnisse einer globalen Welt. Wie viel davon erlebe ich wirklich, in der Tiefe, so dass es mein Herz berührt, mich verwandelt?

Diese Frage nahm ich damals mit aus dem Retreat und sie hat mich über all die Jahre weiter begleitet. Ich verstand, dass uns der Zen-Meister darauf hinweisen wollte, dass das Unscheinbare, das Alltägliche, das ganz Banale einen neuen Glanz bekommt, wenn wir anders sehen lernen. Wenn wir uns spürend öffnen, für das, was sich uns zeigt, sei es eine Fliege, ein Baum, ein Mensch, eine liebevolle Begegnung, aber auch ein Verlust, eine Verletzung, eine schwierige Situation in unserem Leben. Das, was unser Leben ist und wem wir darin begegnen, kommt in eine Tiefe, eine Bedeutsamkeit und ein Leuchten, wenn wir es als Ansprache des Lebens an uns und mit uns sehen. Wir sind keine getrennten, isolierten Wesen in einem sinnlosen Universum voller Dinge, Gegenstände und anderen Wesen, die uns nichts angehen – es sei denn sie sind uns von Nutzen. Wir leben mit allem und allen in einem großen, lebendigen, atmenden, liebenden Prozess, den wir Leben nennen.

Dieses Aufrauschen des Seins von innen ist eine Erfahrung, die viele Mystikerinnen und Mystiker aller spirituellen Traditionen in eigenen Worten beschreiben, die sich je nach religiösem Kontext unterscheiden. Oft tun sie es in poetischer Sprache. Denn solche Erfahrungen, solche Öffnungen in die strömende Tiefe der Existenz, lassen sich mit unserer herkömmlichen, rational-linearen Sprache kaum wiedergeben. Die poetische Sprache vermag, sich dem Geheimnis unserer Existenz zu nähern, weil sie nicht aus Analyse oder einem äußeren Verstehenwollen spricht, sondern aus einem inneren Mitvollziehen, einer innerlichen Teilhabe am Sein. In dieser Transformation unseres Sehens und damit auch unseres Daseins berühren sich Poesie und Mystik. „Die Absicht von Mönchen und Mystikern“, so die Dichterin und Zen-Übende Jane Hirshfield, „ist dem von Künstlern nicht unähnlich: das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen wahrzunehmen, indem man nicht die Welt verändert, sondern die Augen, die sie sehen. In einem anrufenden und verbindenden Bewusstsein weitet sich das Innere aus, um das Äußere zu transformieren, und das Äußere weitet sich aus, um den Sehenden zu transformieren.“

Wirklichkeit als Gespräch

Die Poesie findet ihren eigenen Zugang zum Geheimnis der Existenz ohne sich allein auf religiöse Glaubensvorstellungen, bestimmten spirituellen Praktiken, metaphysischen Annahmen oder eine mystischen Weltsicht zu berufen – wobei diese bei vielen Dichterinnen und Dichtern in verschiedener Weise mitschwingen. Aber vor, in und unter alldem schöpft die Poesie aus der unmittelbaren Erfahrung unseres Hierseins in einem Kosmos, der unser Verstehen unendlich übersteigt. Dabei besinnt sich der Dichter, die Dichterin darauf, dass dieser Kosmos ansprechbar ist. So wenig wir auch begreifen, so klein wir uns auch in einem unvorstellbar großen Universum empfinden mögen, jetzt und hier – dort, wo wir sind, als die, die wir sind – ist dieses Universum ansprechbar. Es erfüllt seine Wirklichkeit im Gespräch. Und Gespräch bedeutet Beziehung, Verbundenheit, Austausch von Bedeutung. Im Letzten, so könnte man sagen, ist es ein Gespräch des Kosmos mit sich selbst, denn wir sind Wesen in ihm, sind eingewoben in das Netz des Lebens.

Weil die Poesie sich so immer wieder auf die unmittelbare menschliche Erfahrung beruft und daraus schöpft, hat sie auch das Potenzial, uns als Menschen zu verbinden. Seit Urzeiten, als die ersten Menschen staunend die Augen zu den Sternen erhoben und mit aufdämmerndem Bewusstsein ihrer selbst die lebendige Welt um sich herum erfuhren, begannen sie, mit Tönen, mit Zeichnungen, mit Ritualen diesem Staunen Ausdruck zu geben. Diese ersten schöpferischen Akte waren künstlerisch und religiös zugleich, sie waren eine Äußerung der Bezogenheit. Die Menschen wollten sich auf das Unbekannte beziehen, es durch das Ansprechen besser verstehen. Als die Menschen später zu sprechen lernten, begannen sie in Gesängen, Mythen und Geschichten in dieses Gespräch einzutreten. Aus diesem sprechenden Sein mit dem Wunder der Existenz begannen sowohl Spiritualität als auch Poesie.

In all ihren kulturell unterschiedlichen Ausdrucksformen ist Poesie ein Sprechen mit der Welt in all ihrer Schönheit und Brutalität, mit der menschlichen Existenz in ekstatischer Erfüllung und unsagbarem Leid. In allen Kulturen und spirituelle Traditionen finden wir eine poetische Sprache. Darin liegt etwas zutiefst Verbindendes über alle Grenzen und Unterschiede zwischen Ethnien und Glaubensvorstellungen hinweg. Wir alle sind Menschen in einem schöpferischen Universum, das uns hervorgebracht hat und in dem wir immer eingewoben sind.

Ich denke, dass deshalb die Poesie einen Zugang zur Welt eröffnet, der heute von großer Relevanz ist. Dabei verstehe ich Poesie nicht nur als eine Kunstform der Literatur, die sie natürlich auch ist, sondern als eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber. In meinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Welt: Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“ spreche ich von einer Poetischen Lebenskunst und zwölf Qualitäten, die ihr zugrunde liegen. Mein Anliegen damit ist, die innere Gestimmtheit, aus der Dichtung entsteht und die wir empfinden können, wenn wir Gedichte lesen, genauer zu erforschen und Qualitäten freizulegen, die dem Poetischen innewohnen und uns allen offenstehen.

Damit will ich nicht die künstlerische Meisterschaft großer Dichterinnen und Dichter schmälern. Lyrik als Kunstform ist ein Ringen um Form, Ausdruck, Rhythmus, Bedeutungstiefe, überraschende Zusammenhänge, treffende Bezüge. Wie ein Bildhauer oder ein Maler arbeitet die Lyrikerin mit dem Mitteln der Sprache an einer Form, in der Sprache zu einer neuen, stimmigen Gestalt findet. Wie in jedem großen Kunstwerk leuchtet dann durch die vollendete Gedichtgestalt etwas hindurch vom Geheimnis der Wirklichkeit, ohne es direkt benennen zu müssen. Es kommt die Sprache zu sich und findet eine Form, die unmittelbar berührt. Große Gedichte sprechen universelle Empfindungen an, die wir als Menschen mitvollziehen können. Sie sind Tore in ein neues Schwingen mit den Dingen, sie berühren und trösten uns, erwecken und hinterfragen uns.

An Herzland

Aber Poesie ist für mich mehr als eine Literaturform, sie spricht unmittelbar vom Wesen unseres Menschseins. Das Wort Poiesis bedeutet Erschaffen. Und Poesie entsteht wie jede Kunst aus der schöpferischen Kraft des Menschen. In der Dichtung findet diese Schöpferkraft ihren Ausdruck im Wort. Wenn ich ein Gedicht schreibe, dann ist es ein Zustand wacher, offener, empfänglicher Stille. Es beginnt mit einem Gedanken, einer Einsicht, einem Anblick, einem Gefühl, das in mir wirkt. Daraus entsteht ein Wort, ein Satz. Woher? Im offenen Raum des lauschenden Bewusstseins findet eine Empfindung den Weg in ein Wort. Das allein ist schon ein Wunder der Schöpfung. Und auf dieses gesetzte Wort, diesen Satz, erhebt sich in mir eine Resonanz, ein Bezug, ein Gefühl oder Bild, das damit schwingt. Und so antwortet ein weiteres Wort auf das vorherige und löst seinerseits erneute Resonanzen aus. In diesem Spiel der Resonanz und Bezogenheit kommt eine innere Stimmung, ein Gespür, eine Berührung zum Ausdruck. Im Schreiben findet diese Berührung Sprache, verdeutlicht sich dadurch, findet Konturen, eine Gestalt. Und irgendwann, manchmal schon im ersten Entwurf, manchmal nach langem Ringen, Verfeinern, Bearbeiten, habe ich das Gefühl, dieses Gedicht hat seine Gestalt gefunden.

Sobald das Gedicht seine Form gefunden hat, ist das nur der Beginn eines weiteren Gesprächs. Das Gedicht ist darauf ausgelegt, in Beziehung zu treten, gelesen zu werden und im Wesen eines anderen Menschen weitere Resonanzen zu erzeugen. Damit ist ein Gedicht immer unterwegs, im schöpferischen Prozess, um weitere Verbundenheiten zu formen. Der Dichter Paul Celan bezeichnete Gedichte als „Flaschenpost“, die der Dichtende ins Meer des Lebens wirft, auf das sie an Land gespült werden, an „Herzland“, wie er sagt. Poesie ist eine Kommunikation von Herz zu Herz über die Weiten von Zeit und Raum, Kulturen und Religionen hinweg.

Staunen, Rühmen, Bezeugen

Den Vollzug des Dichtens und eines poetischen Lebens zugleich beschreibt Rainer Maria Rilke in einem seiner Gedichte so:

Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
daß du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
laß deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
daß dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.

Es beginnt mit Lauschen und Staunen, in dem sich die Tieftiefe unseres Lebens offenbart und wir so spürend werden, dass wir den Wind des Seins wahrnehmen und deuten können. Und wenn wir in der Stille ein Wort, einen Impuls, eine schöpferische Regung vernehmen, dann geben wir uns ganz hin, werden geliebt und gewiegt, weil wir empfänglich, durchlässig werden für die Lebenshauche, die uns anwehen. Und so weiten wir die Seele, und weiten sie noch mehr, um in ein gelingendes Leben zu wachsen, das heißt, die Dinge, die Welt, die uns gegeben ist, mit unserem Sein zu feiern. Und zu feiern bedeutet, mit unserem Sein das Sein der Welt zu bereichern, wertzuschätzen, zu intensivieren.

Man könnte sagen, dass Staunen und Feiern die Grundquellen sowohl der Poesie als auch der Spiritualität sind. Der Schriftteller und Kenner des Sufismus Navid Kermani erklärt: „Das Staunen über all die Dinge, Erscheinungen und Geschehnisse auf der Welt, die du siehst, aber nicht erklären kannst, weil sie unseren begrenzten Verstand übersteigen, manche davon beängstigend, viele wunderschön – ebendieses Staunen ist der Ursprung des Islam und aller Religionen.“ Das Staunen bewegt auch die Dichter, deren wichtigste Aufgabe für Rilke das Rühmen ist, das Feiern des Lebens in seiner ganzen vibrierenden Fülle. In einem Gedicht antwortet er auf die Frage „Oh sage, Dichter, was du tust?  – Ich rühme.“

Im Rühmen reift im Herzen die intensivierte Essenz des Lebens, der Klang des Unendlichen. Und das erfüllte Herz will singen. „Rühmen“, so der Philosoph Byung Chul-Han, „ist der letzte Zweck der Sprache. Es verleiht ihr einen festlichen Glanz. Im Rühmen wird jeder Seinsmangel aufgehoben. Es besingt und beschwört die Seinsfülle.“ Das Rühmen, das aus Dankbarkeit die Schönheit und Unverfügbarkeit des Lebens besingt, findet sich in den Lobpreisungen, Mantren und Gebeten vieler mystischer Traditionen. Staunen und Rühmen sind innere Gestimmtheiten, in denen wir uns gewahr werden, dass wir Teil eines umfassenden Ganzen sind, das uns weit übersteigt und gleichzeitig zutiefst trägt und bewahrt.

Mit dieser staunenden, rühmenden Offenheit lebt die Poesie nicht nur mit dem Erfüllenden, sondern auch mit dem Abgründigen. Dichtung bezeugt unser menschliches Leid, unsere Verletzlichkeit, Gebrochenheit, Sterblichkeit. Viele Dichtende erlebten diese Zerbrechlichkeit selbst, manche zerbrachen an dieser Spürfähigkeit für das Verletzte in uns und der Schöpfung. Wenn wir an die Grenzen unseres Seins kommen, in Krankheit oder Tod, bringt uns oft ein Gedicht den Trost, den Halt, den wir brauchen, um den einen Schritt weiterzugehen, ohne zu wissen, wohin er uns führt.

Poesie bezeugt das Leben in all seiner Fülle. Ganz so, wie es der Zen-Meister Bernie Glassman als Bearing Witness beschrieb: Die Freude und das Leid der Welt bezeugen, aus einem Geist des Nichtwissens, aus dem wir schöpferisch antworten können.

Ko-Poetinnen, Ko-Poeten des Weltgedichts

Dichtung ist staunende, rühmende, bezeugende Sprache, die schöpferisch auf das, was ist, antwortet. Schöpferkraft, die in Sprache Ausdruck findet. Damit verkörpert die Poesie – und die Kunst allgemein – unser schöpferisches Menschsein, das Ausdruck eines kreativen Universums ist.

Der Kosmos hat sich aus einem unnennbaren Nichts heraus ins Sein bewegt. Soweit wir momentan wissen, vor etwa 14 Milliarden Jahren in einer gewaltigen Explosion, aus der Licht und Materie entstand. Über unvorstellbare Zeitläufe und Räume ist daraus ein Universum geworden, mit Sternkonstellationen und Galaxien von atemberaubender Schönheit, wie uns zuletzt die Bilder vom Webb-Teleskop zeigen. Und in unserem Sonnensystem entstand im kosmischen Prozess des Werdens die Erde und darauf Leben in mannigfaltiger Form und Bewusstsein, das schließlich im Menschen zu einem Selbstbewusstsein kam. Auch unser Körper ist ein Ausdruck dieser Herkunft im Kosmos: die Elemente, die unseren Körper bilden, sind in Sternexplosionen entstanden. Es ist ein poetischer Ausdruck und gleichzeitig materielle Tatsache, dass wir aus Sternenstaub entstanden sind.

Durch das Bewusstsein unserer selbst, in dem wir all das erkennen, können wir frei und absichtsvoll selbst schöpferisch werden. Damit kommt in uns dieser gesamte Prozess der Entfaltung zu Bewusstsein. Oder besser zu einem Mit-Bewusstsein, denn obwohl wir bestimmte Fähigkeiten des Denkens und Erkennens ausgeprägt haben, schwingt unsere Bewusstwerdung in Beziehung mit all unseren Mitwesen. Dass wir uns in unserer modernen und postmodernen Lebensform vielfach aus dieser Verbundenheit getrennt haben, ist eine Ursache für die Krisen unserer Zeit.

Das Erwachen zu unserer schöpferischen Existenz in einem kreativen Universum inspirierte viele Mystiker und Dichterinnen. In der christlichen Prozesstheologie erscheint Gott als »Poet der Welt« und die Schöpfung in all ihren Dimensionen als ein Gedicht, an dem wir alle mitdichten. In der islamischen Mystik gibt es eine ähnliche Vorstellung, die Navid Kermani so beschreibt: „Nichts, was existiert, steht nur für sich selbst. Alles – die Natur ebenso wie die Zivilisation, die Kunst, die Liebe, die Nahrung, die Geschichte, das Gezwitscher der Vögel, die Mitmenschlichkeit und nicht zuletzt die Sexualität – alles auf der Welt ist zugleich ein ‚Zeichen’, wie es überall im Koran heißt. Auf Arabisch: âyât. … Die Verse (des Korans) heißen ebenfalls âyât, also ‚Zeichen‘. Man könnte also auch umgekehrt sagen, die Schöpfung ist ein einziges großes Gedicht, das Gott den Menschen singt.“ Der Dichter Hugo von Hofmannsthal fasste diese Sicht in dichterische Worte:

Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,

Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,

Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,

Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht.

Wir als Menschen sind nicht nur Ausdruck und Teil dieses Gedichts namens Schöpfung, wir sind nicht nur Empfangende, Lauschende. Wir sind darin Mitschöpfende. Der Akt unseres poetischen Mitwirkens ist ein umarmendes Verweben der Welt mit ihrem immer anwesenden ewigen Ursprung, der sich unserem Verstehen entzieht, sich aber unserem Zuwenden öffnet. Hier wird unser je konkretes individuelles Leben eingebettet, umarmend integriert in das universale Geheimnis, in dessen Wirklichkeit wir eigentlich sind. Wir alle sind, ob wir es wissen oder nicht, die Ko-Poetinnen und Ko-Poeten des Weltgedichts.

Das Schöpferische ist eine Ur-Qualität des Seins, und es ist auch der innere Kern des Poetischen. In der Dichtung ist die Muse eine Quelle des Schöpferischen – ein inneres Wesen oder eine Seinsweise, aus der die inspirative Kraft hervorquillt. Bei dem Dichter und Bewusstseinsforscher Jean Gebser fand ich eine ausdrucksstarke Beschreibung dieses kreativen Quellortes: „Die Muse ist das latente Gedächtnis der Welt; sie ist die Erinnerung an das Schöpferische, an alles durch das Schöpferische je bewirkte und je noch Bewirkbare. Dass sie mit diesem Schöpferischen in engster Beziehung steht und deshalb im Menschen das Dichterische auszulösen vermag, geht aus den aufgeführten Qualitäten der Muse hervor, denn – dem Schöpferischen verwandt – ist sie Quelle, immerwährende Fülle, Nährerin der Seele, ist Mutter des Sängers, also selber Empfangende, nämlich Empfängerin und Erinnernde des Schöpferischen, die im Dichter diese Erinnerung weckt, ist Gedächtnis, Dank und Denken-Müssen.“

Die Muse er-innert die Kraft des Schöpferischen, wie sie den Kosmos erschaffend durchdringt und im Menschen zu sich findet. Alles, was je bewirkt wurde und noch bewirkt werden wird, liegt darin beschlossen und offenbar. So ist die Muse eine Quelle, aus der uns die Schöpferkraft zufließt. Aus einer immerwährenden Fülle inmitten des strömenden Lebens, die uns nährt. Sie ist die Mutter der Dichtenden, sie empfängt sie und gebiert sie liebend in ihre eigene Stimme. Im Dichter, der Dichterin lebt die Muse fort als das Gedächtnis des Schöpferischen, als Dank für diese wandelnde Kraft und ein Denken, das sich immer wieder in Neuland vorwagt.

Sein und Werden poetisieren

Ich hoffe, es ist anschaulich geworden, wie sich die Poesie und erweiternd eine poetische Haltung unserem Sein und Werden von innen her nähert, es erfüllt und durchleuchtet. Es poetisiert. Die ganze Welt zu poetisieren, war das Anliegen der Frühromantiker, einem Kreis von Dichtern, Schriftstellerinnen und Philosophen um 1800. Eine der wichtigsten Stimmen dieser Bewegung war Novalis, der vor 250 Jahren geboren wurde. Die Aufgabe der Poesie fasst er so: „Die Poesie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke – der Erhebung des Menschen über sich selbst. Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein. Er ist der Sinn für das Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende, das notwendig Zufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare. Der Poet ist der transzendentale Arzt.“

In diesen Worten spricht die Wandlungskraft der Poesie, eine innere Haltung, die dem wahren Sein der Dinge und Wesen, der Ereignisse und Ideen auf der Spur ist. Ihren tieferen Sinn enthüllen, offenbaren will. Poesie und Romantik meint dabei keine Weltflicht oder schwärmerische Verklärung. Novalis selbst war nicht nur Dichter, sondern auch Naturwissenschaftler, Philosoph und politischer Denker. Sein Anliegen war vielmehr, dem gesamten Leben, wie wir es individuell gestalten und wie wir es als Kultur entwickeln, ein poetisches Leuchten zu verleihen. Ein Leuchten, in dem Verbundenheit und die Anwesenheit des Geheimnisgrundes unseres Menschseins Ausdruck findet. Weil der Poet dieses Leuchten anspricht und ausspricht, wirkt er als der „transzendentale Arzt“.

Eine poetische Lebenskunst bringt uns so der ganzen Fülle des Lebens näher, sie ist eine Hinwendung zu dem, was ist. Dieser vertiefte Umgang mit dem Sein kann dazu beitragen, uns Wege aus den Denkzwängen einer auf Leistung, Selbstoptimierung und Konsum ausgerichteten kapitalistischen Kultur zu eröffnen. Die Wachstumsideologie, mit der unsere Wirtschaft funktioniert und die uns ein mehr an materiellen Dingen und Erlebnissen suggeriert, kann die Quellen wahrer menschlicher Erfülltheit nicht berühren. Deshalb fühlen sich viele Menschen heute entfremdet, isoliert, werden psychisch krank, verlieren das Empfinden für einen tragenden Sinn.

Die Poesie eröffnet uns eine mitempfindende, dankbare, verbundene Wertschätzung für das Leben, das uns geschenkt ist, und in uns wirkt. Ein solches Erwachen zur schon immer vorhandenen Fülle des Seins, kann uns im Leben Heimat finden lassen. Wir fühlen uns verwurzelt und zugehörig, sinnvoll angesprochen. Und wir können schöpferisch antworten. „Die bedauernswertesten Menschen auf Erden“, so die Dichterin Mary Oliver, „sind diejenigen, die den Ruf zur schöpferischen Arbeit verspürten, die in sich ihre eigene schöpferische Kraft als Unruhe und Aufbruch empfanden und ihr weder Kraft noch Zeit schenkten.“ Weiterführend könnte man sagen, dass eine Kultur wie die unsere, die das kreative Potenzial ihrer Menschen nicht umfänglich fördert, in einem bedauernswerten Zustand ist.

Ein poetisches Sein eröffnet nicht nur einen tieferen Zugang zu dem, was ist, sondern auch zu dem, was noch werden will. In einer poetischen Offenheit erspüren wir auch die schöpferischen Kräfte in uns selbst, geben ihnen Ausdruck, entfalten sie, bringen sie in Beziehung mit anderen. Es erwacht eine Liebe zum Leben, weil wir Leben sind, das in uns strömt und gestaltet.

Dichtung macht die Sprache selbst schöpferisch. Poesie durchdringt die Sprache mit Bildern und Metaphern, sie entspringt einem bildhaften Denken, das nicht in Begriffen und Konzepten fixiert ist, sondern in dem das Denken spürend, lebendig, spielerisch und imaginativ wird. Die Poesie weitet sich hinein in die Sehnsucht nach einer Welt, in der die Qualitäten des schöpferisch Menschlichen mehr Wirkkraft entfalten. Sie eröffnet uns Visionen, wie das Leben sein könnte. In der Kraft der Imagination treten neue Möglichkeiten in unser Bewusstsein und wenn wir sie mit anderen teilen, auch in unsere Beziehungen.

Der Mangel an imaginativer Kraft, in der eine gerechtere, ökologische, menschliche, friedliche Welt in uns vorgebildet wird, lässt uns heute im ausweglosen Status quo der Alternativlosigkeit verharren. Sei es beim Klimawandel, der ökologischen Transformation, der sozialen Polarisierung, der globalen Ungerechtigkeit, wir haben es schwer, uns radikale Antworten, die an der Wurzel ansetzen, überhaupt vorzustellen. Das hat auch mit einer inneren Verarmung imaginativer, schöpferischer, künstlerischer und letztlich poetischer Kräfte zu tun. So verkümmert auch die Sehnsucht nach einer anderen Welt, die in der Poesie vibriert. Rob Hopkins, Begründer der Transition Town-Bewegung, sieht in der Belebung dieser Sehnsucht den Weg zu einer ökologischen Gesellschaft. „Wir müssen diese Art von Sehnsucht erzeugen“, erklärt er. „Und das ist die Aufgabe der Imagination, der Musik, der Poesie, des Geschichtenerzählens, der Kunst.“

Ein Sinn für das unmöglich Mögliche

Wie leben in einer Zeit, in der ein rationaler, instrumenteller Weltzugang weiterhin vorherrschend ist. Darin ist das Universum ein zufälliges, allein materiell erklärbares Phänomen, dem man durch Berechnen und Messen „habhaft“ werden kann, um es dann zu nutzen und für menschliche Zwecke zu manipulieren. Diese Geisteshaltung hat uns ins Anthropozän geführt, in dem der Mensch das Schicksal dieses Planeten in der Hand hat. Die Haltung der Trennung von der Welt, in der wir alles und jedes als Rohstoffressource sehen, hat zur ökologischen Krise geführt. Auch weitere Krisen wie die soziale Polarisierung, globale Ungerechtigkeit, ein Sinnvakuum mit psychischen Folgen, die Entfremdung vom Wirklichen durch die Digitalisierung und die sozialen Medien haben eine der Hauptursache in dieser getrennten, rationalen Denkweise.

Spiritualität und auch Kunst verweisen im Grunde auf eine ganz andere Erfahrung der Welt. Sie leben und erfüllen sich in der Verbundenheit mit dem Leben. Und diese Erfahrung führt auch zu einem anderen Umgang mit den Dingen und Wesen, der von Mitgefühl und Fürsorge erfüllt ist. Wobei wir heute auch sehen, wie Spiritualität und Kunst durch die kapitalistische Verwertungslogik korrumpiert werden. Es gibt einen reichhaltigen spirituellen Marktplatz, auf dem sich alles Mögliche tummelt und um Käufer wirbt, und den Kunstmarkt, in dem Künstlerinnen sich bestmöglich verkaufen müssen. Gleichzeitig gibt es viele bekannte und weniger bekannte Künstlerinnen, die in einer säkularen, materialistisch orientierten Gesellschaft von spirituellen Erfahrungen künden. Künstler wie Bill Viola, Anselm Kiefer, Marina Abramović, Ólafur Elíasson und viele andere bewahren, so habe ich manchmal den Eindruck, diese menschliche Möglichkeit in einer dürstenden Zeit. Dichter wie David Whyte, Mary Oliver, Christian Lehnert, Jane Hirshfield oder Marica Bodrožić lassen mystisches Erleben in ihre Texte einfließen. Auf diese Weise hüten Künstlerinnen und Künstler „die Flamme“ wie es Joseph Beuys einmal nannte, der in seinem erweiterten Kunstbegriff die schöpferischen Kräfte des Menschen als Grundlage einer freien, gerechten und bewussten Gesellschaft sah.

Wir sehen heute, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach echten transzendenten Erfahrungen spüren, in denen sie ihre Verbundenheit mit dem lebendigen Kosmos erleben können. Hierbei hat die Kunst und für mich insbesondere die Poesie eine große Bedeutsamkeit, denn der Poet ist der „transzendentale Arzt“ deshalb, weil er die Trennung heilt und unsere Ganzheit erinnert. Es gibt zugleich eine Wiederentdeckung kontemplativer Übungen wie die neue Wertschätzung der Achtsamkeit, die es bis in die Führungsetagen globaler Tech-Konzerne geschafft hat. Hier werden spirituelle Praktiken aber auch schnell zum neuen Mittel der Selbstoptimierung oder genutzt, um Mitarbeitende noch effektiver zu machen.

In einer solchen Zeit, in der unsere bisherige Denk- und Lebensweise an ihre Grenzen kommt und eine neue Lebensform erst im Entstehen ist, können wir, so bin ich überzeugt, sehr viel von der Poesie lernen. Eine poetische Beziehung zur Welt eröffnet uns die Erfahrung unseres Eingewobenseins in das große Geflecht des Lebens. Wir lernen spüren, was uns geschieht und anspricht. Wir lassen uns berühren und werden durchlässig. Und daraus bildet sich auch eine neue Antwort auf das Leben und seine Bedrohtheit.

Für die Tiefenökologin Joanna Macy, die sich in ihrem Wirken als Aktivistin auf die Poesie und besonders die Gedichte Rilkes bezieht, eröffnet die Poesie den spürenden Raum, in dem wir Erfüllung und Trauer gleichermaßen empfinden können. Die Fülle, an der wir teilhaben, wenn wir die ganze Schöpfung als uns zugehörig erfahren, und die Trauer über die maßlose Zerstörung, die wir ihr und uns als Menschen zufügen. Macy spricht von einer „heiligen Trauer“, die zu fühlen vermag, was ist, ohne abzulenken oder sich zu flüchten. Die aber gleichzeitig zu einer handelnden Antwort aus entschlossener Liebe führt. Mit einer radikalen Hoffnung, die sich, so Macy, im Antworten erfüllt, ohne sich sicher sein zu können, ob diese Antwort zum erhofften Ergebnis führt.

Die Poesie kann eine solche Unsicherheit, Ungewissheit tragen. Gerade in einer Zeit, in der so vieles unvorhersagbar ist, gibt uns die Poesie ein Lebensvertrauen, das daraus schöpft, dass wir immer Leben sind und deshalb auf das, was ist, antworten können. Sie führt uns zu einer Selbstwirksamkeit aus unserer schöpferischen Stimme, mit der wir die Verse des Weltgedichts mitweben. Wir werden aus Ohnmacht und Lähmung befreit. Weil die Poesie tiefer reicht als religiöse, weltanschauliche, machtbezogene Ideen und Ideologien, kann sie einen existenziellen, freien Raum eröffnen, in dem wir als Menschen gemeinsam den Weg in die Zukunft finden können. Oder in dem uns der Weg finden kann, der zu möglich ist. Novalis fasst die gesellschaftliche oder gar politische Vision der Poesie in diese Worte: „Die Poesie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen […], die Poesie bildet die schöne Gesellschaft – Weltfamilie – die schöne Haushaltung des Universums. […] Das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum. Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft.“

Eine poetische Gesellschaft spricht also von der Verheißung einer Lebensform, in der unsere Verbundenheit miteinander und der Schöpfung in allen Bereichen des Lebens Ausdruck findet. Es wäre eine hörende, eine lauschende, ja, eine schöne Gesellschaft, die nicht gegeneinander und gegen die Natur handelt, sondern aus dem Miteinander. Natürlich ist das eine Vision, die heute als Schwärmerei erscheinen kann, aber Poesie, Kunst und auch Mystik tragen in sich einen geheimnisvollen Sinn für das unmöglich Mögliche. Dieser Möglichkeitssinn lebt in jedem von uns und ist das Kostbarste, was wir als Menschen spüren können. Die Poesie ist ein Weg, dieses Wahrnehmungsorgan für das Wunder zu erwecken:

 

Werde wach mit allem

Die Nähe wird weit

Die Ferne ganz innig

Was war,

kommt jetzt sprechend zu dir

Was möglich sein wird,

atmet schon

Im tastenden Spüren

Schenke dich frei

Ohne Rückhalt

Segne dich wieder

Und alles mit dir

 

Verbinde das Getrennte

Und lausche dem Herzen

Der Welt