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Dem Leben auf den Grund gehen

Mein journalistisches Schreiben ist eng mit der redaktionellen Arbeit des Magazins evolve verbunden und hat dadurch einen ganz bestimmten Entwicklungsfaden und Erfahrungsraum erhalten. In jeder Ausgabe setzen wir uns mit einem Schwerpunkt-Thema auseinander, das wir intensiv und aus verschiedenen Perspektiven dialogisch bearbeiten. Dialogisch bedeutet für uns, dass wir Zugänge schaffen, die sich einerseits deutlich voneinander unterscheiden, die aber gleichzeitig Schnittmengen und Überlappungen bilden. Das ermöglicht eine Multiperspektivität, die einzigartige Impulse enthält, die etwas Verbindendes aufweisen. Journalismus, der sich daran orientiert, kann sich auf Gestaltungsprozesse und Gestaltungsräume beziehen, das vermeidet konfrontative Grundhaltungen und setzt spannende schöpferische Potenziale frei. Das ist ein transformativer Journalismus, der die Lesenden in neues Denken, Spüren und Erfahren einlädt.

Zu unseren letzten Themen gehörten: Klimawandel, Reife, Geld, Religion oder Heimat. Neben diesem thematischen Fokus greifen wir in jeder Ausgabe uns inspirierende Projekte, Initiativen, Künstler und Biografien auf, denen wir mehr Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit wünschen. Auf dieser Seite finden Sie einige meiner ausgewählten Artikel und Essays.

Für mich ist das journalistische Schreiben ein sich ständig vertiefender und erweiternder Dialog mit einem Thema, dem ich auf den Grund gehen kann. Dabei ist es mir wichitg, möglichst viele Blickwinkel einzubeziehen und etwas anzurühren, das noch nicht gesagt wurde oder gesagt werden will. Gleichzeitig möchte ich im Schreiben auch meine eigenen Prozesse, Fragen und Unsicherheiten offenlegen und nicht so sehr Antworten geben, als beim Lesenden ein weiteres Forschen und Vertiefen anstoßen.

Artikel | Mike Kauschke

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Artikel und Interviews auf ethik-heute.de

Regelmäßig schreibe ich auch für das Online Portal Ethik heute.

Meine Texte findest du hier.

Neue Orientierung

 Projekte für eine lebendige Weisheitskultur

Inmitten der zahlreichen Herausforderungen unserer Zeit verbreitet sich die Erkenntnis, dass unsere bisherigen Denk- und Handlungsweisen der globalen Situation nicht mehr gerecht werden. Deshalb sehen kulturelle Vordenker die Notwendigkeit einer neuen Weisheitskultur. Wir stellen zwei neue Projekte vor, in denen sie vorbereitet, erforscht und vermittelt wird.

Man könnte sagen, wir leben heute in einer Krise des Wissens. Ein Ausdruck davon ist der fast grenzenlose Zugang zu Wissen durch Internet und Algorithmen. ChatGPT als neue Revolution der Wissensgenerierung durch künstliche Intelligenz führt uns das gerade auf einer neuen Ebene vor Augen. Ein anderer Aspekt dieser Krise ist die Tatsache, dass wir trotz des detaillierten Wissens über drohende Katastrophen wie die Erderwärmung und ihre Folgen, nicht in ein wirkungsvolles Handeln finden. Angesichts dieser Dynamiken wird die Frage lauter: Was fehlt uns? Und es gibt immer mehr kulturelle Vordenker, die unser Versagen darin sehen, dass das Generieren von mehr Wissen nicht durch das Kultivieren von Weisheit begleitet wird. Deshalb verlieren wir die Orientierung – und vielleicht sogar den Verstand.

Der Pionier und Kritiker der Digitalisierung Jaron Lanier sieht die Herausforderung der neuen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz nicht darin, dass eine Art technologisches Wesen die Macht übernimmt, sondern »dass wir einander nicht mehr verstehen oder, wenn Sie so wollen, wahnsinnig werden. Das führt dazu, dass wir nicht mehr mit genügend Verständnis und Eigeninteresse handeln, um zu überleben, und wir im Grunde dadurch sterben, dass wir uns in den Wahnsinn treiben lassen.«

Die Welt zu verstehen, die richtigen Prioritäten im Handeln zu setzen, mit uns selbst, miteinander als Menschen und mit dem Lebendigen aufmerksam und mitfühlend umzugehen – all das sind Qualitäten, von denen die Weisheitsliteratur spricht. Deshalb, so ist der Philosoph Michael Hampe von der ETH Zürich überzeugt, kann sie uns gerade heute wieder erneut Orientierung geben. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat er das Internetportal METIS für interkulturelle Weisheitsliteratur und Weisheitspraktiken konzipiert, das kürzlich online gegangen ist. Nathan Vanderpool, der das Respond Project leitet, ist der Ansicht, dass Weisheit heute dringend erforderlich ist, um der weit verbreiteten Sinnkrise begegnen zu können. Der Fokus von Respond liegt darauf, eine „Ökologie von Praktiken“ zu entwickeln und zu vermitteln, durch die Menschen, Organisationen und letztlich unsere Kultur weiser werden können. Beide Projekte stehen noch ganz am Anfang, zeigen aber, wie relevant die Frage nach der Weisheit heute ist und wie sie von Vordenkern und Netzwerken aufgegriffen wird.

Antwort auf Desorientierung

Michael Hampe hat sich eingehend mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt und erklärt, dass es bei kulturellen Neuerungen immer auch zu einer Desorientierung kam, die zu einer Blüte der Weisheitsliteratur führte. In der Achsenzeit um 800 bis 200 v. u. Z. entstanden Großreiche mit neuen kulturellen Kontakten. Eine Reaktion auf die dadurch ausgelöste Desorientierung waren seiner Ansicht auch die Weisheitstexte von Laotse, Konfuzius, Buddha, Zarathustra, der biblischen Propheten, des Koran oder Talmud. Eine zweite große Desorientierung entstand durch die Entwicklung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Plötzlich war es möglich, Informationen in einer nie gekannten Geschwindigkeit an viele zu vermitteln. Menschen suchten Orientierung in den Ideen Martin Luthers und des aufsteigenden Protestantismus oder den Schriften der Mystiker. Heute befinden wir uns, so Hampe, mit dem Internet in einer ähnlichen Situation: »Es war in der Menschheitsgeschichte bisher noch nie möglich, in so kurzer Zeit so viele Menschen mit einer Information, Meinung oder Desinformation zu versorgen. Das führt zu einer furchtbaren Desorientierung.« Hampe sieht darin aber auch die Chance, das Internet zu nutzen, um kulturelle Verständigungsprozesse zu unterstützen. Und genau das soll das neue Projekt METIS.

Die zweisprachige Seite (Englisch/Deutsch) enthält Texte zu Weisheitsthemen, Podcasts mit Kennern verschiedener Weisheitstexte wie dem Tao Te King, dem Ägyptischen Totenbuch oder der Stoa. Es kommen auch Menschen zu Wort, die Weisheitspraktiken leben wie Meditation, Teezeremonie, Bogenschießen oder Sufi-Tänze. Die Podcasts stehen auch als Transkript zur Verfügung und es gibt Zugang zu den originalen Texten. Es gibt ein ABC der Weisheit, wo Stimmen aus verschiedenen Traditionen etwas zu Themen wie Freundschaft, Liebe, Feindschaft, Krieg, Verzweiflung sagen. Hampe, der auch literarisch-philosophische Texte veröffentlicht, betont dabei, dass auch Lesen, Schreiben und literarisches Erzählen zu Weisheitspraktiken werden können, wenn wir sie mit der entsprechenden Aufmerksamkeit beleben. Das Portal sucht den Austausch mit den Nutzerinnen durch Kommentarfunktionen Essaywettbewerben und Fotoeinsendungen zu Weisheitsthemen.

Im Dialog der Kulturen

Die Hoffnung des Projekts ist, dass zum Beispiel Schülerinnen und Schüler die leicht verständlich angelegte Webseite für den Philosophieunterricht nutzen und interessierte Laien sich darauf mit Weisheitstexten vertraut machen können. Der Schwerpunkt beim Konzept der Webseite ist ein interkultureller Zugang, der nicht nur die westliche Philosophie und Literatur umfasst, sondern auch den Koran, die Upanischaden oder die Schriften des Zen-Meisters Dogen behandelt. Für Hampe geht es aber nicht darum, zu einer Art kleinstem gemeinsamen Nenner der Weisheit zu kommen. Dieser interkulturelle Blick ermögliche vielmehr eine gegenseitige Spiegelung von Weisheitsliteratur, die zu einer Verständigung über Lebensorientierung beitragen könnte, die nicht konfessionell gebunden ist, aber über eine rein wissenschaftliche Perspektive hinausgeht. »Weil Physik oder Maschinenbau genauso gut in Japan, in Kalifornien und in Peking funktionieren, scheinen wir uns darauf zu verlassen, dass Naturwissenschaft und Technik ein globales Bewusstsein herbeiführen. Aber Naturwissenschaft und Technik führen nicht zu einer Lebensorientierung«, erklärt Hampe. Die Weisheitsliteratur und die darin beschriebenen Praktiken könnten in einer Zeit der Polarisierung jenseits von politischen und konfessionellen Differenzen eine Verständigung und gemeinsame Orientierung über kulturelle Grenzen hinweg ermöglichen.  

Dabei ist Hampe davon überzeugt, dass die Einsichten und Praktiken der Traditionen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Für ihn hat Weisheit mit einer bewussten Kultivierung des eigenen Lebens zu tun und er ist der Ansicht, dass im Zentrum der Weisheitspraktiken aller Kulturen eine Schulung der Aufmerksamkeit steht, die gleichbedeutend ist mit Empathie. Denn, so Hampe: »Je mehr Aufmerksamkeit man auf etwas anwendet, umso wertvoller wird es für einen und umso schwieriger ist es, sich demgegenüber zerstörerisch, verbrauchend oder schädigend zu verhalten.« Orientierung, Aufmerksamkeitsschulung und ethisches Handeln können also durch Weisheitstexte und -praktiken gefördert werden. Deshalb ist Weisheit für Hampe heute so relevant.

Ein endloser Prozess

Das globale Weisheitsnetzwerk »Respond« beruht auf der Einsicht, dass wir uns in einer Metakrise befinden und dass ein Grund dafür in einem Mangel an Weisheit liegt. Respond verbindet Experten aus Forschung und Praxis wie den Kognitionswissenschaftler John Vervaeke, den Bildungsforscher Zak Stein oder die Entwicklungsforscherin Bonnitta Roy, auch evolve-Herausgeber Thomas Steininger ist Teil des Projekts. Das Anliegen des Netzwerks ist es, ein Ökosystem von Praktiken (Ecology of Practices) für die persönliche und systemische Transformation zu entwickeln. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Anregung und Vermittlung unmittelbarer Erfahrung, durch die eine nicht-dogmatische Weisheit für eine viel breitere Bevölkerung zugänglich gemacht werden soll.

Dabei wird Weisheit hier als ein Prozess der Harmonisierung von Einsicht, Fürsorge und Handeln formuliert, der sich durch die Einstimmung auf gelungene Beziehungen vertieft. Aber Weisheit zu definieren, ist heikel, wie Nathan Vanderpool bemerkt, der das Projekt leitet: »Es gibt bei Respond eine Theorie der Weisheit, die auf bestimmten Prinzipien beruht. Aber jede Definition ist schwierig, weil Weisheit kein Substantiv ist, sondern ein Verb. Es ist ein Prozess, kein Zustand, den man erreicht. Dieser Prozess hört nie auf, denn man kann eine tiefere Einsicht, eine reifere Fürsorge, ein geschickteres Handeln kultivieren. Zudem verändern sich die Welt und die Situationen, in denen wir uns befinden, ständig, weshalb Weisheit vom jeweiligen Kontext abhängig ist.« Diesen Prozess, weise zu werden, möchte das Respond-Netzwerk erforschen und vermitteln. Die Initiatoren des Projekts, das sich noch in der Konzeptionsphase befindet, trafen sich im letzten Jahr in der Monastic Academy in den USA und in diesem Jahr wird es ein Treffen in Frankreich geben.

Der Schwerpunkt liegt dabei auf der konkreten Praxis, wobei das Projekt vier Kategorien vorschlägt: Verkörperung, Achtsamkeit, Imagination und Dialog. Die Basis bildet die Verbindung mit der verkörperten Erfahrung. Durch den Körper nehmen wir unsere Umwelt wahr und ihm wohnt auch ein unbewusstes Wissen inne, das sich als Intuition oder Emotionen zeigt. Um uns der Verkörperung bewusst zu sein, können wir in unsere unmittelbare Erfahrung hineinspüren. Achtsamkeitsübungen ermöglichen eine solche Aufmerksamkeit, in der wir uns bewusst werden, was sich in Einsicht, Fürsorge und Handeln zeigt. Es ist ein reines Betrachten. Wenn wir unser Verhalten hinterfragen oder uns vorstellen, wie wir anders handeln könnten, begeben wir uns in den Bereich der Imagination. Hier leben auch die kreativen Visionen der Zukunft, der eigenen und der Gesellschaft. Und in Praktiken des Dialoges können wir zu einer neuen Gesprächskultur finden, die selbst schöpferisch ist, und in der sich eine kollektive Weisheit zeigen kann. Diese vier Dimensionen sind als eine Art Landkarte gedacht, um über wirkungsvolle Weisheitspraktiken ins Gespräch zu kommen und sie zu vermitteln. Bisher liegt der Fokus des Gesprächs auf Nordamerika und Europa, aber in einem nächsten Schritt sollen auch Experten aus Südamerika, Asien und Afrika einbezogen werden, um einen globalen Weisheitsdialog anzustoßen.

Eine kulturelle Intervention

Respond möchte die im Netzwerk erarbeiteten Prinzipien und Praktiken in verschiedenen Seminarformaten und in der Beratung von Organisationen und Start-ups umsetzen. Eine weitere Idee ist eine neue Form von Podcast, der mehr einer kommunizierenden Gemeinschaft entspricht. Durch die Seminare soll eine Gemeinschaft von Prozessbegleitern entstehen, die ihre eigenen Erfahrungen in der Praxis in unterschiedlichen Kontexten wieder ins Netzwerk geben, so dass es selbst ein lernender Prozess werden kann. »So kann eine Bewegung entstehen, die weise an ihrer eigenen Weiterentwicklung arbeitet«, sagt Nathan Vanderpool. Für ihn ist Respond eine kulturelle Intervention, eine soziale Skulptur im Sinne von Joseph Beuys, »um Weisheit vom Rand der Kultur zurück ins Zentrum zu bringen«.

Wenn Menschen sich individuell an diesem Prozess beteiligen und sich entfalten, trägt es zum Wohlbefinden aller bei, weil wir grundsätzlich miteinander verbunden sind. »Dabei kann nur jeder und jede selbst herausfinden, was ein guter, wahrer und schöner Ausdruck des eigenen Lebens ist«, so Vanderpool. »Deshalb ist eine solche Weisheitskultur von Grund auf anti-ideologisch.«

Respond versteht sich als Teil einer Bewegung zur Förderung einer Weisheitskultur, die sich im individuellen Leben der Menschen manifestiert und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft eine andere Gestalt annehmen wird. Wie kann eine Bildung oder eine Wirtschaft aussehen, die von Weisheit geleitet wird? Wir alle sind eingeladen, darauf die Antworten zu finden. Weisheitskultur bedeutet aber auch, dass es Institutionen gibt, die weises Handeln unterstützen. Vanderpool erklärt, dass Weisheitspraktiken die Qualität der Mitwirkung der Menschen vertiefen können. Gleichzeitig können aber auch die Systeme, in denen dieses Engagement eingebettet ist, so verändert werden, dass die Kultivierung von Weisheit gefördert wird. Dazu gehört die Offenheit, im jeweiligen Kontext und mit den beteiligten Menschen den je angemessenen Weg zu finden. Gleichzeitig gibt es allgemeine Prinzipien der Weisheitsbildung, die von Projekten wie METIS und Respond und vielen anderen erforscht und angewendet werden, um unser Verständnis von einer zeitgemäßen Weisheit ständig weiterzuentwickeln. Auch wenn solche Initiativen noch am Anfang stehen, zeigen sich darin Impulse und Praktiken einer möglichen Weisheitskultur.

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Erschienen in evolve Ausgabe 38 / 2023 “Unsere Weisheit – und warum es sie braucht”

 

Gemeinschaften, in denen Zukunft keimt

Labore einer regenerativen Kultur

In Gemeinschaften und Netzwerken finden sich Menschen zusammen, um eine regenerative Kultur auf die Erde zu bringen. Eine Spurensuche zu den Herausforderungen und Möglichkeiten regenerativer Gemeinschaften und der Frage, was eine „regenerativ“ eigentlich ganz praktisch bedeuten kann.

Die Vision einer regenerativen Kultur zeigt sich nicht nur in neuen Formen des Umgangs mit der Erde, sondern auch in regenerativen Gemeinschaften und Netzwerken. Was sind die Merkmale solcher Gemeinschaften? Wo zeigen sich hier Qualitäten einer neu entstehenden regenerativen Kultur? Um diesen Fragen nachzugehen, sprach ich mit vier Menschen, die in regenerativen Gemeinschaften vernetzt sind, darin leben oder solche gründen wollen. Lennart Hennig, der mit Freunden eine Gemeinschaft auf den Azoren gründen will, Stefanie Raysz, die im Ökodorf Tempelhof lebt, Theresa Fend, die bei Extinction Rebellion (XR) tätig war und heute Gemeinschaften berät, und Bart Hoorweg, der mit Gaianet eine Plattform aufbaut, die regenerative Gemeinschaften weltweit vernetzt und unterstützt. Dabei zeigte sich eine Art Signatur des Regenerativen in einer tiefen Beziehung zur Erde, in der inneren Entwicklung, in den Kommunikationsprozessen des menschlichen Miteinanders und dem Verständnis, Teil einer evolutionären Bewegung und einer neuen lebensförderlichen Kultur zu sein.

Eine tiefe Beziehung zur Erde

Wenn man Lennart Hennig zuhört, spürt man die Aufbruchskraft der regenerativen Vision. Er hat als Unternehmensberater gearbeitet und Organisationen beim Übergang zu Selbstführung begleitet, hat sich mit integraler Theorie beschäftigt, mit Persönlichkeitsentwicklung, Schattenarbeit, Spiritualität, Permakultur, Praktiken der bewussten Verkörperung. Ähnliches lässt sich auch von meinen anderen Gesprächspartnern sagen. Menschen, die sich in regenerativen Projekten engagieren, verbinden in sich ein Interesse an Bewusstseinsentwicklung und Ansätzen, die einen co-kreativen Umgang mit anderen Menschen und der Erde eröffnen. Zusammenarbeit statt Konkurrenz, ein integraler, ganzheitlicher Blick statt Fragmentierung in verschiedene Denksilos. Individueller Ausdruck, in dem wir uns unserer wechselseitigen Verbundenheit mit allem Lebendigen bewusst werden.

Lennart fand in Berlin andere Menschen, die solch ein Bewusstsein der Verbundenheit ganz konkret leben wollen. Es reifte die Vision, eine Gemeinschaft zu gründen und sie fanden ein Grundstück auf den Azoren, auf dem ein regeneratives Dorf entstehen soll. Er ist sich bewusst, dass sein Projekt ein neu gefasster Ausdruck eines gemeinschaftlichen Impulses ist, der in den vielen Ökodörfern weltweit schon seit vielen Jahren erprobt wird. Auch dort versteht man das eigene Tun als regeneratives Sein mit der Erde und ein lebensfördernder Umgang mit dem Boden spielt eine zentrale Rolle.

Den Unterschied zwischen neuen regenerativen Projekten und dem Ansatz vieler Ökodörfer sieht Lennart zunächst in einer heute möglichen Synthese vieler ganzheitlicher Denk- und Praxisansätze. Zudem sieht er in früheren Gemeinschaftsgründungen eine Haltung, in der sich Menschen zusammenfanden, um eine Alternative zu einem als zerstörerisch wahrgenommenen System zu leben. Das kam oft aus einem Bewusstsein des »Wir gegen die anderen«. Lennart möchte sein Projekt als ein »Wir mit den anderen« verstehen. »Wir sind nicht von der gegenwärtigen ausbeuterischen Kultur abgetrennt, wir wollen ein lebendiger Organismus sein, der innerhalb dieser Kultur wächst, sie beeinflusst, mit ihr im Austausch ist und sie zum Lernen anregt.« Aber auch in bestehenden Ökodörfern wie Tempelhof zeichnet sich ein ähnlicher Wandel ab. »Wir müssen uns immer wieder fragen: Leben wir in einer Blase? Sind wir noch gesellschaftskompatibel? Bilden wir eine utopische Alternative oder ein Reallabor?«, reflektiert Stefanie.

Moralische Intimität

Eine regenerative Kultur ist mehr als ein neues aktivistisches Projekt oder Modell von der Transformation der Welt, sondern spricht auch einen inneren Wandel an. Dass solch eine innere Veränderung notwendig ist, zeigt sich spürbar, wenn Menschen sich zusammenfinden, um in konkreten Projekten und Netzwerken eine neue Kultur zu erproben.

Theresa fand in ihrer Arbeit bei XR schnell heraus, dass es Schattenseiten des Aktivismus gibt, auf die sie Antworten suchte. Sie war im Global Support Team aktiv, das weltweit XR-Initiativen unterstützt. Dort erfuhr sie, dass Burnout in der Bewegung sehr verbreitet ist, »weil so viel auf dem Spiel steht und die Menschen sich sehr schnell verausgaben«. Theresa beschäftigte sich deshalb mit der Stressreaktion des Nervensystems und wie es reguliert werden kann. Dazu gehört auch einen Rhythmus zu finden zwischen Ruhe und Aktivität, der die innere Resilienz unterstützt. Zur inneren Regeneration gehört für sie auch »die Fähigkeit, mit der Lücke zu leben, dass wir Menschen sind und dass nicht immer alles hundertprozentig glatt laufen wird. Trotz Fehlschlägen kann ich die Kraft finden, meinen Teil beizutragen und im Einklang mit meinen Überzeugungen zu leben. Und wichtig ist auch die Fähigkeit, Spaß zu haben, ihn genießen zu können, sich mit dem Schönen zu verbinden und Humor wertzuschätzen.«

Bei Gaianet gibt es die Praxis, dass jeder im Team ein persönliches Manifest erstellt, in dem er oder sie den eigenen Traum für das Projekt formuliert, und die Talente und Fähigkeiten, die man einbringen möchte. »Für jeden und jede ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, wer man ist, warum man hier ist, was man einbringen kann und was man braucht, um wirklich co-kreativ zusammenarbeiten zu können«, erklärt Bart.

Auch in der regenerativen Gemeinschaft, die Lennart gründen will, soll menschliche Entwicklung im Zentrum stehen: »Wo sind die blinden Flecken, die verhindern, dass wir in ein regeneratives Paradigma hineinkommen? Dabei ist es für uns besonders wichtig, unsere Beziehung mit dem Tod zu überdenken und neu zu gestalten.« Für Lennart ist regenerativ keine Steigerung von nachhaltig, sondern etwas qualitativ anderes. »Wir erkennen darin unsere wechselseitige Abhängigkeit vom gesamten Ökosystem, in dem sich das Leben durch Kreisläufe bewegt. Es kann nur in Vitalität funktionieren, wenn Schöpfung und Zerstörung in Harmonie sind.« Deshalb sollen in dem regenerativen Dorf Geburt und Sterben gleichermaßen mitten in der Gemeinschaft geschehen.

Das Denken in Kreisläufen und die Erfahrung, darin aufeinander bezogen zu sein, ist auch in Schloss Tempelhof eine wichtige Orientierung. Sie kennt die Ermüdungserscheinungen, die zu Burnout führen, weshalb die personale Regeneration für sie eine ständige Lebenspraxis ist. »Dazu ist es immer wieder wichtig herauszufinden, wo ich selbst stehe: Unter welchen moralischen Prämissen lebe ich eigentlich?« Für diese Selbstbesinnung braucht es aber den Austausch mit den anderen, ist sich Stefanie sicher. » Achtsamkeit ist nicht genug, ich muss über die Innenschau hinausgehen, weil ich darin in meinen gewohnten, möglicherweise narzisstischen oder selbstzerstörerischen Strukturen bleiben kann. Ich brauche die Außenschau auf meine Innenschau. So entsteht eine moralische Intimität, in der ich mich vergewissern kann: Bin ich auf dem richtigen Pfad mit meinen Werten?« Denn eine gemeinsame Wertebasis ist für Stefanie die Grundlage jeder Gemeinschaft.

Persönlichkeitsentwicklung und Ansätze der Resilienz sind nicht neu, das Besondere am Regenerativen ist vielleicht, dass die eigene innere Entwicklung stärker im Kontext der kulturellen Entwicklung verstanden und praktiziert wird. Das Ziel ist also nicht die Selbstoptimierung, sondern die Selbstevolution und Co-Evolution zu einer Lebensweise, die schöpferisch dem Ganzen dient, und dabei auch Wege findet, die Lebendigkeit im eigenen Wesen immer wieder zu erneuern und zu intensivieren – nicht nur ein nachhaltiges Bewahren, sondern die ständige Entfaltung innerer Potenziale als eine Antwort auf die Krisen der gegenwärtigen Kultur.

Konflikte als Möglichkeit

Auch im menschlichen Miteinander erproben regenerative Gemeinschaften neue Formen. In Tempelhof gibt es Treffen der ganzen Gemeinschaft, in denen jeder eine Stimme hat und gehört wird. Entscheidungen werden in mehrstufigen Konsensprozessen getroffen. Gleichzeitig gibt es auch Kompetenzhierarchien, in denen Menschen, die in einem Thema stärker eingearbeitet sind, mehr Verantwortung tragen.

Es scheint ein Merkmal regenerativer Gemeinschaften zu sein, die Bedeutung von Hierarchien neu anzuerkennen. Also nicht mehr nur die Erkenntnis, dass wir alle gleich sind, und deshalb bei allem Mitsprache erhalten, sondern die Einsicht, dass es eben auch Unterschiede in unseren Fähigkeiten und Kompetenzen gibt, die neu wertgeschätzt werden können. »Der gesamte Kosmos organisiert sich in Komplexitätshierarchien«, erklärt Lennart, »das müssen wir abbilden, so dass es lebensbejahend ist und dem Projekt nützt, und wir müssen aufpassen, wo es missbraucht wird, um persönliche Präferenzen durchsetzen zu können und Macht auszuüben.«

Ein weiteres Merkmal regenerativer Projekte scheint ein schöpferischer Umgang mit Konflikten zu sein. Für Theresa, die in ihrer internationalen Arbeit mit XR Auseinandersetzungen um gleichberechtigte Teilnahme erlebte, sind Konflikte immer auch Wachstumschancen. Deshalb hat sie sich mit transformativer Konfliktlösung, aktivem Zuhören und gewaltfreier Kommunikation beschäftigt, die sie in Workshops weitergibt. Auch Bart sieht diese transformative Kraft von Konflikten: »Überall wo Spannung, Konflikt oder Schmerz ist, sehen wir ein Entwicklungspotenzial«, erklärt er.

Im Team von Gaianet gibt es verschiedene Meeting-Formate, die dem Ansatz der Holakratie entsprechen, einer Organisationsstruktur, die durch verschiedene Kreise Selbstführung in Unternehmen ermöglicht. Viele regenerative Projekte nehmen hier Impulse aus der Selbstorganisation wie sie Frédéric Laloux in »Reinventing Organisations« beschrieben hat, auf und entwickeln sie weiter. Viele der Akteure kommen auch aus neuen Arbeitsformen, die sich in Digital Nomads, dezentralen Organisationen oder der Start-up-Kultur zeigen.

Für Bart ist das wichtigste Treffen das Resonanz-Meeting, in dem alle miteinander teilen können, was gerade auf emotionaler oder seelischer Ebene in ihnen vorgeht. So wird eine gemeinsame Ausrichtung aus dem Herzen möglich. Diese ständig erneuerte gemeinsame Ausrichtung, die sich auch auf den größeren Sinn des Projekts bezieht, ist der lebendige Kern der Gemeinschaft.

Für seine neu entstehende regenerative Gemeinschaft setzt auch Lennart auf eine gelebte Beziehungserfahrung. »Wir wollen nicht in der Kultur der Verdrängung weitermachen, wo unsere Fassaden miteinander interagieren, sondern wir wollen uns in unserer Ganzheit begegnen und unsere Themen miteinander offen bearbeiten.« Dazu wird es Kreisarbeit geben, Community Circles und Dialogarbeit. Regenerative Gemeinschaften nehmen hier Kommunikationsformen auf, wie sie sich in neuen Wir-Praktiken wie Circling, Counceling oder Emergent Dialogues entwickelt haben.

So kann sich eine »kollektive Weisheit« zeigen, die Stefanie immer wieder erlebt. Diese braucht aber wache Individuen, »denn auch kollektive Weisheit kann fehlgeleitet sein«. Die Wertschätzung individueller Einzigartigkeit bei gleichzeitigem Einlassen auf synergetische Wir-Prozesse scheint ein weiteres Merkmal regenerativer Projekte zu sein.

Dabei wird gleichzeitig sowohl mit der Qualität der bewussten Kommunikation experimentiert als auch mit neuen Strukturen der Führung und Kommunikation. Auch darin zeigt sich ein Bewusstsein für die Integration inneren Erlebens und systemischer Prozesse bis hin zu einem anderen Umgang mit Geld und Eigentum.

In Lennarts Projekt gibt es einen Steward Circle, in dem die Gründer organisiert sind und die Ausrichtung an der Vision sichern. Es gibt darin aber auch offene Plätze, in die Mitglieder der Gemeinschaft gewählt werden können. Die Stewards sind auch diejenigen, die ihre finanziellen Ressourcen völlig in das Projekt geben, das sich ohne äußere Investitionen oder Bankkredite allein aus den Mitteln der beteiligten Menschen finanzieren will. Dem extraktiven, nicht regenerativen Umgang mit Geld und Eigentum soll eine Alternative aufgezeigt werden: Menschen können Tickets für das Projekt erwerben, die es in verschiedenen Preislagen geben wird, um vielen Menschen den Zugang zu ermöglichen. Egal, wie viel man investiert, alle haben die gleichen Rechte und Pflichten – und das gleiche Risiko. Denn wenn man das Projekt wieder verlässt, erhält man nichts zurück, alle Investitionen bleiben im Dorf.

Eine gemeinschaftliche Zivilisation

Die regenerativen Gemeinschaften sehen sich als Labore einer neuen lebensdienlichen Kultur. Bart bezeichnet es als »gemeinschaftliche Zivilisation«. Es gibt bereits ein weltweites Netzwerk solcher neuen kulturellen Impulse, die neue Potenziale menschlicher Entwicklung erforschen. Dabei schöpfen sie aus vielen Entwicklungen in Selbstorganisation, Trauma-Arbeit, Tiefenökologie, integralem und metamodernem Denken, Stressregulation, Körpererfahrung, Achtsamkeit, Meditation, Kreis- und Dialogarbeit, gewaltfreier Kommunikation, neu entdecktem indigenen Wissen, Permakultur und Agrokultur und vielem mehr. Man könnte sagen, die Bewusstseinsarbeit der letzten Jahrzehnte findet in regenerativen Gemeinschaften eine Art Kulmination, eine neue Synthese, die sich auch ganz praktisch manifestiert und in Zeiten des Internets auch weltweit verbunden ist. Die Nutzung dezentraler Netzwerke auch mit den Möglichkeiten des Web3 wie Kryptowährungen verbindet viele regenerative Projekte. Zudem experimentieren sie auch auf systemischer und struktureller Ebene mit neuen Umgangsformen mit Macht, Entscheidungsfindung, Geld, Wirtschaftsprozessen und Eigentum.

Und so verschieden die Gemeinschaften und die Beteiligten sind, es wird eine regenerative Signatur sichtbar, die gerade im Entstehen ist. Darin findet der Mensch zum Bewusstsein seines Eingebettetseins in die lebendige Erde als schöpferischen Prozess, erfährt sich selbst als sich entwickelndes Wesen, in dem sich neue Potenziale und Fähigkeiten entfalten. Und das geschieht in einem Bewusstsein, dass wir nur zusammen, in Kooperation und Co-Kreation auf die gegenwärtigen Krisen antworten können und so eine Kultur schaffen können, die dem Leben dient.

www.gaianet.earth

www.schloss-tempelhof.de

www.theinstitute.one

www.theresafend.com

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Erschienen in evolve Ausgabe 37 / 2023 “Re-Generation: Anfänge einer neuen Kultur”

 

Gemeinsam das Geheimnis feiern

und uns davon verwandeln lassen

Durch gemeinsame Rituale und Praktiken wird in Religionen ein Raum geschaffen, in dem das Heilige in der Gemeinschaft erfahrbar wird. Aber wie könnten solche Erfahrungsräume und gemeinschaftliche Beziehungsfelder aussehen, wenn sie nicht in einer Tradition wurzeln, sondern Ausdruck der pluralen Offenheit unserer modernen Gesellschaft sind – und dieser Offenheit zugleich eine heilige Tiefe erschließen?

An den kreativen Rändern unserer Kultur gibt es ein wachsendes Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen, Arbeiten und Leben. In Co-Working- und Co-Living Spaces finden sich Menschen zusammen, einige experimentieren mit Deliberately Developmental Spaces, die auch die gemeinsame menschliche Entwicklung in verschiedenen Bereichen umfassen. In einigen dieser gemeinschaftlichen Initiativen spielen auch Praktiken wie Mediation Körperübungen wie Yoga, kreative Prozesse, psychologische Selbsterkenntnis und Schattenarbeit oder verschiedene Dialogformen eine wichtige Rolle. Dabei bleibt es nicht nur bei einer individuellen, privaten Praxis, die jeder für sich übt, sondern es gibt auch Versuche, im Gemeinschaftlichen Räume zu pflegen, in denen sich die Tiefe unserer Existenz, eine seelische Präsenz, etwas Heiliges oder Göttliches zeigen kann und dem Zusammensein eine besondere Verwurzelung und Sinnhaftigkeit gibt. Eine Art von »Gottesdienst« oder Ritual, in dem Menschen das Geheimnis unseres Seins ins gemeinsame Bewusstsein bringen und auch die Beziehungen untereinander davon vertiefen lassen.

Eine Kirche des Interseins

In Berlin hat Adam McKenty mit Freunden die »Church of Interbeing« gegründet. Hier treffen sich jeden Sonntag ca. 30 Menschen und feiern einen Gottesdienst der anderen Art. Wobei er tatsächlich in einer Kirche stattfindet, der Gethsemanekirche in der Nähe des Tempelhofer Feldes. Nachdem die ursprüngliche Gemeinde mit einer anderen zusammengelegt wurde, wird die Kirche von einer Gruppe von Pfarrern betrieben. Sie wurde renoviert, farbenfroh gestrichen und die Kirchenbänke durch einen herausnehmbaren rosa Teppich und verschiedenfarbigen Sitzkissen ersetzt. Es ist eine Art »Schwellengebäude«, denn es ist immer noch eine Kirche, es gibt einen Altar, es werden Gottesdienste abgehalten. Die Betreiber wollen herausfinden, was eine Kirche heute bedeuten kann. Adam McKenty und seine Mitinteressenten auch: »Unser Projekt geht von der Hypothese aus, dass es möglich sein könnte, einen Raum für eine Erfahrung des Heiligen zu schaffen, die nicht von Geschichten abhängt, die vor tausenden von Jahren entstanden sind. Sie hängt nicht davon ab, einen bestimmten Glauben zu akzeptieren. In gewisser Weise können wir das Heilige zwischen uns finden.«

Um diesen Raum zu ermöglichen haben die Treffen der Church of Interbeing eine gewisse Struktur – mit viel Freiheit. Sie beginnen mit einem symbolischen Eintritt in den gemeinsamen Raum, einer Zeremonie mit Wasser oder Räucherwerk, einem Segen oder einer Absicht. Jedes Mal wird ein bestimmtes Thema gesetzt, das einen gewissen Rahmen gibt, wie z. B. die Erfahrung des Schönen, Solidarität oder Widerstand. Meist gibt es einige Impulse zum Thema von denjenigen, die den »Gottesdienst« vorbereitet haben. Es folgt eine Meditation und eine Bewegungspraxis. Das Herz der Treffen bildet ein Dialogprozess zum jeweiligen Thema: »Es ist etwas subtil, aber im Laufe des Gesprächsprozesses passiert oft etwas«, sagt mir Adam in unserem Gespräch. »Ich zögere, genau zu definieren, was das ist. Aber der Zwischenraum des Gesprächs scheint eine Art Leben und tiefe Bedeutung für die Teilnehmenden zu bekommen.« Nach dem Dialog wird oft noch gemeinsam gesungen und gegessen. Den Abschluss bilden einige Ankündigungen, die mit Projekten in der Nachbarschaft zu tun haben. Diese Verbindung mit einem Engagement in der urbanen Umgebung ist der Initiative wichtig und sie beteiligt sich z. B. an Baumpflanzaktionen.

Den Menschen, die zur Church of Interbeing kommen, geht es, laut Adam, »um Verbindung, Zugehörigkeit, Gemeinschaft, ein Gefühl von Ehrfurcht oder Heiligkeit. Die Menschen können hier die Anforderungen und Skripte loslassen, nach denen wir uns in fast allen sozialen Kontexten verhalten. Sie können die Schutzpanzer, mit denen wir in der Großstadt unterwegs sind, ablegen und uns in einem sakralen Raum begegnen.« Die Idee des Interbeing wirkt als inhaltlicher Leitstern des Projekts im Sinne einer umfassenden Verbundenheit in einem lebendigen Ganzen. Jenseits bestimmter Glaubenssätze kann die Erfahrung der Verbundenheit »unseren Verstand, unser Herz und unseren Körper in eine Wahrnehmung der Ganzheit der Welt führen und daraus auch unser Handeln verändern«, fasst Adam die tiefere Absicht der Initiative zusammen.

Wachsen in Partnerschaftlichkeit

Die Möglichkeit einer tiefen, sinnvollen Verbundenheit und deren Bedeutung für unsere globale Gesellschaft motiviert auch Richard Bartlett. Er erlebte in seiner Kindheit den engen gemeinschaftlichen Kontext einer fundamentalistisch christlichen Gemeinde in Neuseeland, der seine Eltern angehörten. Als Jugendlicher befreite er sich aus dieser Enge, vermisste aber die Zusammengehörigkeit, die er in der Gemeinde erlebt hatte. Er fragte sich: »Kann ich die heilige Gemeinschaft meiner Jugend ohne die ideologische Konformität erleben? Rückblickend habe ich in den letzten 17 Jahren versucht, dieses Rätsel der existenziellen Zugehörigkeit ohne Konformität zu lösen.«

Einer der wichtigsten Schritte auf diesem Weg war die Begegnung mit der  Inspiral Community, die sich damals in Neuseeland formte und sich seitdem weltweit verbreitet hat. Es ist ein Netzwerk von kreativen Menschen, die ihre Businessideen nutzen, um auf Herausforderungen wie den Klimawandel oder die globale Armut zu antworten. 2016 beschloss Richard mit seiner Partnerin Nattie Neuseeland zu verlassen, und nach vielen Reisen ließen sie sich in Italien nieder. Sie blieben mit Inspiral verbunden, wollten aber auch neue Formen von Gemeinschaft erforschen. In einem Blogbeitrag beschrieb Richard seine Gedanken zu einem globalen Netzwerk von Changemakern. Er nannte seine Idee Microsolidarity. Dieser Text stieß auf große Resonanz. Viele Menschen schrieben, dass sie auch solche Ideen von Gemeinschaft verfolgten und im Konzept der Microsolidarity eigene Ideen wiederfanden. Aus dieser Resonanz entstand ein Netzwerk von Menschen und Gemeinschaften, die diese Ideen umsetzen und weiterentwickeln.  

Ein Grundanliegen der Gemeinschaften von Microsolidarity ist, sich gegenseitig im menschlichen Wachsen zu unterstützen. Und das in einem partnerschaftlichen Verhältnis. Richard ist von integralen und metamodernen Ideen und Ansätzen der Bewusstseinsentwicklung inspiriert. Für ihn sind diese Theorien über die Entwicklung von Erwachsenen sehr gut »für den privaten Konsum«, aber auch mit Vorsicht zu behandeln, wenn man miteinander darüber spricht, um andere nicht in bestimmte Kategorien einzuordnen. Gleichzeitig ist es die Vision von Microsolidarity, dass wir »in einer Gesellschaft leben könnten, die mehr auf das innere Wachstum der Menschen ausgerichtet ist. Viele Menschen sind traumatisiert oder einsam, stehen unter Stress, sie brauchen eine vertrauensvolle Gemeinschaft, um Zugehörigkeit und Heilung zu erfahren. Aber das ist nur die eine Hälfte, die andere ist entwicklungsfördernd. Denn wir können uns erweitern, unsere Handlungsfähigkeit entwickeln, in unserem Denken komplexer werden.«

Die Möglichkeit, sich als Mensch weiter zu entfalten, kann für Richard auch die Erfahrung des Heiligen eröffnen. Denn »es gibt eine Kraft im Universum, die sich Leben nennt, und die in unserem Wachsen wirkt und zum Ausdruck kommt.« Diese Kraft eines heiligen Grundes wirkt auch in den Tiefen der Zugehörigkeit, die in den Microsolidarity-Gemeinschaften gelebt wird, die auch Kongregation oder Gemeinde genannt werden. »Die meisten Leute gehen nicht in die Kirche«, so sagt mir Richard, »aber ich denke, sie brauchen trotzdem eine Gemeinde, denn unsere menschliche Entwicklung findet in tiefer Beziehung statt.«

Ganz wichtig ist es für Richard, dass diese Unterstützung im menschlichen Wachstum auf partnerschaftliche Weise geschieht. Die verschiedenen Praktiken, die dabei genutzt werden, beruhen auf Gegenseitigkeit. Sie reichen von Meditation, kreativen Prozessen, psychologischer Arbeit bis zu verschiedenen Dialogformen und vielem mehr. Dieser Fokus auf die gemeinsame Praxis in einer verbindlichen Gemeinschaft ist der Kern der Microsolidarity. »Es mangelt uns heute nicht an Ideen«, erklärt Richard, »sondern an Praxis und Verbindlichkeit.«

Praktische Weisheit

Eine Initiative, die diesen Fokus auf transformative Praxis teilt, ist das Respond-Projekt, das Theorie und Praxis verbindet. In Zusammenarbeit mit Denkern wie dem Pädagogen Zak Stein, dem Kognitionswissenschaftler John Vervaeke, der integralen Denkerin Bonnitta Roy oder dem Philosophen Rick Repetti wird ein Meta-Kurrikulum für die innere Entwicklung des Menschen erarbeitet. Dieser theoretische Hintergrund wird dann genutzt, um verschiedene Praktiken zu integrieren, die in Schulungen in praktischer Weisheit vermittelt werden können. Die Prinzipien werden so formuliert, dass sie in verschiedenen Kontexten angewendet werden können, wie alternativen Schulen, Tech-Startups und etablierten Unternehmen. Das Respond-Projekt arbeitet mit der Monastic Academy in den USA zusammen, wo auch mit verschiedenen transformativen Praktiken experimentiert wird. Dort soll eine erste Weiterbildung angeboten werden, in der Menschen lernen, die Prinzipien der praktischen Weisheit in ihrem Kontext umzusetzen.

Zu den Grundprinzipien einer praktischen Weisheit, wie sie im Respond-Projekt verstanden wird, zählen die Vertiefung und Entwicklung von Sichtweise, Fürsorge und Handlung – View, Care, Action. Die Sichtweise bezieht sich auf Fragen wie: Wie sehe ich mich selbst und andere in der Welt? Wie sind meine Prozesse der Sinngebung beschaffen? Fürsorge bedeutet: Was ist für mich wichtig? Was sind meine Werte? Und beim Handeln geht es darum, wie wir Probleme in einzigartigen und komplexen Situationen lösen können.

»Wenn wir diese Aspekte miteinander in Einklang bringen können, vertiefen wir unsere praktische Weisheit«, erklärt mir Nathan Vanderpool im Gespräch. Er arbeitet an der Ausarbeitung und Umsetzung des Projektes mit. »Wenn mein Sehen der Welt mit dem verbunden ist, was mir wirklich wichtig ist, und ich daraus handle, dann bin ich in das Heilige eingebunden. Das gehört zum ›Erwachen aus der Sinnkrise‹, wie es John Vervaeke formuliert. Wir leben in einer Kultur, in der wir nicht mehr davon ausgehen, dass unsere Sicht der Welt, unsere Fürsorge und unser Handeln in etwas Heiligem wurzeln können.« Das Respond-Projekt möchte dazu beitragen, diese Tiefe zu öffnen und wirksam werden zu lassen.

Die Kraft der Freundschaft

Um die Tiefendimension unseres Lebens zu erschließen, müssen wir auch konditionierte Muster des bisherigen modernen und postmodernen Denkens überwinden. Das ist die Erfahrung von Daniel Thorson, der in der Monastic Academy lebt, einem modernen Kloster, das in der Zen-Tradition wurzelt. »Viele Menschen, die zu uns kommen, glauben in ihrem Herzen nicht, dass das, was sie tun, von tiefer Bedeutung ist, dass ihre Handlungen wirkliche Konsequenzen haben. Die Bedeutung, die wir im Leben erfahren, wurzelt letztendlich im Heiligen. Was für mich essenziell bedeutsam und wertvoll ist, ist mir heilig.«

Um den Tiefenbereich unseres Daseins wieder aufleben zu lassen, steht die Freundschaft im Mittelpunkt der spirituellen Praxis der Monastic Academy. »Das Kraftvolle am Leben in einer Gemeinschaft ist, dass diese Prozesse sehr praktisch werden. Ein einfaches Beispiel: Jemand bittet dich, einen Raum zu fegen. Und hinterher stellt er fest, dass du nicht den ganzen Raum gefegt hast. Dein Gegenüber fragt: Weißt du, dass du deine Arbeit nicht zu Ende gemacht hast? Diese Verbindung, dieser Moment der Gegenseitigkeit, Konsequenz und Verbindlichkeit eröffnet uns eine Beziehung, in der tiefe Sinnhaftigkeit tatsächlich Wurzeln schlagen kann.«

In einer Gesellschaft, die auf Individualismus und Trennung ausgerichtet ist, sind solche verbindlichen Beziehungen in einem Rahmen, in dem das Heilige auf posttraditionelle Weise gelebt wird, um praktische Weisheit auszubilden, eine herausfordernde Idee. Und in der Monastic Academy lernt man ständig dazu, wie man solche Prozesse transparent und mitfühlend begleiten kann. Solche neuen und damit unbegangenen Wege, um im gemeinsamen Sein eine praktische Weisheit zu entwickeln, sind dringend notwendig, davon ist Daniel überzeugt. Denn der Mangel an Weisheit hat seiner Ansicht nach unsere Kultur in die Krise geführt, in der wir heute stehen. »Als offene Gesellschaft im Kontext zunehmender Umweltzerstörung, exponentieller Technologie und gesellschaftlicher Polarisierung ist die Entwicklung von Weisheit überlebensnotwendig«, sagt er.

Existenzielle Gemeinschaftlichkeit

Deshalb möchte die Monastic Academy Trainingsprogramme für Weisheit entwickeln und anbieten, in denen Menschen lernen, wie man meditiert, wie man mit seinen Emotionen umgeht, wie man mit anderen in Beziehung tritt, wie man ethisch handelt, wie man eine tiefe Sinnhaftigkeit entdeckt, nach der man leben kann. Weisheit wird hier also als die umfassende Ausbildung kognitiver, emotionaler und spiritueller Reife verstanden, in deren Mittelpunkt die Erfahrung des Heiligen im gemeinsamen Alltag steht. Damit sieht sich die 30-köpfige Gemeinschaft der Monastic Acadamy mit dem Zen-Lehrer Soryu Forral als Teil einer umfassenden Infrastruktur von Initiativen, wo Menschen miteinander praktizieren und tiefe Gemeinschaft leben, sodass inneres Wachstum und praktische Weisheit unterstützt werden.

Zur globalen Infrastruktur von solchen Weisheits-Inkubatoren, die sich allesamt in der Experimentierphase befinden, zählen viele weitere Initiativen. Sie zielen darauf ab, uns wieder mit dem Ganzen zu verbinden, miteinander, mit der lebendigen Mitwelt, mit dem Mysterium unserer Existenz. In diesem Sinne sind es neue Wege der Religio, der Rückverbindung mit dem Heiligen. In einer offenen Form, die auf Erfahrung, Praxis und tiefer Gemeinschaftlichkeit beruht. Eine „Religion ohne Religion“, wie es John Vervaeke nennt. 

Im Wild Church Network wird zum Beispiel ein lebendiger Bezug zum Heiligen durch die gemeinsame Erfahrung der Ehrfurcht vor der Natur gefördert (siehe S. 64). In der aktivistischen Bewegung von Extinction Rebellion wird an einem »Eid auf das Leben« gearbeitet, der der Verbundenheit mit dem heiligen Grund des schützenswerten Lebens einen gemeinschaftlichen, rituellen Ausdruck der Verbindlichkeit geben soll (siehe S. 69). Die Initiative Bridges of Meaning bringt Christen und Nicht-Christen in offenen Dialogen und einer globalen Gemeinschaft zusammen, in der tiefe Fragen um Sinn und Religion bewegt werden und eine existenzielle Gemeinschaftlichkeit erfahrbar wird. (siehe S. 11). Auch wir von evolve World sehen uns eingebunden in diese Infrastruktur. Unser Magazin, die Meditationsretreats, globalen Rituale und Dialogangebote zielen ebenso darauf ab, gemeinschaftliche Erfahrungsräume zu schaffen, in denen das Heilige aufscheinen kann und uns Wachstumsimpulse zu praktischer Weisheit eröffnet.

Wir alle sind eingeladen, diese neue Weisheitsbewegung mitzugestalten, ihr gemeinschaftlichen Ausdruck zu geben, uns darin in Netzwerken zu verbinden, damit diese Impulse in unseren offenen Gesellschaften das tiefere geistige Gewebe stärken, in dem echte soziale Gemeinschaft immer gründet.

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Erschienen in evolve Ausgabe 35 / 2022 “Das Heilige und die offene Gesellschaft”

 

Geteilter Bewusstseinswandel

 Neue Möglichkeiten der Sinngebung

Es gibt viele Anzeichen dafür, dass ein weiterer Schritt, vielleicht gar ein Sprung in unserer Bewusstseinsentwicklung ansteht. Herausgefordert auch durch die machtvollen digitalen Technologien, die wir entwickeln. Aber könnten sie auch diesen Wandel unterstützen?

Wir stehen an einem entscheidenden Punkt unserer Geschichte, an dem wir für die globalen Herausforderungen neue Denk- und Handlungsansätze finden müssen. Es ist ein Wandel vonnöten, der kein linearer Fortgang ist, sondern ein „Phase Shift“, wie es der Systemforscher Daniel Schmachtenberger nennt, eine grundlegende Transformation von Bewusstsein, Beziehungen, Bildung und Institutionen. Für Schmachtenberger zeigt sich dieser Wandel vor allem auch in neuen Formen der Sinngebung, Bedeutungsfindung und Entscheidungsfindung, die auf Co-Kreation und kollektiver Intelligenz beruhen. Seiner Ansicht nach brauchen wir „eine dezentralisierte Bewegung von Aktivitäten in Richtung einer Renaissance und einer neuen kulturellen Aufklärung, in der die Menschen viel tiefer darüber nachdenken, wie wir unsere Institutionen angemessen umstrukturieren und die Menschen so entwickeln können, dass dies möglich wird.“

In einer Gesellschaft, die auf Individualität, Wettbewerb, Konkurrenz, Machtkämpfen – zwischen Menschen, Gruppen, Institutionen, Nationen, Denkweisen – gründet, ist das ein Wandel, der umfassender ist, als es zunächst erscheint. Der Systemdenker Jordan Hall bezeichnet es als den Übergang von Game A zu Game B, von einer von Machtkämpfen und Ausbeutung geprägten Kultur zu einer Kultur der Kooperation und Co-Kreation. Charles Eisenstein spricht als Kulturphilosoph vom Übergang von einer Kultur der Trennung zu einer Kultur der Verbundenheit, des Interseins.

Wie kann dieser Wandel aber gelingen? Wo beginnt er? Wie kann sich unser Bewusstsein erweitern, um Ausdruck dieses neuen Potenzials zu werden? Wo kann es erprobt werden? Wie können wir gemeinsam soziale Vorstellungskraft ausbilden, um das Neue in die Welt zu bringen? Und welche Rolle kann die Technologie dabei spielen?

Darauf gibt es keine einfachen, linearen, sicheren Antworten – und das ist schon Ausdruck der Tiefe dieser Transformation. Wir können sie allein mit den Denkweisen, die wir erlernt haben, die auf rationaler Analyse und Berechnung basieren, nicht erfassen. Und angesichts der Komplexität der Herausforderungen und Potenziale und ihrer vielschichtigen Wechselwirkung ist es wohl auch nicht möglich, dass ein Mensch, eine Sichtweise, Forschungsdisziplin oder Institution die Antwort finden kann. Vielmehr brauchen wir intersubjektive Prozesse, in denen wir gemeinsam eine neue Welt imaginativ ins Bewusstsein bringen können. Eine solche „soziale Vorstellungskraft nimmt kollektive Intelligenz und Weisheit ernst“, erklären Geoff Mulgan und Demos Helsinki vom University College London. Denn „einige der größten Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts sind diejenigen, die neue Arten von Gemeingütern schaffen – die Zusammenführung von Daten, Erkenntnissen und Ideen sowie die Umwandlung fragmentierter Gemeinschaften in eine in Echtzeit funktionierende gemeinsame Intelligenz, bei der Beobachtung, Kreativität und Lernen miteinander verbunden sind. Ich bezeichne das gern als ‚Intelligenzversammlungen‘.“

Viele Menschen experimentieren schon mit solchen Foren – offline und online –, in intersubjektiven Dialogformen und Wir-Räumen sowie über Podcasts, YouTube-Kanäle und globale Videokonferenzen, in denen synergetische Dialoge gepflegt werden. Und es gibt Versuche, die Werte und Qualitäten eines solchen synergetischen Bewusstseins auch der Technologie einzuschreiben, indem man im Web3 mit Tokenökonomie ein bestimmtes Handeln und Engagement belohnt. Es wäre durchaus vorstellbar, dass so von unten, aus der Zivilgesellschaft heraus, eine Kommunikationsstruktur wächst, die Räume der co-kreativen Sinnfindung, Entscheidungsfindung und Umsetzung in konkrete Projekte entstehen lässt.

Solche Räume könnten auch eine Erneuerung der demokratischen Prozesse und Institutionen vorbereiten. Denn die Zukunft unserer Demokratie wird auch davon abhängen, ob es gelingt, in der Entscheidungsfindung eine „offene Mitte“ lebendig zu halten. Die Philosophen Gert Scobel und Markus Gabriel bezeichnen so einen Gesprächsraum, der nicht durch die Dominanz einer Sichtweise oder einer Interessengruppe verstellt wird. So wird eine Sinnfindung möglich, die aus der Synthese verschiedener Anliegen entsteht. Für sie ist die Praxis der offenen Mitte das Herz einer offenen Gesellschaft.

Diese Praxis wird nur möglich sein, wenn sich unser Bewusstsein verändert. Denn „Co-Kreation beginnt“, so der Regenerationsforscher Christian Daniel Wahl, „wenn wir mit anderen an einer Vision arbeiten, die größer ist als unser eigenes Ich, unser eigenes Leben, unsere eigene Familie – eine Vision, die uns selbst, unserer Gemeinschaft und unserer Welt zugutekommt. Wichtig ist, dass dies auch für die Zusammenarbeit mit den nicht-menschlichen Mitgliedern der Gemeinschaft des Lebens gilt.“ Es könnten Biotope einer co-kreativen, regenerativen Kultur entstehen – vor Ort und online, global vernetzt. Und es gibt sie in Ansätzen auch schon.

Wenn solche „Intelligenzversammlungen“ wirklich zum Ausdruck des Neuen werden, dann wird darin ein Bewusstsein lebendig spürbar, das nicht in einer Sichtweise gefangen ist, Nichtwissen zulässt, eine Demut der Erkenntnisfähigkeit und tiefes Zuhören praktiziert. Es umfasst eine ethische Wandlung zu einem Verhalten, das in Verbundenheit mit dem Planeten handelt. Eine schöpferische Verlebendigung, die unsere innewohnende Kreativität befreit, um sie in das Ganze einbringen zu können. Das Wiedererwecken unserer sozialen Vorstellungskraft, in der wir aus einer Vision heraus die Welt gestalten. Dazu gehört auch eine Würdigung unseres Verkörpertseins im Wahrnehmen und Spüren der Welt. Und auch eine Wertschätzung für den unverfügbaren und heiligen Grund unseres und allen Lebens.

Man kann diese Bewusstseinshaltungen nicht in die Technologie hinein codieren, aber sie könnte Räume schaffen, um diese Werte zum Ausdruck zu bringen und Menschen darin zu verbinden. Die neuen Formen von Vernetzung könnten so von innen belebt und mit Bewusstsein gefüllt werden. Strukturen wie das Web3 könnten zur äußeren, technologischen Form eines neuen, gemeinschaftlichen Bewusstseins werden und es sogar verstärken. Aber nur, wenn wir sie so gestalten.

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Erschienen in evolve Ausgabe 34 / 2022 “Bewusste Netzwerke – Ein menschliches internet jenseits von Google und Facebook”

 

Wo wir wachsen

Gemeinschaftliche Orte der Entfaltung

Seit wir als Menschen erkannten, dass wir uns innerlich, in unseren Haltungen, Wahrnehmungen und Antworten auf die Welt wandeln, vielleicht gar entwickeln können, fanden wir uns an Orten zusammen, die eine solche Wandlung unterstützen sollten. Ausdruck davon ist die lange Geschichte von Klöstern und Ashrams, von Künstlerkolonien, Ökodörfern und Gemeinschaften unterschiedlichster Couleur. Heute gibt es eine wachsende Zahl neuer Projekte, die einen gemeinschaftlichen Rahmen für innere Entwicklung bieten wollen. Welche neuen Akzente setzen sie und warum könnten solche Entfaltungsbiotope gerade jetzt besonders relevant sein?

Im Umfeld integraler, metamoderner oder bewusstseinskultureller Initiativen fällt in letzter Zeit häufig der Begriff »Deliberately Developmental Spaces« (DDS). Damit werden gemeinschaftliche Projekte benannt, in denen die innere Entwicklung der teilnehmenden oder verbundenen Menschen im Zentrum steht. Der Ausdruck DDS geht auf die Deliberately Developmental Organisations (DDO) zurück. So bezeichnen der Entwicklungspsychologe Robert Kegan und seine Kollegin Lisa Lahey Unternehmen, die nicht nur ein Ort herkömmlicher Arbeit, Leistung und beruflicher Kompetenzentwicklung sein wollen, sondern bewusst so strukturiert und belebt werden, dass sich die Mitarbeitenden innerlich, in ihren Bewusstseinshaltungen und Charaktereigenschaften, ihren Werten und ihrer kreativen Ausdruckskraft entfalten.

Neben solchen Ansätzen im Arbeitskontext schöpfen die Experimente mit bewussten Entfaltungsräumen auch aus den klösterlichen Gemeinschaften verschiedener Traditionen und den ökologisch-sozialen Gemeinschaftsprojekten und Ökodörfern, die im Zuge der 68er-Bewegung entstanden, und den Erfahrungen aus Co-Working- und Co-Living-Spaces. Eine weitere Inspirationsquelle sind die sogenannten Volksschulen in den skandinavischen Ländern, in denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten über einige Wochen zusammenlebten und in ihrer inneren Entwicklung unterstützt wurden. Wie Tomas Björkman und Lene Andersen in ihrem Buch »Das skandinavische Geheimnis« ausführen, bezog man sich dabei vor allem auf die deutsche Bildungstradition von Goethe, Schiller und Humboldt, die Bildung nicht nur als Anhäufung von Wissen und Fertigkeiten, sondern auch als Reifung des Charakters verstanden. An diese Einsicht knüpfen die DDS an – aber welche Qualitäten, welche Eigenschaften oder Bewusstseinsformen sollen darin eigentlich entwickelt werden?

Neue Sinnhorizonte

Theo Cox, Mitarbeiter bei Life Itself, nannte mir im Gespräch drei Bereiche der Entfaltung, die er besonders wichtig empfindet. Life Itself bietet mehrwöchige Gemeinschaftszeiten an, bei denen die Menschen durch erfahrungsorientierte und gemeinschaftliche Prozesse innerer Entwicklung begleitet werden. Als ersten Bereich der Entwicklung sieht Theo das psychologische Wachstum, das möglich wird, wenn Menschen eine längere Zeit zusammenleben. Die Begegnung mit den eigenen Verhaltens- und Reaktionsmustern, den Konditionierungen, Schattenaspekten oder den Folgen traumatischer Erfahrungen kann zu einer inneren Klärung und Reinigung führen, indem diese Aspekte bewusst werden und in einer wertschätzenden Gemeinschaft als liebevolles, sicheres und unterstützendes Umfeld ausgedrückt und vielleicht auch geheilt werden können.

Als zweiten Aspekt der Entfaltung sieht er die Sinnfindung, die umfassender und mehrperspektivischer möglich ist, wenn Menschen sich in ihrer Vielfalt begegnen und verschiedene Erkenntnisformen vermittelt werden. Theo bezeichnet seine Zeit im Life Itself Practice Hub in Bergerac als »eine der Perioden des größten Wachstums in meinem Erwachsenenleben«. »Das lag daran«, so erklärt er weiter, »dass ich mit meiner eigenen emotionalen Reaktivität konfrontiert wurde, aber auch daran, dass sich meine Weltsicht vollkommen veränderte. Für mich stand zuvor das rationale Denken im Mittelpunkt, mit dem ich alles verstehen wollte. Aber durch verschiedene Praktiken wie Meditation und Inspirationen aus Philosophie und Spiritualität entdeckte ich umfassendere Formen des Wahrnehmens und Wissens.« Ein Teil dieser Entdeckungsreise waren auch Dialogformen, in denen sich neue Sichtweisen der Welt, der Gesellschaft oder der gegenwärtigen Krisen aus dem Gespräch selbst zeigen konnten. Dadurch ist aber auch klar, dass die innere Entwicklung im Kontext der sozialen Entwicklung gesehen wird und letztlich dazu dient, eine zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten. Dieses Mitdenken der sozialen Wirkung ist für Theo der dritte Aspekt entwicklungsfördernder Orte.

Weisheit im Zwischenraum

James Redenbaugh, der mit seinem Webdesign-Unternehmen Montaia mehrwöchige Co-Working- und Co-Living-Gemeinschaften initiiert, die auch der inneren Entwicklung dienen, sieht drei Aspekte, die einen DDS auszeichnen. Der erste Aspekt ist die Schulung der individuellen Intuition ganz im Sinne einer Erweiterung der Wahrnehmung und Erkenntnis. Dazu gehört vor allem auch die Freilegung des kreativen Potenzials im Einzelnen durch künstlerische, improvisierende und spielerische Praktiken. Die zweite Ebene zeigt sich darin, wie diese Kreativität in Zusammenarbeit mit anderen erlebt wird und gefördert werden kann. Wie sieht eine gemeinsame Kreativität aus und was ist erforderlich, um so in Beziehung zu sein? Das wird hier auch ganz konkret in der Zusammenarbeit bei Webdesign-Projekten erkundet.

Neben der individuellen Intuition und der Co-Kreation in Beziehung gibt es für James noch eine dritte Ebene, die eine Weiterführung des Dialoges ist. Dabei zeigt sich eine Intelligenz oder Weisheit im Raum zwischen den Menschen, die über die Einzelnen hinausgeht. In diesem »Raum jenseits der Beziehung«, wie ihn James nennt, »geht es nicht nur um mich und dich und das, was wir gemeinsam erschaffen, sondern es gibt dieses Bewusstseinsfeld zwischen uns, mit dem wir beide interagieren. Und es gibt Fähigkeiten, die wir als Individuen entwickeln können, um besser in der Lage zu sein, mit diesen intersubjektiven Räumen zu interagieren.«

Für Alexandra Robinson, die in Berlin einen Co-Working-Space mit betreibt und in der Beratungsfirma Fraendi Entwicklungsräume in Unternehmen unterstützt, geht es in solchen intersubjektiven Feldern darum, »die Individuen da sein zu lassen, aber sie nicht im Weg sein zu lassen«. Wie James nutzt sie dabei die Praxis der emergent dialogues, um das Bewusstseinsfeld zwischen den Menschen als Ressource und Wahrnehmungsraum für Entfaltung zugänglich zu machen. Der Bezugspunkt der Entwicklung ist dann nicht allein das individuelle, getrennte Ich, sondern das Ganze, das uns verbindet. Darin liegt eine Quelle für Verbundenheit, Vertrauen und Synergie, die Menschen tiefer zusammenkommen und neue Wahrnehmungen, Erkenntnisse und Ideen emergieren lässt. »Dazu braucht es«, so sagt mir Alexandra, »die innere Autorität, die sagt: ›Ich entscheide mich, diesem größeren Ganzen zu vertrauen.‹«

Instant Connectivity

Räume der Verbundenheit vor Ort und im virtuellen Raum zu schaffen, ist ein Grundanliegen vieler DDS-Projekte. Im MOOS in Berlin, wo ca. 50 Menschen zusammenleben und weitere 100 Menschen arbeiten, hat sich um das konkrete Projekt eine globale Community gebildet. Thorsten Wiesmann, der u. a. als Meditationslehrer Projekte des MOOS seit einigen Jahren begleitet, spricht von einem »Time Space« der Verbundenheit, in dem eine »Instant Connectivity« erfahrbar wird. Nicht umsonst nutzt er hier einen Begriff aus dem Web 3.0, zu dem vor allem auch dezentrale digitale Währungen gehören – im MOOS gibt es bereits ein solches internes, digitales Zahlungssystem. Thorsten versteht Instant Connectivity aber vor allem als einen »geistigen Vorgang«, der eine innere Entwicklung erfordert, um diese Erfahrung von Verbundenheit »freizuschalten«. Diese ermöglicht ein Vertrauen, das dann nicht mehr an einen bestimmten Ort und ausschließlich dem Denken im Rahmen von linearer Zeit gebunden ist, sondern, vielleicht ähnlich wie der intelligente Zwischenraum, mit dem James und Alexandra experimentieren, als subtiles Bewusstseinsfeld existiert und sowohl lokal als auch non-lokal in vielschichtiger Durchdringung wahrnehmbar und gestaltbar ist.

Das Leben in Gemeinschaft und die Interaktion mit Menschen in all ihrer Verschiedenheit kann die innere Offenheit unterstützen, um diese Verbundenheit wahrzunehmen und in ihr und mit ihr zu gestalten. Das MOOS, das stark aus aktivistischen Gemeinschaften entstanden ist, vereint auf den verschiedenen Stockwerken Gemeinschaftsprojekte mit je anderen Schwerpunkten. Julia Wolfrum, eine der Mitgründerinnen des MOOS, sieht in der Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt der Lebensentwürfe und Sinnhorizonte eine Triebkraft der inneren Entwicklung im Sinne einer Erweiterung der eigenen Perspektive.

Gerade wird im MOOS ein Residence Projekt entworfen, das von Jacob Hühn mit initiiert wurde. Darin soll ein Erfahrungsraum entstehen, in dem Menschen eine Zeit lang wohnen und durch verschiedene Praktiken der inneren Entwicklung unterstützt werden, wie Warm Data Labs, Social Dreaming, Moral Imagination, archetypisches Theater oder Erfahrungen von Flow States. Aber wie sich dieses Projekt entfaltet, hängt auch sehr von den Teilnehmenden ab. »Wir haben bewusst das neue Residence Programm noch gar nicht in irgendwelche Begrifflichkeiten gebracht und es in einem flüssigen Stadium belassen«, sagt mir Jacob, »damit es nicht vordefiniert ist, sondern von den Teilnehmenden neu erlebt wird. Sie können sich so als Gestalter der Lebenswelt auf einem gemeinsamen Spielfeld erfahren.« Für Thorsten Wiesmann gilt diese Offenheit für das gesamte Gemeinschaftsprojekt, denn »es ist kein fertiges Werk, sondern ein offenes Kunstwerk, an dem wir mitgestalten«.

Innere Entwicklung im Sozialen

Es ist eine Entwicklung, die keinem Dogma, keiner spirituellen oder weltanschaulichen Vision und keinem Lehrer oder einer Autoritätspersonen folgt, sondern aus der Co-Kreation der Menschen emergiert. Darin sieht Theo Cox einen wichtigen Unterschied zu bisherigen Gemeinschaftsformen, die oft um eine spirituelle Tradition, politische Idee oder gesellschaftliche Utopie herum entstanden sind, um diese dann konkret auszudrücken und zu vertiefen. In den neuen DDS-Projekten sind die weltanschauliche und interkulturelle Offenheit, Vielfalt und Mehrperspektivität ein wesentlicher Bestandteil. So entsteht auch für die Gemeinschaft als Ganzes, sei sie nun vor Ort oder digital verbunden (oder beides), die Offenheit, in der sich das soziale Feld, das sie bildet, aus der inneren Intelligenz, Weisheit und Entfaltungskraft entwickeln kann.

Dabei experimentieren DDS-Projekte mit neuen Formen von Entscheidungsfindung, Autorität und Kompetenz. Es sollen Strukturen entstehen, die über Machthierarchien hinausgehen und in denen die Beteiligten zur Gestaltung und Führung der Prozesse beitragen. Gleichwohl gibt es Facilitatoren, die bestimmte Erfahrungen innerer Entwicklung anleiten, und natürlich müssen auch DDS organisiert werden bis hin zu Vereinsformen, Mietverträgen und steuerlicher Absicherung. Julia Wolfrum, die sich im MOOS auch um diese Belange kümmert, berichtet von der Herausforderung, bei diesen konkreten Fragen zu einer Kohärenz in der Verschiedenheit der beteiligten Menschen zu finden.

Eine weitere Herausforderung der DDS besteht für James Redenbaugh darin, zu verstehen, mit welcher Motivation die Menschen zu ihm kommen. Der Wunsch nach innerer Entwicklung kann verschiedenen Intentionen entspringen, sei es die persönliche Heilung, eine innere Krise, die Sorge um den Zustand der Welt, die Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungen oder neuen Formen von Gemeinschaft. Eine weitere Frage ist, wie sehr die Teilnehmenden zur Verbindlichkeit bereit sind. Denn es erfordert eine gewisse Entschlossenheit, sich über mehrere Wochen dem inneren Wachstum zu widmen. Wobei diese Verbindlichkeit selbst eine Quelle der Entwicklung ist. Wenn Menschen längere Zeit zusammenleben, dann lernen sie das Potenzial der anderen kennen und wissen auch, inwieweit sie den selbstgesteckten Entwicklungszielen gerecht werden oder nicht. Hierbei sind dann achtsame Feedbackprozesse nötig, die diese Verbindlichkeit dann auch einlösen.

Aber die Erwartungen der Interessenten und das Angebot von DDS-Projekten kann auch zu Missverständnissen oder Überforderungen führen, wie es von der Monastic Academy in den USA berichtet wird. Deshalb ist wichtig, Klarheit über Fragen zu gewinnen wie: Besteht die Absicht eines DDS in Heilung oder Entwicklung bzw. wie wird beides verstanden? Sind die Erwartungen und Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten geklärt? Auch kann es passieren, dass eine Entwicklungshierarchie – bei der denjenigen, die in einem Bereich weiterentwickelt oder qualifizierter sind, mehr Autorität zugestanden wird – eine missbräuchliche Machthierarchie überdeckt, wie es der Go & Change-Gemeinschaft in Deutschland vorgeworfen wird.

Es scheint, dass die DDS-Projekte am besten funktionieren, die transparente Führungsstrukturen haben, in denen eine Kompetenzhierarchie besteht, die flexibel ist, sodass Teilnehmende in den Bereichen, in denen sie eine besondere Fähigkeit haben, die anderen in Erfahrungen begleiten können. Zur Entscheidungsfindung werden häufig auch Prozesse wie die Soziokratie genutzt, an denen alle teilhaben können, die aber dennoch dynamische und agile Führung ermöglichen. Jenseits festgefügter Hierarchien wird hier also der soziale Raum zum Experimentierfeld mit Selbstorganisation, Begegnung auf Augenhöhe, dialogischer Entscheidungsfindung und einer Autorität durch spürbare menschliche Kompetenz.

Samen der Zukunft

In einer Zeit, in der das soziale Gefüge unter Rissen und Verwerfungen leidet, wo Pluralisierungen, Echokammern und Gräben zwischen verschiedenen Sichtweisen zunehmen, wird also in solchen entwicklungsfördernden Projekten der Bereich des Sozialen, des Zwischenmenschlichen zum co-kreativen Gestaltungsraum. Damit sind es Orte nicht nur der inneren Entfaltung der Menschen, die sich dort verbinden, sondern auch der inneren Entwicklung unserer Gesellschaft. Sie erschließen den sozialen, gemeinschaftlichen Raum als den Bereich, in dem sich Vielfalt in Verbundenheit begegnen kann, in dem verschiedene Sichtweisen und Erkenntnisformen synergetisch in den Austausch kommen und in dem wahrnehmbar wird, wohin sich das uns verbindende Beziehungsgefüge selbst entfalten könnte und vielleicht sogar möchte.

Damit bilden die DDS sozusagen Prototypen oder Biotope einer integralen oder metamodernen Kultur, die dezentral, co-kreativ, partizipativ, ohne Machthierarchien, aus kognitiven, emotionalen, intuitiven und spirituellen Quellen des Erkennens und Handelns schöpft. Eine solche neue Kultur wäre aber selbst ein entwicklungsfördernder Lebensraum, eine Deliberately Developmental Society. Aus der Weisheit, die durch diese innere Entwicklung in allen Bereichen der Kultur entsteht, könnten auch neue Ansätze für einen Umgang mit den Krisen unserer Zeit gefunden werden, mit ökologischer Zerstörung, globaler Ungerechtigkeit, Sinnverlust, politischer Polarisierung. Dabei ist es nicht allein so, dass sich die Individuen für sich oder im Austausch miteinander entfalten, sondern das soziale Feld, der Bewusstseinsraum »jenseits der Beziehung«, wird zum Prozess-Ort der Evolution und Emergenz. Die darin wirksame und spürbare intersubjektive Intelligenz, schöpferische Energie und synergetische Kraft inspiriert, dynamisiert und nährt das innere Wachstum der Beteiligten, die zu Mit-Gestaltern der Entfaltung des sozialen Ganzen werden. Egal ob in der Wirtschaft, in der Bildung oder in Gemeinschaftsprojekten, in bewusst entwicklungsfördernden Beziehungsräumen zeigt sich damit ein wegweisendes kulturelles Potenzial. In einem vielschichtigen Netzwerk sind diese Initiativen miteinander verbunden und sammeln durch den Austausch von Erfahrungen kulturelles Wissen darüber, wie innere Reifung wirkungsvoll und zeitgemäß unterstützt werden kann. Auf diese Weise bilden sie möglicherweise im Boden unserer Kultur schon die Samen der Zukunft.

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Erschienen in evolve Ausgabe 33 / 2022 “Wir leben zwischen den Zeiten – Menschliche Qualitäten, die es jetzt braucht”

 

Auf der Suche nach der verlorenen Mitte

Wie der Mythos eine Gesellschaft zerstören oder heilen kann

Zeiten der Krise sind Zeiten der Mythen. Wenn das feste Gefüge einer Weltsicht und einer sozialen Ordnung ins Wanken gerät, wenn sich Unsicherheit und Ungewissheit breitmachen, dann suchen wir nach Sinnhaftigkeit und Gewissheit. Ganz sicher ist die Corona-Pandemie eine Zeit der Unsicherheit und des wankenden Weltgefüges. Welche mythischen Dynamiken zeigen sich hier in unserem Umgang mit Informationen, Meinungen und Medien? Und wo finden wir Geschichten, die wir miteinander gestalten können und nicht gegeneinander?

In den vergangenen Monaten erlebte ich vermehrt Gespräche über die Dynamiken der Corona-Pandemie, in denen ich den Eindruck hatte, dass nicht so sehr die konkreten Menschen miteinander sprechen, sondern bestimmte Erzählungen oder Narrative über das, was geschieht. In verschiedenen Gesprächen hörte ich von ganz unterschiedlichen Menschen ähnliche Argumente, Informationen und eine ähnliche emotionale Stimmung. Es gibt Menschen, die die Maßnahmen der Regierung weitgehend angemessen finden, um eine gefährliche Pandemie einzudämmen. Sie sehen mit Besorgnis, dass rechtspopulistische Kräfte und andere Akteure wie Russland die Diskussion um die Corona-Maßnahmen zu einer Destabilisierung der Demokratie nutzen. Und dann gibt es Menschen, die schon den Untergang dieser Demokratie voraussehen und der Überzeugung sind, dass diktatorische Strukturen eingesetzt und Freiheitsrechte unangemessen oder bösartig beschnitten werden. Sie sehen die Corona-Maßnahmen als überzogen, unnötig oder vermuten dahinter eine verborgene Agenda. Natürlich ist das eine vereinfachte Darstellung, aber wahrscheinlich kennen viele von uns solche Gespräche, die sich in eine intensive emotionale Erregung aufschaukeln können. Bis hin zur Trennung von Freundschaften.

Immer wieder habe ich mich gefragt, was da eigentlich geschieht. Als wir an dieser Ausgabe arbeiteten, kam mir der Gedanke, dass es vielleicht auch mit dem Mythischen zu tun hat. Das Mythische hier in dem Sinne verstanden, dass es immer Geschichten, Erzählungen, Narrative gibt, durch die wir Welt verstehen. Der Mythenforscher Joseph Campbell spricht hier von der soziologischen Funktion des Mythos, die eine bestimmte soziale Ordnung unterstützt und bestätigt. Ein Mythos erklärt mir die Welt, wirkt der Ungewissheit entgegen, ermöglicht mir, mich in den Ereignissen zurechtzufinden. Er ordnet die chaotische Welt auch in einen Sinnzusammenhang, in dem ich mich so wahrnehme, dass ich einen sinnvollen, selbstwirksamen Platz darin erhalte.

Medien und Mythen

Unsere heutige Welt ist besonders komplex und unsicher geworden, insbesondere in der Zeit der Corona-Pandemie. Wir haben es mit komplexen Entwicklungen und Dynamiken zu tun, die wir selbst kaum überschauen können. Deshalb sind wir auf die Medien angewiesen, die uns Informationen geben, durch die wir das Geschehen verstehen und einordnen können. Aber Medien geben uns nicht nur Fakten, sie betten diese Fakten unweigerlich in Sinnzusammenhänge, Geschichten, Narrative und häufiger, als uns bewusst ist, auch in mythische Begriffe ein. »Die Faktizität dessen, was wir tun«, so der Philosoph Gert Scobel, »koppelt sich über uns und die Medien zurück mit den Geschichten, die wir uns über uns und unser moralisches Handeln erzählen. Die Fakten vermischen sich mit unserer Erzählung über das bzw. diejenigen Menschen, die wir sein wollen. … In Geschichten erzählen wir uns, wer wir eigentlich sind und, weil wir so sind, auch entsprechend – anders! – handeln sollten. Diese Rückkopplung zwischen Fakten und Normativität bzw. Fakten und Fiktion ist viel zu wenig beachtet und meiner Ansicht nach im moralischen Diskurs weitgehend vergessen worden.«

In den Gesprächen, die ich vorhin geschildert habe, kam es mir manchmal vor, als würden verschiedene Medienkanäle miteinander reden und sich streiten und nicht so sehr die jeweiligen Menschen. Ich erlebte Gespräche, in denen die Beteiligten auf einer tiefen philosophischen, gedanklichen und auch spirituellen Ebene ein Grundverständnis der Welt und grundlegende Werte teilten. Trotzdem ging bei dem Gespräch über »Corona« ein tiefer Riss durch die Versammelten. Diese Dynamik fiel mir auf, weil ich in den vergangenen Monaten ein möglichst breites Spektrum von Medien angeschaut habe. Verschiedene etablierte Medien, kritische Medien bis hin zu den sogenannten Alternativmedien. Wenn ich dann Menschen ihre Argumente vorbringen hörte, klang darin auch eine bestimmte Sinnstruktur, ein Narrativ und manchmal auch ein Mythos mit, der mir aus den entsprechenden Medien bekannt war. Ich will damit nicht sagen, dass wir einfach nur die Geschichten bestimmter Medien übernehmen, natürlich wird dieser Prozess immer auch geprägt durch eine eigene Meinungsbildung. Aber mir scheint, wir sind uns oft der mythischen Kraft nicht bewusst, mit der bestimmte Informationen in übergreifende Geschichten eingebettet werden, die immer mitkommuniziert werden.

In unterschiedlicher Intensität setzen Medien ihre Informationen in eine bestimmte Geschichte, die manchmal mythische Züge hat. In vielen Alternativmedien lautet diese übergreifende Geschichte vereinfacht gesagt ungefähr so: Es gibt eine globale korrupte Elite, die die Menschheit zu unterjochen versucht, neue diktatorische Strukturen etablieren und uns die Freiheit nehmen will. Deshalb ist das Corona-Virus nur ein Vorwand oder wurde absichtlich in die Welt gesetzt, um diese Agenda umzusetzen. In vielen etablierten Medien lautete das übergreifende Narrativ in den letzten Monaten etwa so: Das neue Corona-Virus ist extrem gefährlich, bedroht uns akut mit dem Tod, deshalb sind auch ungewöhnliche Freiheitseinschränkungen gerechtfertigt. Menschen, die diese Maßnahmen kritisieren, machen sich verdächtig, Feinde der Demokratie zu sein.

Muster der Bedeutung

Aber wie erhalten die Geschichten, durch die wir die Ereignisse der Welt in einen Sinnzusammenhang fügen, ein mythisches Element? Zunächst einmal geht es dabei nicht allein um faktische Geschichten mit rational zu erfassenden Tatsachen, die zusammengefügt werden, sondern auch um ein tieferes Erklärungsmuster. Mythen schaffen Bedeutungsmuster in einem scheinbar beliebigen Geschehen. Deshalb sind Verschwörungsmythen »eine Extremform der Musterbildung«, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erklärt. Diese Muster in unseren Narrativen ermöglichen uns, eine Identität zu finden, uns als selbstwirksam, als Helden dieses Mythos zu erfahren. Es ist ja interessant, wie das Motiv des Heldischen auf verschiedenen Seiten kommuniziert wurde. Es gab Werbespots der Bundesregierung, in denen das Zuhausebleiben im Lockdown als Heldentat beschrieben oder auch der Entschluss, sich impfen zu lassen, in eine Aura des Helden gekleidet wird, der sich für die Gemeinschaft einsetzt. Bei den Kritikern der Maßnahmen gibt es den Heldenmythos der Widerstandskämpfer, die sich gegen die Corona-Maßnahmen wehren oder dagegen protestieren. Die Querdenker-Bewegung lebte aus diesem Heldenmythos, der sich in seinen Extremformen auf die WiderstandskämpferInnen der NS-Zeit wie Sophie Scholl oder die Bürgerrechtler der DDR bezog. Wenn ich Anhänger eines solchen Heldenmythos bin, dann sehe ich mich in einem gerechten, heldenhaften Kampf für die Wahrheit gegen andere, die sich dieser Wahrheit verwehren. So entstehen dann im Extremfall Feindbilder, wie sie hinter Chiffren wie «Covidioten« und »Schlafschafen«, »Widerstandskämpfern« und »Mainstreamgläubigen« stehen. Ein weiteres mythisches Element ist die Nutzung von symbolischen Bildern, mit denen Geschichten einen visuellen und emotionalen Attraktor erhalten. Auch in der Kommunikation zum Corona-Virus haben symbolische Bilder ihre Kraft entfaltet. Die Bilder des Virus selbst mit seinen »Stacheln« wurden verbunden mit dramatischen Botschaften über seine Gefährlichkeit zu einem solchen Symbol. Auf der anderen Seite wurde der Mund-Nasen-Schutz für Kritiker der Maßnahmen zum Symbol für eine als unangemessen wahrgenommene Einschränkung der Grundrechte. Solche Symbole werden zu Trägern einer dahinterliegenden Botschaft, seien es die tödliche Gefahr des Virus oder der drohende Verlust der Freiheit.

In der Corona-Debatte konnte man beobachten, wie oft solche archetypischen Grundmuster angesprochen wurden, die emotional höchst aufgeladen sind. Sei es die Angst vor dem Tod, dessen Realität in unserer Gesellschaft häufig verdrängt wird und mit der Corona-Pandemie ins Bewusstsein rückte. Oder die Angst vor dem Verlust der Freiheit und Selbstständigkeit. Hier werden dann häufig Bezüge zur DDR-Diktatur gezogen und man befürchtet die Formung diktatorischer Strukturen.

Wenn existenzielle Ängste aktiviert werden, wird leicht ein mythisch aufgeladener Raum geöffnet. Diese mythischen Elemente führen zu einer starken Identifizierung mit einer Seite, dem einen Narrativ, und der Abgrenzung von der anderen Seite, dem anderen Narrativ. Sie führen zu einem Krieg der Welterklärungen, den der Komplexitäts- und Medienforscher Daniel Schmachtenberger als einen »War on Sense-Making« beschreibt. Dann werden Gespräche, wie ich sie geschildert habe, zu einem stellvertretenden Schlachtfeld, auf dem bestimmte Geschichten mit mythischen Elementen über die Welt miteinander kämpfen, wobei die Metapher des »Krieges« selbst mythische Motive anspricht. Wir selbst und unsere Beziehungen und möglicherweise am Ende sogar unsere Demokratie bleiben dabei erschüttert und vielleicht sogar zerbrochen zurück.

Das mythische Element, das den unterschiedlichen Welterklärungen innewohnt, schafft die Verbundenheit unter »Gleichgläubigen« und die Abgrenzung gegen die »Andersgläubigen«. Diese Dynamik ist gegenwärtig auf allen Seiten der Debatten zu beobachten und wird durch die sozialen Medien verstärkt, die im Prinzip von dieser mythischen Struktur leben. In der Blase des eigenen Facebook-Feeds erschafft mir der Algorithmus eine eigene mythische Welt mit bestimmten Geschichten, Helden und Symbolen. Ausgehend von meinen Interessen und politischen Überzeugungen erhalte ich die Informationen, die zu meiner schon bestehenden Weltsicht passen. Mein eigener Mythos wird gefüttert und aufgebläht, als wäre er die ganze Welt.

Zerbrochene Informationsökologie

Von diesen privaten mythischen Welten gibt es in der heutigen Informationsökologie, wie es Schmachtenberger nennt, unzählige. Durch die Fragmentierung droht diese Ökologie zu zerbrechen und damit auch das soziale Gefüge einer Gesellschaft. Denn wenn wir in parallelen Welten leben, die mythisch aufgeladen sind, finden wir kaum noch Zugang zu einem Gemeinsinn, einem öffentlichen Raum, in dem wir unterschiedliche Sichtweisen konstruktiv miteinander bewegen können. Darin spüren wir auch die Wirkung des Mythos, denn wenn ein Bedeutungszusammenhang diese mythische Aufladung hat, ist er eben nicht mehr nur eine Sichtweise der Wirklichkeit neben und mit anderen, sondern die Wirklichkeit, die Wahrheit. So genutzt kann der Mythos einen Horizont der Guten und der Bösen, der Verbündeten und der Gegner, des Wir und der anderen öffnen. Solche Einordnungen ermöglichen eine besonders starke Gewissheit und Identität. Wenn ich weiß, wer die Bösen sind, dann fühle ich mich in tiefster Gewissheit in ein sinngebendes Muster eingebunden. Und mein Leben erhält Sinnhaftigkeit daraus, dass ich auf der richtigen, der guten Seite stehe. Wenn sich dieser Kosmos der guten und bösen Mächte aufspannt, befinden wir uns auf mythischem Gebiet.

Die Dynamik polarisierender Gegensätze wird auch absichtlich von unterschiedlichsten Interessengruppen eingesetzt, um gesellschaftliche, demokratische Strukturen zu schädigen. Deshalb erklärt Schmachtenberger etwa, dass wir in einem »Krieg« leben, der mit Narrativen, mit Informationen, mit Falschinformationen und mythischen Bedeutungsmustern geführt wird. Der Mechanismus dabei ist, dass man die schon bestehenden Differenzen und Meinungsverschiedenheiten einer Gesellschaft zunehmend radikalisiert, polarisiert und auch »mythifiziert«, indem man Inhalte teilt, die diese Polarisierung unterstützen, also das Muster von Gut und Böse fördern. Diese Inhalte mit einer entsprechenden Erregungskraft kommuniziert, sprechen vor allem die Emotionen der Nutzer an und erzeugen Resonanz in den schon bestehenden Glaubenssystemen. Es geschieht ein »Limbic hijack«, das limbische System übernimmt, in dem es nur Freund oder Feind gibt, nur Kampf, Flucht oder Erstarrung. Dann wird etwas »wahr«, weil es sich für mich aufgrund meiner schon bestehenden Weltsicht oder meines mythischen Kosmos als wahr anfühlt.

Verbindende Mythen

Wir sehen heute, dass eine solche Dynamik eine Gesellschaft spalten und entzweien kann. Es wird offensichtlich, dass wir neue Geschichten, neue Narrative und auch neue Mythen brauchen. Was könnten die Elemente solch eines Mythos sein, der uns einen Weg aus der Polarisierung eröffnet?

Zunächst einmal wäre es einer, der die Ungewissheit annimmt, im Wissen, dass das Lebendige nie sicher, gewiss oder verfügbar ist. Schmachtenberger empfiehlt auf dem Weg zu solch einer neuen ungewissheitsfähigen Haltung die Reflexion darüber, wie oft wir Sichtweisen, von denen wir dachten, sie seien hundertprozentig wahr, später als unwahr erkannt haben. Aber, so führt er aus, es ist uns nicht möglich, unsere gegenwärtigen Überzeugungen so radikal zu hinterfragen. Aber genau das ist nötig auf dem Weg zu einem besseren Verstehen der Welt: immer wieder neu mit leeren Händen dazustehen und mit frischem, ungebundenem Blick auf die Welt zu schauen.

Der erste Schritt besteht also darin, vom Schlachtfeld zurückzutreten und in einem heroischen Akt mir selbst einzugestehen, dass meine eigenen Sichtweisen falsch sein könnten. Daraus erwächst das Interesse, den anderen zuzuhören. Und mit solch einer Haltung können wir zu Helden der Wahrheitssuche werden, die immer ein dynamischer Prozess ist und von uns fordert, unsere Sichtweisen und die anderer zu prüfen. Schmachtenberger empfiehlt, sich mit ebenjenen Medien-Kanälen auseinanderzusetzen, die den eigenen Überzeugungen entgegenlaufen: Was bewegt Menschen, auf diese Nachrichten zu hören? Was ist das Signal darin? Was ist das Anliegen, was sind die Werte, die dort ausgesprochen werden? Welche teilweise Wahrheit spricht darin? Mit der gleichen Haltung kann ich in Gespräche gehen. Ich habe immer wieder erlebt, dass sich ein Gespräch verändert, wenn wir nicht nur die Narrative bestimmter Medien miteinander verhandeln, sondern einander fragen, warum wir diese Erklärung plausibel und zutreffend finden: Welche deiner Werte gehen damit in Resonanz? Welche biografischen Erfahrungen werden angesprochen? Welche traumatischen Erlebnisse werden berührt? Welche Visionen einer lebenswerten Welt findest du darin?

Die offene Mitte

In solch einer Haltung eröffnet sich ein Raum jenseits der getrennten, gegeneinander gerichteten Geschichten: wenn ich die Identifikation mit einer bestimmten Sichtweise lockere und die mögliche Wahrheit der anderen Sichtweisen in Betracht ziehe. So entsteht ein offener, unbesetzter Raum, in dem dann fundiertes, nicht polarisierendes Verstehen und echter Dialog der Perspektiven möglich sind. Die Philosophen Markus Gabriel und Gert Scobel bezeichnen in ihrem Buch »Zwischen Gut und Böse« diesen offenen Raum als die »radikale Mitte«. In ihrer Analyse fehlt gerade in der Corona-Pandemie häufig diese offene Mitte, in der unterschiedliche Wissensdisziplinen und Experten in einen offenen, vielstimmigen, mehrdimensionalen Dialog miteinander treten, um gemeinsam herauszufinden, was das richtige Vorgehen ist für das Ganze der Gesellschaft. Dieser offene Raum spannt sich auf und ist weiter als die polarisierenden Narrative mit ihrer mythischen Kraft.

Dieser offene Raum der radikalen Mitte kann selbst zur Grundlage eines neuen Narrativs und auch eines neuen Mythos werden. Vielleicht könnten wir ihn als Mythos der offenen Mitte bezeichnen. Das ist ein Mythos, den wir gemeinsam gestalten. Um die Frage, wer wir als Menschen sein wollen, gemeinsam und nicht gegeneinander beantworten zu können, braucht es diese radikale offene Mitte des Dialogs. Das Zuhören, das Verstehenwollen ist dabei die Grundtugend. Damit sind wir in diesem Mythos der mitfühlenden Verbundenheit und schöpferischen Ungewissheit aufgerufen, zu Helden des Zuhörens zu werden.

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Erschienen in evolve Ausgabe 31 / 2021 “Wir leben in Mythen – In welchen wollen wir leben?”

 

Wenn Kunst aufs Ganze geht

Gefahren und Möglichkeiten der ästhetischen Transformation

Wie hat unsere Geschichte unseren Umgang mit revolutionären, künstlerischen Impulsen geprägt? Eine Spurensuche bei Richard Wagner, der Kunst im Nationalsozialismus, bei Joseph Beuys und in unserer krisenhaften Gegenwart.

Was Joseph Beuys auszeichnet, könnte man vielleicht auf diesen Punkt bringen: Er wollte, dass die Kunst aufs Ganze geht. In seinem Erweiterten Kunstbegriff war sie nicht mehr nur eine Seitendisziplin kreativer Individuen und Kunstinteressenten, sondern zielte auf den Kern des gesellschaftlichen Wandels ab. Beuys wollte das schöpferische Prinzip der Kunst auf alle Bereiche des Lebens anwenden. Viele Jahre zuvor hatte Richard Wagner mit seiner Idee des Gesamtkunstwerkes und der Kunst als revolutionärer Kraft einen ebenso umfassenden Auftrag formuliert. »Die Kunst und die Revolution« heißt eine zentrale Schrift Wagners, »Die Kunst ist die einzige revolutionäre Kraft«, erklärte Beuys programmatisch. Dazwischen liegt die Katastrophe des Nationalsozialismus, der sich der Ideen und der Kunst Wagners bemächtigte, um das eigene Sendungsbewusstsein im Wandel zu einer totalitären Gesellschaft auch künstlerisch zu untermauern. In der Reflexion dieser Ideen einer universellen, sozialen Transformationskraft der Kunst möchte ich hier Licht und Schatten solcher Ganzheitsentwürfe beleuchten.

Die Kraft der Mythen

Vor vielen Jahren las ich ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckte: »Engel sind schwarz und weiß« von Ulla Berkéwicz. Darin beschreibt sie die Geschichte zweier Freunde in der Zeit des Nationalsozialismus. Reinhold wird von seinem Freund Hanno, der später in eine Schulungsanstalt der SS geht, in die deutsche Dichtung eingeführt. Beide schöpfen aus dem Geist der Zeit, wonach ein epochaler Wandel bevorstehe. Auch durch die Vermittlung der hymnischen Dichtung der Romantiker und der Musik Richard Wagners wird Reinhold zunehmend in den ideologischen Kosmos der Nazis hineingezogen. Berkéwicz beschreibt all dies in höchst poetischen Worten und erreichte damit bei mir einen aufwühlenden Effekt: Als jemand, der die Dichtung liebt, konnte ich innerlich nachvollzeihen, wie sich Hanno und Reinhold für die Idee begeisterten, eine Rückverbindung mit den mythischen und mystischen Wurzeln des Menschseins stünde bevor, in einer Gesellschaftsvision, die den kühlen Rationalismus hinter sich lässt und einen übergeordneten Sinn der Menschwerdung in den Blick nimmt.

In Berkéwicz‘ Buch erlebt auch der junge Reinhold solch ein „Erwachen“ in Bayreuth und in einer fiktiven Passage findet sich eine Beschreibung dieser Wirkkraft der Wagnerschen Kunst, die diesen Zeitgeist eindrücklich widergibt: „Richard Wagner habe mit seiner Tonmacht die Weltwende eingespielt. Die Menschheit sei jahrtausendelang von ihrer mystischen Vergangenheit abgeschnitten gewesen und habe, in Raum und Zeit begrenzt und auf sich selbst zurückgeworfen, nach erdichteten Tröstungen gesucht. Das Zeitalter des Gottmenschen aber habe mit dem Wagnerschen Fanfarenklang begonnen.“

So zeigt Berkéwicz erschütternd, wie sehr die Faszination am Nationalsozialismus auch ästhetische Elemente hatte oder wie Kunst und Ästhetik genutzt wurden, um eine totalitäre Ideologie in die Herzen der Menschen einzupflanzen. Sie nutzten dazu die romantische Dichtung und vor allem auch die Musik Richard Wagners. Aber nicht nur dessen Opern gaben den Nazis ausreichend Möglichkeit, ihre zerstörerischen Anliegen mythisch zu verschleiern, sondern auch sein Denken bot viele Anknüpfungspunkte.

In seinen Schriften »Die Kunst und die Revolution« und »Das Kunstwerk der Zukunft« fordert Wagner in feuriger Sprache eine europaweite, soziale Revolution, die er schon heraufdämmern sah. Gegen die Versklavung der Menschen durch die wachsende Industrialisierung und die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Natur durch das Christentum wollte er ein ästhetisches Ideal der Griechen wiederauferstehen lassen und den Menschen zu einem Leben führen, das seinem innersten Wesen entspricht. Es müsste eine neue Religion geboren werden, die aus diesem Wesen schöpft und das Mittel dazu sei das Gesamtkunstwerk. Er wollte Kunst aus der Aufteilung in verschiedene Disziplinen in eine Ganzheit führen, die er in seinen Opern dann auch einzulösen versuchte.

Den Impuls zu dieser ästhetischen Erneuerung sah er im Volk, das er durch eine solche Kunst wieder zu seiner eigenen Würde führen wollte. Die gesellschaftlichen Zustände sah er verkümmert in einer Herrschaft der wirtschaftlichen, politischen, religiösen, intellektuellen Eliten über das zum dumpfen »Pöbel« degradierte Volk. Im revolutionären Erwachen des Volkes sah er den Weg zu einer neuen Gesellschaft. Zum Volk gehört der Mensch, »sobald er einen Drang in sich fühlt, endlich auszubrechen aus dem feigen Behagen unserer gesellschaftlichen und staatlichen Zustände oder der stumpfsinnigen Unterjochung durch sie, der ihm nur Ekel an den schalen Freuden unserer unmenschlichen Kultur und Hass gegen ein Nützlichkeitswesen empfinden lässt.«

Die Herrschaft des Nützlichen wollte er durch die revolutionäre Kraft der Kunst überwinden. Das Volk ist der Künstler, der die naturgegebenen schöpferisch-mythischen Kräfte freisetzt und eine neue Religion begründet. Eine Religion, die sich aus dem mythischen Quellraum des Volkes schöpft, den er in seiner großen Tondichtung »Der Ring der Nibelungen« aus der germanischen Mythenwelt wachzurufen suchte.

Missbrauchte Kunst

Mit seinen revolutionären Ideen von einem Umsturz der Verhältnisse, seinem Antisemitismus und seiner mit Mythen aufgeladenen Musik war Wagner für die Nationalsozialisten besonders interessant. Wirksam missbrauchten sie ihn für die Vermittlung ihrer Ideologie. Unter Historikern wird darüber diskutiert, ob Aspekte der späteren völkischen Ideologie schon in seinem Werk vorgebildet wurden. Thomas Mann konstatierte, dass viel Hitler in Wagner sei und nannte das Festspielhaus in Bayreuth »Hitlers Hoftheater«. Hier zelebrierte Hitler, unterstützt von der Wagnerfamilie, die ihm sehr zugetan war, die Opern Wagners bei den Bayreuther Festspielen als eine Art Initiationsritus in die nationalsozialistische Neu-Mythifizierung des Menschen und der Gesellschaft. Die Nazis wollten damit ein gemeinschaftliches Erlebnis der Ehrfurcht und Erhöhung des deutschen Volkes wachrufen.

Aber nicht nur die mythenschwangere Kunst Wagners wussten die Nazis zu nutzen, um ihre heldische Ästhetik zu formen, welche die Menschen emotional von der schicksalsschweren Erlösungsaufgabe des Dritten Reiches überzeugen sollte. Sie fanden auch andere wirksame, auch sozialkünstlerische Mittel. Bei ihren Massenveranstaltungen setzten die Nazis geschickt auch ästhetische Mittel ein, um ein Gefühl der Größe und Gemeinschaft wachzurufen. Besonders eindrucksvoll die Lichtdome, bei denen um ein Stadium riesige Scheinwerfer installiert wurden, die dann einen Dom aus Licht in den Nachthimmel bauten. Man kann sich vorstellen, dass solche sozialen ästhetischen Erfahrungen, in welchen die Menschen in ein gemeinschaftliches Mysterium gezogen werden sollten, einen tiefen Eindruck hinterließen.

Diese Massenveranstaltungen wie auch die Olympischen Spiele in Berlin 1936 wurden von der Filmemacherin Reni Riefenstahl in mythenschwangere Bilder gesetzt. Geschickt nutzen die Nazis hier die relativ neue Kunstform des Films, die in sich eine Art Gesamtkunstwerk aus Bild, Ton und Dramaturgie ist und besonders geeignet, durch Bilder tiefe Emotionen zu vermitteln. Und mit Riefenstahl fanden sie eine Meisterin dieser Kunst, noch heute gilt sie vielen als Genie und einige ihrer Filmpassagen als bahnbrechend in der Verwendung neuer künstlerischer Mittel. Besonders beeindruckend die Eröffnungsszene zum Olympiafilm, in dem sie aus den Ruinen des antiken Griechenlands die heroischen Athleten auferstehen lässt. So stellt sie die Berliner Olympiade und damit auch das Nazi-Regime in diesen mythischen Bezug.

In der Masse aufgehen

In Riefenstahls dokumentarischen Filmen gibt es außer den Nazi-Führern keine Individuen. Es gibt individuelle Körper vom heldisch-starken Menschen, der der Ästhetik und Ideologie der Nazis entsprach. Ganz besonders wusste sie die Massen in Szene zu setzen und ich konnte nicht umhin, selbst etwas Aufregung zu empfinden, wenn zu Beginn von »Triumph des Willens«, ihrem Film über den Reichsparteitag der NSDAP 1936, das Flugzeug Hitlers zunächst zu sphärischer Musik durch die Wolken schwebt, um dann langsam Nürnberg näherzukommen und bejubelt von der Menge zu landen. Diese Stilisierung einer vereinten Volksgemeinschaft, die an einer epochalen, menschheitsgeschichtlichen Wiedergeburt Deutschlands und des zukünftigen Menschen teilhat, wird hier mit Hitler als herabkommender Erlöser mythisch-emotional vermittelt. Es ist die Ehre und Würde des Einzelnen, an dieser so weit über ihn hinausgehenden Aufgabe mitzuwirken.

Im Vorspann von »Triumph des Willens« wird der Mythos angesprochen, den die Nazis um sich selbst spannen. Dort wird das Ende des Ersten Weltkriegs als der Beginn des Leidens des deutschen Volkes benannt und die Machtergreifung Hitlers als der Beginn der deutschen Wiedergeburt. Nach der empfundenen Kränkung der Niederlage und den Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg, der Wirtschaftskrise und den gewaltsamen politischen Unruhen zwischen verfeindeten Gruppen waren viele Deutsche empfänglich für die einigende Botschaft eines deutschen Volkes, das zu seiner wahren Bestimmung findet. Die wirksamen Mittel der Ästhetik und Kunst wurden genutzt, um diese Schicksalsaufgabe mythisch zu erhöhen. Gleichzeitig wurden negative Mythen wie die vom »Weltjudentum«, das alle anderen Völker unterjocht, genutzt, um Feindbilder zu schaffen und emotional aufzuladen.

Suche nach Sinn

Bei diesen Überlegungen wird mir erneut deutlich, warum heute rechtspopulistische Ideen oder Verschwörungsmythen wie bei QAnon, in denen Donald Trump der Bote einer friedlichen, freien und spirituellen Zukunft ist, eine solche Anziehungskraft haben. Zunächst einmal gehen diese Entwürfe aufs Ganze, sie bieten einen verbindenden Mythos. In einer Zeit, in der das gesamte Leben zunehmend einer neoliberalen Marktlogik unterordnet wird, die auch zu einer sozialen Fragmentierung führt. Und sie geben eine Antwort auf die Sinnkrise in einer Welt, die durch einen wissenschaftlichen Materialismus geprägt ist. Als jemand, der selbst im Osten Deutschlands aufgewachsen ist, wird damit auch klarer, warum die AfD hier besonders stark ist, denn viele Menschen empfinden sich als abgehängt von der gesellschaftlichen Entwicklung. So entsteht die Sehnsucht nach Sicherheit, Orientierung und einer engeren Zugehörigkeit zum deutschen Volk, die immer auch mit Mythen einhergeht, z. B. dem Mythos von der Islamisierung des Abendlandes. Und mich erschreckt es immer wieder, wenn Bekannte, die sich seit vielen Jahren für spirituelle Themen interessieren, für eine Mythifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in einem Kampf zwischen guten und bösen Mächten offen sind. In der Komplexität der politischen Verwerfungen im Zuge einer Pandemie werden dann die Schuldigen gesucht und mythisch überhöht wie Bill Gates oder globale Eliten. Hier ist dann auch en Einfallstor für die Wiederbelebung von Mythen wie die vom alles beherrschenden »jüdischen Weltverschwörung«. So wachsen in der Lücke der Sinngebung und Visionskraft unserer Kultur rückwärtsgewandte und totalitäre Alternativen, in denen ein zerstörerisches soziales Potenzial liegt.

Joseph Beuys erkannte einen inneren Mangel auch in seiner Zeit und sein Werk ist seine Antwort darauf. Es ist eine Kunst, die aufs Ganze ging. Beuys wuchs in der Zeit des Nationalsozialismus auf, war als Bordfunker bei der Luftwaffe und verunglückte 1944 bei einem Absturz auf der Krim. Über diese Zeit hat Beuys nicht viel gesprochen aber in seinen Werken findet man viele Zeichen dieses Traumas des Krieges. Den Absturz kleidete er in den Mythos, dass er schwer verletzt von Tartaren gefunden wurde, die ihn, eingehüllt in Fett und Filz – Materialien, die für ihn später zentral wurden –, gesund pflegten.

In seiner Beuys-Biografie hat Hans-Peter Riegel versucht, Beuys eine Nähe zu nationalsozialistischen Ideen nachzuweisen, aber das scheint spekulativ. Aber auf der anderen Seite ist es auch offensichtlich, dass er durch diese Jugend und vor allem die Kriegserfahrungen tief geprägt wurde. In seinem Beuys-Buch „Zeig deine Wunde“ schreibt Rüdiger Sünner: „Ein Blick auf Beuys’ Gesamtwerk zeigt, dass darin die NS-Zeit als traumatische Schicht intensiv weiterwirkt. Beuys spricht nicht umsonst in einem Interview von dem »Schock«, den er nach dem Krieg erlitten hat, als er vom wahren Ausmaß der Nazi-Gräuel erfuhr. Er nennt den Krieg sogar das »Urerlebnis, Grunderlebnis, was dazu geführt hat, dass ich überhaupt begonnen habe, mich mit der Kunst auseinanderzusetzen.«“

Und es sollte eine Kunst werden, die aufs Ganze ging. Und das auch in einem besonderen Sinne. Denn nach der Katastrophe des Nationalsozialismus wurde alles, was mit Mythen, nicht-konfessioneller oder esoterischer Spiritualität oder Mystik zu tun hatte, als gefährlich empfunden und möglichst vermieden. Zudem wurden die traumatischen Erfahrungen einer ganzen Generation und auch die Schuldfrage des Einzelnen größtenteils verdrängt. Mit Rationalität und Tatendrang ging es an den Wideraufbau.

Ganz anders Beuys, denn in seiner Kunst leben die Mythen weiter, wie z. B. seine schamanischen Aktionen zeigen. Aber auch das Trauma des Krieges ist in vielen Arbeiten spürbar wie z. B. in der „Auschwitz-Vitrine“. Für mich wird das in seiner Installation „Zeig deine Wunde“ sehr deutlich, die ich schon mehrfach in München gesehen habe. Oft kamen mir in der Betrachtung auch die Erinnerungen an die Leichenbaren, die ich in ehemaligen Konzentrationslagern gesehen habe. Und die ausgestellten Werkzeuge legen die tiefe Verwundbarkeit des Menschen offen.

Beuys stellte seine Kunst und Person immer wieder ins Licht des Mythischen. Er knüpfte an Ideen der Romantik und Anthroposophie an, um geistige Zusammenhänge zu durchdringen und in seiner Kunst zum Ausdruck und in Aktionen ins Gespräch zu bringen. In einer Zeit, in der die Angst vor großen Menschheitsvisionen den Menschen in den Knochen saß, entwarf er die Vision einer Gesellschaft, die vom kreativen, künstlerischen Prinzip, der schöpferischen Kraft des Einzelnen durchdrungen ist: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Für ihn bildete dieses schöpferische Erwachen auch den Kern einer spirituellen Transformation des Menschen.

Er wollte dem Rationalismus und der fortschreitenden Industrialisierung der Nachkriegszeit mit Umweltzerstörung und Wettrüsten mit einer Revolution des schöpferisch belebten Einzelnen begegnen. Seine soziale Plastik entsteht aus der ko-kreativen Beziehungswärme selbst-bewusster, kritischer und schöpferischer Menschen – aller Menschen. Das unterscheidet sein von Natur aus universelles Werk grundlegend von der Vorstellung einer Gemeinschaft, die aus Ich-Auflösung entsteht und auf Ausgrenzung und Vernichtung anderer abzielt, wie es die Nazis wollten und umsetzten. Es unterscheidet auch seinen künstlerischen Ganzheitsentwurf von Wagners Ideen. Wagner wollte, so könnte man vielleicht sagen, eine totale Kunst, in der die Menschen in der Strahlkraft eines schon gebildeten Mythos zu ihrer eigenen Würde finden. Der Einzelne findet zu seiner Bestimmung im Mitwirken an diesem lebendigen Mythos im Herzen des Volkes. Solch eine totale Kunst kann leicht auch totalitär werden. Beuys aber wollte dem Menschen keine totale Vision überstülpen, sondern ganz im Gegenteil, das Ganze der Gesellschaft von seiner Wurzel her, den selbstbestimmten Menschen und der in ihnen wirkenden Schöpferkraft, erwachsen lassen. In einem evolutionären Prozess, der als sich entfaltender Mythos erlebt werden kann, insofern er sich auch durch Imagination, Bilder und sozialgestalterische Formen formt und vermittelt. Es ist ein Ganzes, das aus der Beziehung freier, ganzheitlicher Menschen unaufhörlich gebildet und umgebildet wird.

Das neue Ganze

Auch heute ist die Angst vor großen Visionen spürbar. In Politik und Geistesleben überwiegt der Versuch, angemessen auf das zu reagieren, was geschieht. Aber die Frage: »Wie wollen wir eigentlich leben?«, »Wie soll die Zukunft der Menschheit gestaltet werden?«, wird nicht umfassend diskutiert. Gleichzeitig wirft uns die Globalisierung, die Klimakatastrophe und Bestrebungen, durch die Digitalisierung eine technokratische Gesellschaft zu gestalten, in eine Situation, in der es rein faktisch ums Ganze geht. Um den Sinn und das Überleben unserer Spezies.

Die Kunst, die heute als nicht systemrelevant gilt, hat hier vielleicht in ihrem erweiterten Sinne die überlebenswichtige Aufgabe, in uns allen den Blick auf das Ganze zu entwickeln und uns visionsfähig zu machen. Denn wie sich gezeigt hat: Der Wandel zu einem individuellen und kollektiven Handeln, das ökologischer, ganzheitlicher und sozialer ist, entsteht nicht durch Fakten, Wissen, Appelle und Regeln allein. Diese Transformation, vielleicht sogar Revolution, erfordert eine Bildung und Potenzialentfaltung des Einzelnen hin zu den jedem Menschen innewohnenden schöpferischen Kräften. Hier liegt ein weitgehend ungenutztes Reservoir an Vorstellungskraft, Kreativität, Fantasie und Neugestaltung in unserer Mitte bzw. in unserer Tiefe. Es ist das »gesellschaftliche Magma« wie es der Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis nennt, das unter der starren Kruste eines zweckrationalen, technifizierenden und instrumentellen Denkens weitgehend verborgen und ungenutzt liegt.

Eine Hebung dieses Potenzials wäre die eigentliche politische und soziale Aufgabe, die unsere gesellschaftlichen Beziehungen verändern könnte, sodass sie Labore einer möglichen Zukunft werden, in denen neue Formen von Zugehörigkeit und Sinn erfahrbar werden. Und die Gesellschaft wäre dann erfüllt, durchwirkt von der Kreativität und Beteiligung ihrer mündigen Bürger, wie sie sich schon in vielen zivilgesellschaftlichen Bewegungen rund um Fridays for Future, Extinction Rebellion, Gemeinwohlökonomie, partizipative Demokratie oder Grundeinkommen zeigt.
»Jeder Mensch ist ein Künstler«, sagte Beuys, und gemeinsam gestalten wir alle die soziale Skulptur Gesellschaft und die Vision einer lebenswerten Zukunft. Trotz aller Vorsicht, die bei großen Visionen und ihrer ästhetischen Vermittlung geboten ist – wie es uns unsere Geschichte lehrt –, scheint mir, dass wir diesen schöpferischen Blick auf das Ganze heute dringend brauchen.

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Etwas erweiterte Version eines Artikels in evolve Ausgabe 30 / 2021 “Kunst öffnet Welten: Joseph Beuys und die Folgen”

 

Die Macht (in) der Wissenschaft

Forschung im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Welterklärung

Im Zuge der Corona-Pandemie oder im Zusammenhang mit dem Klimawandel wird immer wieder gefordert, auf „die Wissenschaft“ zu hören. Aber wie ist das möglich, wenn die Wissenschaft selbst ein Prozess ständiger Erweiterung der Erkenntnis ist? Und zugleich in einem Umfeld, in dem die Wissenschaft auch in Machtbeziehungen agiert, für Machtansprüche genutzt wird oder sie selbst erhebt, zum Beispiel zur Legitimierung politischer Entscheidungen, zur Förderung wirtschaftlicher Interessen oder in der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit einer wissenschaftlichen Weltsicht?

Mitte Dezember hielt Angela Merkel im Bundestag eine denkwürdige Rede. Angesichts steigender Infektionen mit dem Corona-Virus und zunehmenden Todesfällen berief sie sich auf eine Empfehlung von Wissenschaftlern der Leopoldina-Akademie. In einer Stellungnahme forderten sie einen harten Lockdown, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen. In ungewohnt emotionalem, ja, fast flehendem Ton, forderte Merkel die Bürgerinnen und Bürger auf, soziale Kontakte zu verringern und sich an die Corona-Maßnahmen zu halten. Sie forderte aber auch dazu auf, der Wissenschaft zu vertrauen und wurde dabei auch persönlich: „Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Ich habe mich in der DDR fürs Physikstudium entschieden. Weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann – aber die Schwerkraft nicht, die Wissenschaft nicht und andere Fakten auch nicht.“ Es war berührend, wie die mächtigste Frau des Landes hier die Bürger aufforderte, der Wissenschaft zu vertrauen, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen an dem Virus versterben oder die Intensivstationen überfordert werden. Wie komplex es aber ist, sich in politischen Entscheidungen auf „die Wissenschaft“ zu berufen, zeigten auch die Reaktionen auf ihre Rede.

Wenn Wissenschaft Politik macht

In dem Aufruf der Leopoldina, auf den sich Merkel bezog, hatten ihrerseits Wissenschaftler eine politische Empfehlung gegeben, was wiederum heftig Kritik an den beteiligten Wissenschaftlern laut werden ließ. Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne und selbst Mitglied der Leopoldina, schrieb in einem Brief: „Es gibt in Bezug auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen. Wir haben es mit der üblichen Situation einer wissenschaftlichen Kontroverse zu tun, in der verschiedene Standpunkte mit Gründen vertreten werden.“ Auch der wissenschaftliche Inhalt des Papiers wurde kritisiert. So schrieb der Wissenschaftsphilosoph Jörg Phil Friedrich: „Für keine der geforderten Maßnahmen nennt die Stellungnahme eine belastbare wissenschaftliche Quelle, nennt sie wissenschaftlich gesicherte kausale Zusammenhänge. … Wenn Wissenschaft derzeit meint, in „Ad-hoc-Stellungnahmen“ der Gesellschaft Vorschriften machen zu können, ohne wenigstens andeutungsweise zu zeigen, wie sie ihre „letzten Warnungen“ begründen und hinsichtlich der Wirksamkeit belegen kann, verrät sie ihren eigenen Anspruch an wissenschaftliches Arbeiten.“

Wie schon in der Klimakrise zeigt sich nun in der Pandemie die Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnisse eigentlich in politisches Handeln überführt werden können. Schwierig ist das vor allem dadurch, dass Wissenschaft ein kontinuierlicher Prozess der Forschung und des Diskurses über verschiedene Forschungsergebnisse ist. Sie ist also kein monolithisches Etwas, sondern verändert sich, Erkenntnisse werden fallengelassen, wenn neue Erkenntnisse wissenschaftlich begründet und in einem Prüfungsprozess in der wissenschaftlichen Gemeinschaft bestätigt werden. Solange eine Erkenntnis nicht auf diese Weise wirksam widerlegt wurde, kann sie zu einem verlässlichen Bezugspunkt werden – im Wissen, dass auch diese Erkenntnis nur vorübergehend und begrenzt ist. Und natürlich brauchen wir solche Bezugspunkte, um gesellschaftliches und politisches Handeln rational zu begründen. Gerade auch in einer Zeit, wo von verschiedenen Seiten mit „alternativen Fakten“ solch eine wissenschaftliche Begründung des Handelns untergraben wird.

Die fließende Natur der Wissenschaft, die gleichsam Welle und Teilchen, Prozess und Erkenntnis, zugleich ist, erschwert aber, die Eindeutigkeit zu gewinnen, die Politiker und auch die Öffentlichkeit gern möchten. Deshalb zeigt uns diese Zeit auch unsere Schwierigkeiten im Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit. Diese ist aber immer teil des wissenschaftlichen Forschens. Der Virologe Hendrik Streeck weist darauf hin, dass die Wissenschaft keine Schwarz-Weiß-Antworten geben kann, sondern sich immer in Abwägungsprozessen befindet. Auf der Suche nach der Gewissheit wurden Virologen wie Streeck und Christian Drosten zu einflussreichen Stimmen in der Öffentlichkeit. Damit erhielt eine wissenschaftliche Disziplin eine Kompetenz, die ihr in Bezug auf den Forschungsgegenstand sicher zusteht. Politisches Handeln muss dies in Betracht ziehen und im Kontext anderer Faktoren und Wissensdisziplinen das angemessene Handeln abwägen.

Denn mit Wissenschaft sind häufig nur die Naturwissenschaft gemeint. Gerade in Situationen, in denen das auslösende Phänomen, wie der Klimawandel oder ein Virus, vor allem naturwissenschaftlich erforscht wird, scheint dies auch berechtigt. Aber an der Frage, wie eine Gesellschaft mit diesen naturwissenschaftlichen Phänomenen sinnvoll und gemeinwohlgerecht umgeht, erfordert die Stimme verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen – Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft und Philosophie – und anderer Erkenntnisformen wie Kunst und Spiritualität. Deshalb forderte beispielsweise der Philosoph Markus Gabriel in der Pandemie, dass auch Philosophen als Stimme in der Entscheidungsfindung gehört werden sollten, weil ethische Erwägungen eben nicht der Erkenntnisgegenstand der Naturwissenschaft sind. Hier scheint sich also auch zu zeigen, wie sich ein verengter naturwissenschaftlicher Blick auswirkt, der sich auch vor allem auf Daten, Zahlen und Statistiken bezieht.

In solchen komplexen gesellschaftlichen Situationen gibt es aber auch viele Folgewirkungen von Entscheidungen, die nicht so leicht quantifizierbar sind. Nicht nur das, was wir messen können, ist real und handlungsführend. Daten müssen in ihrer Relevanz interpretiert und mit anderen Faktoren abgeglichen werden. Die Statistikerin Katharina Schüller sagt dazu: „Nicht alle Daten, die verfügbar sind, sind auch relevant, und nicht alles Relevante wird gemessen. Wir erheben zwar täglich die Anzahl positiver Coronatests, wissen aber bis heute nicht, wie viele Menschen in Deutschland infolge der Kurzarbeit unter die Armutsgrenze gerutscht sind.“ Es gibt unüberschaubar viele solcher häufig nicht messbaren sozialen, psychologischen, medizinischen, globalen Folgewirkungen, deren Erwägung in die Entscheidungsfindung einfließen sollte.

Dazu wird es aber auch nötig sein, Machtdynamiken im Zusammenhang mit der Wissenschaft zu erkennen. Denn häufig soll mit dem Argument, ein bestimmtes Handeln entspräche der Wissenschaft, ein Vorschlag legitimiert werden. Wie es der Philosoph und Managementberater Reinhard K. Sprenger formuliert: „Der Verweis auf «Wissenschaft!» … hat eine rhetorische Funktion im sozialen Tauziehen. Es geht um Macht. … Wer also Wissenschaftlichkeit reklamiert, will die Dinge festzurren, will, dass die Leute nicken, den Widerstand aufgeben.“

Zudem ist es wichtig, die Macht der Wirtschaft auf die Wissenschaft anzusprechen und offenzulegen, denn längst sind Wissenschaft und Wirtschaft auf Engste miteinander verzahnt., was einen transparenten Entscheidungsprozess über Forschungsthemen und -erkenntnisse erschwert und auch zur Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft beiträgt.

Wenn Forschung gekauft wird

Christian Kreiß, Professor für Finanzierung und Wirtschaftspolitik, analysiert in seinen Büchern „Gekaufte Forschung“ und „Gekaufte Wissenschaft“ die Einflussnahme wirtschaftlicher Profitinteressen auf die Wissenschaft. Er geht davon aus, dass in Deutschland 75 % der Forschung durch die Industrie bestimmt wird. Zwei Drittel aller Forschungsvorhaben kämen direkt aus einer Industriefinanzierung, hinzukommen Drittmittel aus der gewerblichen Wirtschaft. Kreiß untersucht verschiedene Wissenschaftsdisziplinen wie Medizin, Chemie, Pharma, Gen-Technik sowie Bereiche wie Internet, Mobilität und Verkehr. Ein Beispiel solch einer Forschungsfinanzierung, das Kreiß mit aufgedeckt hat, ist eine Zusammenarbeit der Boehringer Ingelheim Stiftung mit der Uni Mainz. Der Pharmakonzern investierte 100 Millionen Euro in das Institut für Molekulare Biologie. Der Kooperationsvertrag war nicht öffentlich, musste aber nach einer Klage durch Kreiß veröffentlicht werden.

In einer Recherche des TV-Magazins „Monitor“ wurden alle 84 staatlichen Universitäten nach solchen Kooperationsverträgen mit der Wirtschaft befragt. 72 von ihnen antworteten und erklärten, es gäbe 80 solcher Verträge (Uni Hohenheim), an manchen Unis sind es aber auch 800 (TU Berlin) oder über 1000 (Universität Dresden) dieser meist geheimen Verträge, denn nur an drei Unis sind sie öffentlich. Besonders stark ist diese Einflussnahme durch Pharmakonzerne. In Deutschland wurden in den vergangenen Jahren mindestens 33 Professoren von Pharmakonzernen bezahlt und es gab sechs Kooperationen zwischen Pharmaunternehmen oder deren Stiftungen mit Universitäten.

Was in den Kooperationsverträgen steht, ist in den meisten Fällen nicht bekannt. Im Vertrag der Boehringer Ingelheim Stiftung mit der Uni Mainz gab es aber Passagen, die eine direkte Einflussnahme des Konzerns auf die Forschungsinhalte nahelegte. Zum Beispiel heißt es darin, die Universität darf „von ihrem Weisungsrecht nur Gebrauch machen, soweit die Stiftung zustimmt“. Die befragte Expertin für Forschungsrecht Christine Godt hält solche Passagen für verfassungswidrig, denn damit werde „ganz tief in die Publikationsfreiheit, die ein Bollwerk der Forschungsfreiheit ist, eingegriffen“.

Dieses Beispiel für die Macht von Konzernen über Forschungsinhalte nährt Bedenken darüber, was in den vielen anderen, geheimen Verträgen festgeschrieben wurde. Für Christian Kreiß wirft es die Frage auf, wer eigentlich bestimmt, worüber geforscht wird, denn, so fragt er, „Wer soll denn über allgemein menschliche Dinge noch nachdenken, wenn nicht freie Forscher, unabhängige Forscher an unabhängigen Hochschulen? Wenn dies immer mehr gelenkt und beeinflusst wird, wo kommen dann die großen Ideen für die Menschheit her?“ Und der TV-Journalist Gert Scobel kommt in einem Beitrag über Lobbyismus in der Wissenschaft zu dem Schluss, dass dadurch die Einseitigkeit der Forschung verstärkt wird und erklärt: „Pluralität, Meinungsvielfalt und argumentative Auseinandersetzung werden dann ersetzt durch Finanzkraft.“

Kritiker der Analysen von Christian Kreiß sehen in seinen ausführlich recherchierten Beispielen eher Einzelfälle und keine systemische Macht der Wirtschaft über die Wissenschaft. Zudem verweisen sie darauf, dass die enge Vernetzung von Industrie und Forschung auch die schnelle Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in nützliche Produkte ermöglicht. Dabei ziehen sie aber nicht in Betracht, dass sich Forschung, die sich nur mehr auf das richtet, was als Produkt oder Dienstleistung für Unternehmen profitabel ist, gefährlich verengt.

Der Einfluss der industriellen Produktion hat auch zu einer zunehmend technisierten Wissenschaft geführt, in der es darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst schnell technisch umzusetzen und profitbringend zu nutzen. Für ethische Diskussionen darüber, ob diese Umsetzung für unser Zusammenleben wünschenswert ist, bleibt kaum Zeit. Zudem wird dadurch aber auch der Blick der Wissenschaft auf unsere Welt immer technischer: Die Welt als Objekt, Gegenstand und Ressource, die wir technisch umgestalten und nutzen können. Dieser instrumentelle Blick einer technisierten Wissenschaft beeinflusst auch unser Verständnis des Wesens des Kosmos, des Lebens und des Menschen. Und wer das vorherrschende Verständnis einer Kultur über das Wessen der Wirklichkeit bestimmt, erhält umfassende Macht.

Wenn wir Wissenschaft überfordern

Die Naturwissenschaft hat in unserer Kultur einen solchen Machtanspruch formuliert, der aber auch zu Einengungen unserer Weltsicht führt. Der Philosoph Martin Gabriel sieht beispielsweise den Physikalismus, die Sichtweise, dass alle Phänomene auf physikalische Prozesse reduziert werden könnten, und den Neurozentrismus, die Idee, dass alle Bewusstseinsphänomene unserer Innerlichkeit auf neuronale materielle Grundlagen zurückgeführt werden könnten, als die zwei größten Denkfehler unserer Zeit, die weit reichende Folgen dafür haben, wie wir uns selbst sehen und miteinander und der lebendigen Welt umgehen.

Wenn diese Verengungen und Grenzen des Erkennens nicht mehr offen thematisiert werden können, spricht der Biologie Rupert Sheldrake von einem „Wissenschaftswahn“. Der offene Prozess des Forschens wird dann zu einer dogmatischen Welterklärung, in der alles, was nicht in dieses Erklärungsmodell passt, als unwirklich bezeichnet wird. Andere Erkenntnisformen wie Kunst und Spiritualität oder wissenschaftlich noch nicht erklärbare Verfahren wie die Homöopathie werden dann abgewertet. Das führt aber wiederum dazu, dass Menschen, die sich solchen „alternativen“ Sichtweisen des Kosmos verbunden fühlen, der Wissenschaft misstrauen.

In der gegenwärtigen Situation führt dies auch dazu, dass Menschen aus solch einem „alternativen“ Milieu häufig den Corona-Maßnahmen und ihrer wissenschaftlichen Begründung skeptisch gegenüberstehen. Das ruft im Gegenzug die Verteidiger der Wissenschaft auf den Plan. Ulrike Winkelmann, die Chefredakteurin der „TAZ“, schreibt zum Beispiel: „Bisher galt: Dass der Vater, nüchterner Finanzbeamter, an Horoskope glaubt – sei’s drum. Dass die Freundin, langzeitstudierte Historikerin, kein homöopathisches Kügelchen auslässt – bitte schön. Vorbei. „Wie hast du’s mit der Wissenschaft?“, das ist die Frage der Pandemie, sie ist unausweichlich, wenn man über Corona, also unser aller Alltag reden möchte.“

Hier wird also suggeriert, dass Menschen, die auch andere Erklärungsweisen der Welt oder andere Handlungsoptionen zulassen, verdächtig sind, weil sie die neue Gretchenfrage falsch beantworten könnten. Die „TAZ“ verwendet dann auch eine Sonderausgabe darauf, die einzelnen Argumente von Skeptikern der Corona-Maßnahmen wissenschaftlich zu widerlegen. Der Wunsch, wissenschaftliche Erkenntnisse gegen falsche Fakten zu schützen, ist unterstützenswert. Aber die Frage „Wie hast du’s mit der Wissenschaft?“ als neue moralische Kernfrage aufzustellen gibt der Wissenschaft eine Macht, die sie gar nicht erfüllen kann. Denn, wie schon zu Beginn gesagt, sie ist ein vielschichtiger, vielstimmiger, multidisziplinärer Prozess und keine monolithische Machtinstanz, die wir anrufen könnten, um immer auf der sicheren Seite zu sein.

Ein Prozess, dem wir gerade auch „live“ beiwohnen. Vor unseren Augen haben Wissenschaftler immer wieder Erkenntnisse über das Virus revidiert und diskutiert. Und noch immer gibt es vieles, was wir nicht wissen. Und dieses Nichtwissen ist hier vielleicht die größte Herausforderung für uns. Aber vielleicht auch die größte Chance. Wenn wir uns eingestehen, dass es vieles gibt, das wir nicht wissen, schwächen wir zwar unsere eigene Machtposition, werden aber neugieriger, ansprechbarer, forschender im eigentlichen Sinne.

Es scheinen die Fragen dieser Zeit zu sein: Wie können wir der Erkenntniskraft der Wissenschaft vertrauen, damit aber auch dem offenen Prozess, durch den sie wirkt? Wie können wir die Wissenschaft würdigen und gleichzeitig ihre Grenzen sehen? Wie können wir auch Machtpositionen kritisch reflektieren – unsere eigenen, die der anderen und auch jene, die sich ökonomisch, politisch und sozial etabliert haben? Und wie gehen wir als Einzelne und als Gesellschaft mit der Unsicherheit und Ungewissheit um, die jedem unserer Verständnisversuche unserer Welt innewohnt, auch der Wissenschaft? Und wie halten wir dabei die Möglichkeit wach, durch einen Dialog der Sichtweisen, Erkenntnisse und Erfahrungen immer wieder zu einer tieferen Erkenntnis und damit zu weiserem Handeln zu kommen?

„New-Age-Wissenschaft“

Wie schon erwähnt, aufgrund der Machtansprüche der Naturwissenschaft und auch aufgrund eines Generalverdachts gegenüber alternativen Sichtweisen hat sich unter Menschen, die Bedenken an dieser Weltsicht hegen, ein Misstrauen in der Wissenschaft verbreitet. Dieses Misstrauen wird in der Pandemie nun auch bei Kritikern der Maßnahmen laut und häufig von politischen Interessengruppen geschürt und instrumentalisiert. In der Querdenker-Bewegung ist dieses Misstrauen gegenüber der Wissenschaft weit verbreitet. Und oft ist es nicht einfach, berechtigte Kritik von Pauschal-Verurteilungen und „alternativen Fakten“ zu trennen. Selbst der schon erwähnte Christian Kreiß sprach auf einigen Querdenker-Demos, distanzierte sich dann aber von der Bewegung, als der Einfluss rechtspopulistischer Kräfte zunahm.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich in einem alternativen, spirituellen Milieu auch eine eigene Art von „New-Age-Wissenschaft“ gebildet hat, in der wissenschaftliche Erkenntnisse dazu genutzt werden, spirituelle Glaubenssysteme zu untermauern. Ein Beispiel dafür ist die Quantenphysik, deren Erkenntnis von der Nichtgetrenntheit von Beobachter und Beobachtungsgegenstand zu einer ganzen Reihe an Ideen zu Quantenheilung, Bestellungen beim Universum und ähnlichem geführt hat. Hier ist häufig gar nicht mehr klar, was Wissenschaft eigentlich ist und was sie kann. In einer Art Umkehrschluss werden dann Ideen, die eigentlich nichts mit Wissenschaft zu tun haben, als wissenschaftlich begründet postuliert. Auch in diesem New-Age-Markt geht es um viel Geld, das in einer Bücher- und Seminarindustrie verdient wird.

Neue Vertrauensbildung

Wie finden wir in dieser komplexen „Wissens- und Wahrheitskrise“, wie es Markus Gabriel nennt, einen realistischen, unabhängigen, freien Umgang mit der Wissenschaft, die weder die Naturwissenschaft zur alleinigen Wahrheitsinstanz macht, sie aber in ihrem Zuständigkeitsbereich achtet und verteidigt? Zunächst wäre eine Weiterentwicklung der Wissenschaft selbst im Sinne eines interdisziplinären Diskurses notwendig. Dazu gehört auch die Transparenz und eine öffentliche Diskussion über Einflussnahme und Lobbyismus auf die wissenschaftliche Forschung. Die Frage, „Was wollen wir erforschen?“ sollte eine öffentlich sein und nicht hinter verschlossenen Konzerntüren entscheiden werden.

Zudem könnte die Wissenschaft auch eine dialogische Haltung gegenüber anderen Erfahrungs- und Gestaltungsformen des Menschen finden, wie der Kunst, der Religion, der Spiritualität. Die Rechtmäßigkeit und Bedeutung dieser anderen Erkenntnisformen haben große Wissenschaftler auch häufig anerkannt, so wie kürzlich der bekannte Quantenphysiker Anton Zeilinger in einem Interview: „Die Welt ist nicht nur materiell – es gibt mehr, als man in den Naturwissenschaften sehen und messen kann: Das war und ist eine wichtige Erfahrung meines Lebens.“ Statt den Zerrformen einer Annäherung zwischen Spiritualität und Wissenschaft, in der scheinbare wissenschaftliche Argumente zur Legitimierung spiritueller Ideen genutzt werden oder spirituelle Praktiken auf materialistische Prozesse reduziert werden, könnte es eine Begegnung auf Augenhöhe geben. Denn in unserer komplexen Welt müssen wir „plurale Modi“ des Erkennens berücksichtigen, wie es der Virologe Henrik Streeck formuliert.

Dann kann es auch die Grundlage geben, das Vertrauen in die Würde der Wissenschaft wiederherzustellen und wirksam gegen politische Kräfte zu schützen, die das Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen schüren und ausnutzen. Markus Gabriel spricht von einer neuen Aufklärung, in der wissenschaftliche Erkenntnis mit ethischer Entwicklung einhergeht. Nicht alles, was wissenschaftlich möglich ist, sollten wir tun. Deshalb braucht es auch eine Rückbesinnung auf die Sinnfragen unseres Menschseins und damit auch auf die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft. Wie wollen wir als Menschen und als Gesellschaft leben? Wie können wir unser Leben auf dieser bedrohten Erde sichern, auch für künftige Generationen? Und wie können wir die menschliche Gestaltungskraft in allen Bereichen nutzen, um auf die komplexen Fragen unserer Gegenwart und Zukunft neue Antworten zu finden? Vielleicht ist deshalb diese Pandemie auch eine kraftvolle Zeit, die Grenzen der Wissenschaft zu erkennen und zu erweitern.

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Erschienen in evolve Ausgabe 29 / 2020 “Wissenschaft: Ihre Grenzen, ihre Macht”:

Links

Lobbyismus – Gefahr für die Demokratie | Gert Scobel – YouTube

Virus und Gesellschaft – Eröffnung der phil.cologne 2020 mit Markus Gabriel und Hendrik Streeck – YouTube

Volk vs. Experten: Wer lenkt die Demokratie in der Krise? | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur – YouTube

Meine Erfahrungen mit Querdenken | Telepolis (heise.de)

 

Verstehen im Zwischenraum

Verstehen im Zwischenraum

Dialog als Praxis der Sinnfindung

Wie können wir uns inmitten unterschiedlicher Sichtweisen verständigen und zu neuen Einblicken in ein Thema finden, aber auch in die Möglichkeiten unseres eigenen Menschseins und unseres Zusammenlebens? Die evolve LIVE! Veranstaltungen sind ein Labor zur Untersuchung auch dieser Frage. Anhand eines Dialog-Tages in München fragt evolve-Redakteur Mike Kauschke nach der Relevanz solcher Bewegungsräume.

»Eigentlich haben wir alle nach den wenigen Stunden unseren Standpunkt verändert – hin zu einem größeren Verständnis und einer höheren Wertschätzung.« Das sagte eine der Teilnehmerinnen in der Abschlussrunde unseres evolve LIVE!-Tages zum Thema »Nachhaltiger Aktivismus“« in München. An diesem Tag kamen vor Kurzem 20 Menschen zusammen, um mit dem Impulsgeber Timo Luthmann zu erforschen, wie innerer Wandel und das Engagement für eine ökologische, soziale, gerechte Transformation unserer Gesellschaft zusammenwirken können.

Die Teilnehmenden hatten sehr verschiedene Anliegen, Wünsche und Vorerfahrungen zu diesem Thema. Es vereinte sie aber das Interesse, im dialogischen Austausch die Beziehung zwischen Spiritualität und Aktivismus neu zu verstehen. Im Verlauf des Tages kam diese Unterschiedlichkeit der Sichtweisen in einen kreativen Prozess, der uns einen neuen integrativen Blick auf die Verbindung von innerer Bewusstseinsarbeit und Wirken in der Welt eröffnete. Der Dialog ermöglichte, dass diese Verschiedenheit in einem lebendigen, ko-kreativen Ganzen getragen und bewegt wurde, sodass sich eine neue Einsicht in das eigene Leben und gesellschaftliche Zusammenhänge, in die Dynamik von Beziehungen, in die Kraft unseres wirkenden Bewusstseins zeigen konnte. Ausgehend von dieser Erfahrung möchte ich in diesem Text erforschen, inwieweit solch ein Dialog eine sinnbildende Praxis ist, die auch gesellschaftliche Relevanz hat.

Verschiedenheit ins Gespräch bringen

Wir leben in einer Zeit, in der unterschiedliche Lebenshintergründe und Perspektiven auf die Welt zunehmend intensiver aufeinandertreffen. Gerade in Krisenzeiten und angesichts der Komplexität unserer Welt treten diese Unterschiede noch stärker hervor und können zu scheinbar unüberbrückbaren Polarisierungen führen. In einer solchen Zeit braucht es Wege, um im Gespräch über diese Fragmentierung hinauszugehen und zu einer zusammenführenden Verständigung zu finden. Aber wie kann es gelingen, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit in einen solchen Prozess zu bringen, in dem sich neue Horizonte des Verstehens, der Wertschätzung und Sinnfindung zeigen?

Zu Beginn unseres evolve LIVE!-Tages zeigte sich, mit welch unterschiedlichen Hintergründen die Teilnehmenden die Dynamik zwischen Aktivismus und Spiritualität erfuhren. Einige Menschen sahen sich selbst als sehr aktiv in der Vertiefung des inneren Wandels und wollten herausfinden, was gesellschaftliches Engagement für sie bedeuten kann. Andere empfanden gegenüber Aktivisten eine gewisse Zurückhaltung, weil ihnen diese Welt bisher fremd erschien. Zwei junge Teilnehmer kamen selbst aus dieser Szene und hatten dort auch erlebt, wie schnell Menschen die Grenzen ihrer Kraft erreichen können. Diese erschöpfende Erfahrung im Einsatz für ein Projekt hatten mehrere der Teilnehmenden gemacht, zum Beispiel auch in einem alternativen Wohnprojekt, in dem der gemeinsame Geist verloren zu gehen schien.

Aus diesen unterschiedlichen Erfahrungen bewegte die Teilnehmenden die Frage nach einer neuen Verbindung von Spiritualität und Aktivismus. Es ist immer ein besonderer Moment, zu Beginn diese verschiedenen Stimmen zu hören. Als Moderator und Dialogbegleiter im Prozess dieses Tages fragte ich mich, welche verbindenden und neu entstehenden Antworten wir auf Fragen finden, die mich selbst immer wieder bewegen: Wenn ich einen inneren Weg der Bewusstwerdung gehe, durch Praktiken wie Meditation oder Achtsamkeit, wie antworte ich dann auf eine Welt, in der Leiden existiert und unser Handeln als Menschen auch dem Leben schaden oder es zerstören kann? Oder wenn ich mich engagiere, um auf dieses Leiden, diese Zerstörung zu antworten, wie bewahre ich mir dann die innere Kraft, es nachhaltig zu tun?

Unser Impulsgeber Timo Luthmann sprach darüber, wie er selbst diese beiden Dimensionen in seiner spirituellen Praxis der Meditation und seinem Einsatz für ein effektives Handeln gegen den Klimawandel und aktuell für eine ökologische, pestizidfreie Landwirtschaft verbindet. In seiner langjährigen aktivistischen Tätigkeit beobachtete er aber auch, dass viele Menschen ausbrennen oder nach einiger Zeit den Aktivismus wieder verlassen, weil ihnen die Kräfte ausgehen.

Kraftquellen finden

Nach Timos Impulsvortrag gingen wir mit folgender Frage in den Dialog: Welche Kraftquellen finden wir in uns und im Miteinander im Einsatz für einen sozialen-ökologischen Wandel? Als Antworten fanden wir im Gespräch Übungen wie Meditation, die Begegnung mit der Natur, künstlerische Tätigkeit oder menschliche Begegnung. Diese Erfahrungen geben uns auch deshalb diese Kraft, weil wir sie als zutiefst sinnvoll erleben. Ein junger Aktivist schilderte, wie er die basisdemokratischen Gesprächsformen unter Aktivistinnen als Kraftquelle erlebt. Er findet aber auch eine Kraftquelle darin, zu bestimmten systemischen Anforderungen wie Lohnarbeit und gesellschaftlichen Erwartungen wie Karriere oder finanziellen Erfolg »nein« zu sagen. Viele der älteren Teilnehmenden, die eher aus der Praxis eines spirituellen Weges oder psychologsicher Arbeit kamen, äußerten, wie sie dieses »Nein« und die darin liegende Entschlossenheit herausforderte.

Ein anderer Aspekt der inneren Kraftquellen war das Wahrnehmen der eigenen Macht. Timo legte in seinem Impuls einen Schwerpunkt auf die Tatsache, dass wir immer in Machtgefügen leben, die gesellschaftlich vermittelt und mit Sinn aufgeladen werden. Bewusstes, aktives Menschsein bedeutet auch, die Teilnahme an solchen Machtgefügen zu erkennen. Wie ist unser Verhältnis zu Rassismus oder dem Umgang der Geschlechter miteinander? Oft handeln wir hier aus unbewusst übernommenen Sinnbezügen. Ein Durchschauen solcher Muster erfordert aber die Begegnung mit dem anderen, das Verlassen der eigenen Komfortzone.

Macht bedeutet aber auch, dass wir als gestaltende schöpferische Wesen dazu in der Lage sind, uns in die Welt einzubringen, an ihr teilzuhaben. Sich aber selbst dieser schöpferischen Macht bewusst zu werden, ist in sich sinnstiftend, weil es uns aus einer sinnlosen Ohnmacht befreit. Timo beschrieb eindrücklich die Erfahrung, sich gemeinsam mit anderen für eine lebensförderliche Sache einzusetzen. In solch einem Tun handeln wir oft spontan, aufeinander abgestimmt und selbstvergessen, uns erfüllt ein Gefühl der tiefen Sinnhaftigkeit, weil wir in diesem Moment wissen, dass wir das für uns Richtige tun. Wir finden in diesem Moment unseres Lebens den Platz im Ganzen, wo wir so sein und wirken können, dass sich in uns und mit der Situation eine Stimmigkeit zeigt.

Die Konfrontation mit der Macht war für einige Teilnehmenden durchaus herausfordernd. Auch für mich selbst. Solche Momente sind für mich aber auch die spannendsten in einem dialogischen Prozess. Vor allem für Menschen,, die einem spirituellen Weg folgen, ist das Eingeständnis dieser Macht und der Verantwortung, die darin liegt, im besten Sinne des Wortes ungemütlich. Hier brachte der Dialog mit Timo als Aktivisten, der sich buchstäblich in zivilem Ungehorsam gegen Vorhaben wie den Kohletagebau gewehrt hat, oder auch das Gespräch mit den zwei jungen Aktivisten eine echte Erweiterung des Horizonts. Timo hob immer wieder hervor, wie wichtig für ihn auch die direkte Konfrontation und ein auch körperlicher Einsatz gegen ökologische Zerstörung ist. Er erklärte, dass man diese Form des Widerstands und wirksame Kommunikationsformen und Handlungsstrategien dabei ebenfalls lernen kann. Und er verglich dies damit, wie wir auch eine spirituelle Praxis erlernen können. Diese Sicht war für viele Teilnehmenden neu und wiederholt erklärten Menschen in der Abschlussrunde, dass sie durch diese Begegnungen des Tages »den Aktivisten in sich« kennengelernt hätten.

Von den Teilnehmenden wurde im Verlauf des Tages auch immer wieder der gemeinsame Dialog selbst als Kraftquelle genannt. Wenn wir uns in der Unterschiedlichkeit der individuellen Erfahrungen auf einen gemeinsamen Raum des Sprechens und Zuhörens, des Wahrnehmens und Erkennens einlassen, entsteht eine Nähe der Begegnung. Sie nährt sich vor allem auch daraus, dass wir bereit sind, vorgefertigte Sichtweisen loszulassen und auf das Andere, das Neue, das Ungewohnte und auch Ungemütliche einzulassen. Im Grunde ist es die Bereitschaft, sich durch den Dialog selbst verwandeln zu lassen, selbst ein Stück neu zu werden.

Echokammern öffnen

Dieser Prozess zeigte sich auch bei einem anderen spannungsreichen Thema des Tages. In der Erfahrung des Dialogs entstand an dem Tag zunehmend ein geschützter, vertrauensvoller Raum. Dazu merkte ein Teilnehmer an, dass es aber auch leicht ist, sich mit Gleichgesinnten in eine Echokammer zu begeben. Darunter leidet aber die Offenheit und Flexibilität, um sich auch immer wieder für neue Begegnungen und Erkenntnisse zu öffnen.

Im Gespräch zeigte sich diese Spannung: Wir brauchen geschützte Räume, um neue Fähigkeiten im Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen und der Welt einzuüben. Gleichzeitig wollen wir uns nicht in die Selbstbezüglichkeit einer bestimmten Gruppe oder Denkweise verengen, in der wir uns nicht mehr anderen Menschen öffnen können.

Aus diesem Spannungsfeld gingen wir am Nachmittag mit dieser Frage in den Dialog: Wie gehen wir produktiv mit Widersprüchen um und wie finden wir in unterschiedlichen Situationen die richtige Haltung? Schon die Formulierung der Frage empfand ich als sehr schwierig. Wie kann man ein so weites Feld in einige Worte fassen. Auch die Teilnehmenden schienen zunächst etwas überfordert und das machte mich unruhig. Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, auch der Kraft eines Beziehungsfeldes, das sich nun schon gebildet hatte, zu vertrauen. Jeder hatte solche widersprüchlichen Situationen schon erlebt, wo uns die Sichtweise oder das Handeln eines Menschen zutiefst herausfordern. Timo berichtete uns hier auch von Begegnungen mit Polizisten während aktivistischer Aktionen. Aber auch »harmlosere« Gespräche mit Menschen im privaten oder beruflichen Umfeld können zu einer Herausforderung werden, wenn jemand eine Meinung oder Position vertritt, die meiner eigenen Sicht der Welt widerspricht.

Wir fanden heraus, dass es hier auch die Fähigkeit braucht, solche Widersprüche auszuhalten. In dieser Reflexion zeigte sich auch, wie sehr uns eine spirituelle Praxis dabei helfen kann, diese Widersprüchlichkeit und Komplexität zu tragen, weil sie uns mit einem inneren Grund der Präsenz und Bewusstheit verbindet. Dann kann unser aktives Wirken in der Welt aus einer inneren Verwurzelung und einem tiefen Lebensvertrauen schöpfen. Der Dialog wiederum ermöglicht, dass wir gemeinsam und in der Begegnung solch einen tragenden Grund erfahren können.

Gemeinsam den Herz-Geist erwecken

In der Abschlussrunde des Tages zeigte sich, dass für diesen Umgang mit Widersprüchen eine innere Integration unterstützend ist, die eine Teilnehmerin als »Herz-Geist« bezeichnete. Sie erklärte, dass mit diesem Begriff aus dem Buddhismus ausgesagt wird, wie das Empfinden von Verbundenheit und Mitgefühl zusammenkommen kann mit geistiger Klarheit und Weisheit. Zur Wirkung dieses Herz-Geistes gehört auch die Flexibilität, auf ganz verschiedene Situationen angemessen antworten zu können. Aber nicht aus einem verstandesmäßigen Wissen, sondern aus der Verbundenheit mit dem Leben in seiner Gegenwärtigkeit.

Als sie das sagte, war im Raum die Kraft dieser inneren Integration spürbar, in der die Lebensimpulse, die wir mit Spiritualität und Aktivismus angesprochen hatten, auf neue Weise zusammenfanden.

Mich erfüllte in diesem Moment eine tiefe Dankbarkeit, weil ich spürte, wie das Wesen des Dialoges hier „zu sich kam“. Ein etwas merkwürdige Formulierung vielleicht, aber für mich schien sich hier eine Öffnung und Weitung unseres Verstehens zu vollziehen, die für jede der Anwesenden eine existenzielle Kraft entfaltete.

Wir erkannten darin, wie spirituelle Praxis und Aktivismus Aspekte oder Ausdrucksformen einer antwortenden Lebenshaltung sind, in der sich innere Entfaltung oder die Verfeinerung unseres Bewusstseins mit der aktiv-kreativen Gestaltung unserer Welt verbindet. Spirituelle Praxis und Aktivismus sind in diesem Sinne eigentlich Beziehungsformen, die immer schon unser getrenntes Ich-Sein öffnen hin zum Horizont des Du, der Beziehung, der Wechselwirkung, des atmenden Austausches mit der Welt, des Angesprochen-Werdens und Antwortens.

Zum Spüren dieser inneren Integrationskraft kamen wir an diesem Tag durch den Prozess unserer Dialoge in Kleingruppen und in der gesamten Gruppe. In diesem Prozess, in dem wir immer wieder die verschiedenen Sichtweisen in den gemeinsamen Raum einbrachten, konnte sich in diesem Zwischenraum eine Synergie formen, die für jeden von uns nicht nur neue Einsichten brachte, sondern auch Handlungsimpulse. Dieser Prozess hatte für mich auch immer wieder Zeiten der Unsicherheit, wo ich nicht wusste und wissen konnte, wohin sich das Gespräch wenden würde. Aber gerade das ist auch das Beglückende, wenn neue, überraschende Horizonte in den Blick kommen.

In der Abschlussrunde erklärten viele der Teilnehmenden, dass ihnen diese Erfahrung auch Inspiration gegeben hat, die eigene Integrationskraft weiter zu erforschen. Für einige lag das Neuland darin, Möglichkeiten des konkreten aktivistischen Handelns zu finden, für andere lag es in der Vertiefung oder Neugestaltung ihrer inneren Praxis und für einige auch in einem weiteren Erforschen des Dialoges. Für mich zeigte sich hier einmal mehr, wie solche dialogischen Prozesse Labore sein können, um herauszufinden, wie wir in einer gesellschaftlichen Atmosphäre der Polarisierung Begegnungsräume gestalten, in denen Verständigung, Verbundenheit, gemeinsame Kreativität und letztlich auch Sinnfindung möglich ist.

Eine solche aus der Erfahrung und der Beziehung erwachsene Form der Sinnfindung ist einer zunehmend komplexen Welt wie der unseren vonnöten. Für mich war es an diesem Tag augenscheinlich, wie der lebendige Beziehungsraum selbst zu einem Organ der Sinnbildung werden kann. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie, aber auch den vielen anderen Herausforderungen wird klar, dass das denkende Individuum nicht mehr der »Ort« ist, wo solch eine komplexe Dynamik sinngebend erfasst werden kann. Wir können immer nur kleine Teilaspekte des Ganzen erfassen. Das gilt für individuelle Menschen, aber ebenso für einzelne Disziplinen des Denkens, Forschens und Handelns, sei es nun die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, die Wirtschaft, die Psychologie oder die Spiritualität.

Im Individuellen und im Gesellschaftlichen zeigt sich hier die Notwendigkeit, neue existenzielle Orte der Sinngebung zu finden. Sie liegen, so scheint es, im respektvollen, forschenden Dialog zwischen den Denkwegen und auch in der kreativen Begegnung im Zwischenmenschlichen. Sinngebung ist hier nicht mehr die monolithische Anstrengung eines einzelnen Menschen, einer einzelnen Disziplin, sondern ein mehrperspektivisches, vielschichtiges und integrierendes Auffächern des Sinnhorizonts. Sinn und Bedeutung ergibt sich dann immer wieder neu nur im gemeinsamen Gehen in diesen Horizont hinein. Und dieses Gehen selbst ist sinnerfüllt.

 

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Erschienen in evolve Ausgabe 28 / 2020: Der Sinn des Lebens und die Krisen unserer Zeit

Denn das Erhabene berührt

Denn das Erhabene berührt

Im ästhetischen Zustand

Zu Beginn der Moderne, als der rationale, technisierte Bezug zur Welt seinen Siegeszug antrat, gab es auch den Aufbruch eines schöpferischen Denkens, dem die Bewahrung des Schönen ein Herzensanliegen war. Was können wir heute von den Dichtern und Denkern der Klassik, des Idealismus und der Frühromantik über die Bedeutung der Schönheit und des Erhabenen lernen?

Bei der Arbeit an dieser Ausgabe von evolve hat mich ein Satz des Theologen und Dichters John O’Donohue begleitet: »When we walk on the earth with reverence, beauty will decide to trust us.« Übersetzt etwa »Wenn wir mit Ehrfurcht auf der Erde leben, entscheidet sich die Schönheit, uns zu vertrauen.« Mich berührt, wie in dieser Aussage eine Haltung der Ehrfurcht, des Respekts, der Andacht und Ehrerbietung – wie man reverence ins Deutsche übertragen kann – mit dem Wahrnehmen, dem Vertraut-werden mit dem Schönen verbunden wird. Dieser Satz wirkt für mich wie ein Koan und immer wenn ich ihn mir ins Bewusstsein rufe, zum Beispiel beim Gang durch die Natur, spüre ich, wie sich in einem Blick, in dem Ehrfurcht liegt und lebt, die Schönheit einer Landschaft, eines Blattes, eines Baumes, eines Hauses, eines Tieres, eines Menschen zeigt, sich entschließt, sich anzuvertrauen.

Und mir wurde auch klar, wie fremd mir die Worte Ehrfurcht, Respekt, Andacht, Ehrerbietung sind. Sie erklingen wie aus einer geistigen Ferne, einer Vergangenheit, in der noch etwas in unserer Wahrnehmung war, vor dem wir uns verneigen wollen. Eine spürbare Größe des Ganzen, ein Geheimnis, das uns durchweht und unser ganzes Sein umfasst, uns atmen lässt, der Ursprung und Grund unserer Existenz, namenlos, unbeschreibbar. In der Nähe dieser Berührung durch das Mysterium unserer Existenz werden wir still und schauen: Alles Sein zeigt sich uns als ein Geschenk, durchwoben von einer unergründlichen Schönheit.

Solche Erfahrungen haben in unserer gegenwärtigen Kultur kaum Raum. In der westlichen Welt haben wir Gott als eine Chiffre für dieses Geheimnis aus dem Blick gedrängt und die Welt entzaubert. Wir haben sie uns gefügig gemacht, haben sie bewohnt und gestaltet, erobert und instrumentalisiert und vielerorts zerstört. Man könnte sagen, dass der fehlende Respekt vor der Natur als dem Lebendigen, das wir sind und das uns umgibt, nährt und trägt, eine Kernursache unserer ökologischen Krise ist.

Wenn uns aber dieser Respekt fehlt, verbirgt sich vor uns die Schönheit im Lebendigen, in unseren Mitmenschen, in der Welt und in uns selbst. Die Schönheit vertraut uns nicht mehr und wir nehmen sie nicht mehr wahr, sind ihrer nicht mehr würdig, nicht mehr vertrauenswürdig. Wie nach einem verlorenen Paradies suchen wir die Schönheit in Dingen, in intensiven Erfahrungen, in Beziehungen, im Konsum, aber auf diesem Weg können wir das Herz des Schönen nicht berühren.

Die große Entzauberung

Der berechnende, besitznehmende, technisierende, zerteilende Blick auf die Wirklichkeit, der die tiefere Bedeutung des Schönen in Vergessenheit geraten ließ, war eine Folge des Aufbruchs eines rationalen Bewusstseins mit seinem wissenschaftlichen Denken, der individuellen Freiheit und dem Umgestalten der Welt durch Technik. Die Aufklärung wollte den Menschen aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien und war darin auch bewegt vom Respekt vor der Einzigartigkeit des Menschen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ist ein Ausdruck dafür. Die damit beginnende Moderne war ein Projekt der Freiheit und der Ermächtigung des Menschen, die Welt zu gestalten. Aber wie die nächsten Jahrhunderte zeigen sollten, trübte dieser rational gestaltende Blick und Griff nach dem Leben das Gespür für unser Eingebundensein in ein umfassendes Ganzes.

Schon zu Beginn der Moderne um 1800 gab es Menschen, die diese Entwicklung erahnten und darauf hinwiesen, dass wir auf diesem Weg den Quellgrund unseres Menschseins verlieren. Sie waren als Philosophen, Theologen und Dichter der Klassik, des Idealismus oder der Frühromantik ausschlaggebende Gestalter eines rationalen Bewusstseins, äußerten aber zugleich Kritik an möglichen einseitigen oder trennenden Entwicklungen und Entfremdungen. Geprägt waren viele von der anfänglichen Begeisterung für die Französische Revolution und ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und der desillusionierenden Gewalt, die der Revolution folgte.

So für die Grenzen eines rationalen Weltgestaltens sensibilisiert, suchten diese aufklärerischen Geister nach Möglichkeiten, auf dem Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung nicht das erhabene Empfinden einer zugrunde liegenden Verbundenheit mit dem Geheimnis unseres Daseins zu verlieren bzw. dieses neu zu beleben. Ein Ansatzpunkt für die Ausbildung dieses Empfindens war die Wahrnehmung, Wertschätzung und Gestaltung des Schönen.

Im »ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus«, ein Text, der abwechselnd Hegel, Schelling oder Hölderlin zugeschrieben wurde (die in ihrer Studienzeit in Tübingen gemeinsam in einer WG wohnten), heißt es: »Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist und dass Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind.«

Hier wird die Erfahrung und Wahrnehmung des Schönen als Herz des menschlichen Daseins gesehen, das zu verhärten droht unter dem Griff einer empirischen, rationalen Vernunft, die allein auf Daten, Fakten, Oberflächen, Messbarem basiert. Diese Kritik an einer kalten, zerteilenden Rationalität brachte der Frühromantiker Novalis so auf den Punkt: »Die Apologeten des Empirismus waren rastlos beschäftigt, die Natur, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, – jede Spur des Heiligen zu vertilgen und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Wo keine Götter sind, walten Gespenster.«

Ästhetische Erziehung

Unter dem Eindruck dieses Aufbruchs eines rationalen Empirismus nutzten viele Dichter und Denker das Schöne als einen Erfahrungshorizont, der einer anderen Möglichkeit des Menschseins Raum geben wollte. In Weimar folgte Goethe dieser Spur in einem Verständnis der Natur, das dem objektiven Blick der beginnenden Naturwissenschaft ein Forschen entgegensetzte, das aus einem Mitvollziehen der natürlichen Prozesse dem Geheimnis der Entfaltung auch des Schönen in der Natur schöpfte. Sein Freund Schiller formulierte Grundsätze einer ästhetischen Erziehung und sah die freie Entfaltung in Selbstbestimmung als einen Ausdruck des Schönen im Menschlichen. Die Erfahrung des Schönen, ein freier „ästhetischer Zustand“, war für ihn ein Bewusstseinsraum, in dem Denken und Empfinden, Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Natur zu einer Harmonie kommen können: In diesem Zustand »fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen, und unsere Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren. Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.« So ist es möglich, die Kräfte im menschlichen Wesen frei zu entfalten und zu integrieren, denn »mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden«.

Schiller inspirierte auch die Idealisten in der Tübinger WG, die, wie schon erwähnt, alle menschlichen Aktivitäten auf eine Integration im Schönen zuführten. Hegel beschäftigte sich denkend mit der Bedeutung des Schönen, sah aber auch die Grenzen eines solchen Unterfangens, denn es sei »für den Verstand nicht möglich, die Schönheit zu erfassen, weil der Verstand, statt zu jener Einheit durchzudringen, stets deren Unterschiede nur in selbständiger Trennung festhält«. In seinen ästhetischen Werken gab er der Kunst die vordringliche Aufgabe, uns zum Schönen zu erwecken, ähnlich wie Schiller sah er die Kunst als »Mittelglied zwischen dem reinen Gedanken, der übersinnlichen Welt, und dem Unmittelbaren, der gegenwärtigen Empfindung«, also zwischen denkendem Erkennen und sinnlichem Wahrnehmen. Hölderlin ging den künstlerisch dichtenden Weg und in gewissem Sinne kreiste sein gesamtes ringendes, ahnendes und auch tragisches Werk um ein Besingen des Schönen als Gegenwart des Geistigen in der Welt:  „Daß unsre Tage wieder, wie Blumen, sind,/Wo, ausgeteilt im Wechsel, ihr Ebenbild/Des Himmels stille Sonne sieht und/Froh in den Frohen das Licht sich kennet,/Daß liebender, im Bunde mit Sterblichen/Das Element dann lebet und dann erst reich,/Bei frommer Kinder Dank, der Erde/Kraft, die unendliche, sich entfaltet,/Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt/Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist/Im Menschenwort, am schönen Tage/Wieder mit Namen, wie einst, sich nennet.“

Zur gleichen Zeit formulierte der Theologe Friedrich Schleiermacher die Erfahrung des Schönen in der Innerlichkeit des Menschen als den Ausgangspunkt für eine individuell geprägte Religion, die nicht nur aus dem Glauben schöpft, sondern dem Erleben des Göttlichen im Menschen und in der Welt. Er schreibt: »In wessen Inneren nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt, die Schönheit der Welt aufzusaugen, wer nicht hier und da fühlt, dass ein göttlicher Geist ihn treibt und dass er aus heiliger Eingebung redet und handelt, der hat keine Religion.«

Diese Neuformulierung des Religiösen war eine Inspiration für die Frühromantiker in Jena, rund um Novalis und Friedrich Schlegel, die so etwas wie eine poetische Religion des Schönen entwarfen, der es nicht nur darum ging, die Wahrnehmung des Schönen in Leben, Natur und Kunst wachzuhalten, sondern die die Aufgabe des Menschen darin sah, in kreativer Freiheit an der Entfaltung des Schönen teilzuhaben. Also so in der Welt zu sein, dass sie schöner wird – und damit auch wahrer und gütiger. Denn sowohl unsere Fähigkeiten des Erkennens als auch unseres ethischen Handelns waren für sie Ausdrucksformen eines ästhetischen Bewusstseins. In der Figur des Poeten, des Künstlers sahen sie den Menschen als Mitdichtenden und Mitschaffenden am großen Epos der Schöpfung.

In dieser existenziellen Neuausrichtung des Menschseins sahen sie Wissenschaft, Kunst, Politik nicht als Gegensätze, sondern forschten nach einer Möglichkeit, zu einer Integration zu finden. Und der Quellraum dieses verbindendenden Gewebes war die Wahrnehmung, Wertschätzung und Schaffung des Schönen in Natur, Mensch und Geschichte. Sie waren einerseits erfüllt vom Geist der Aufklärung im Sinne der Selbstbefreiung des Menschen aus Dogmen des Glaubens. Sie suchten aber gleichzeitig nach Wegen, im so zu sich gekommenen Menschen ein Organ für das Heilige, das Schöne, das Erhabene auszubilden. Für sie war ein solches poetisches Bewusstsein die Voraussetzung, um in allen anderen Formen des Erkennens und Schöpfens dem Grund der Existenz verbunden zu bleiben.

Es ist schon erstaunlich, welch eine Öffnung zum Schönen sich in der Klassik, dem Idealismus und der Frühromantik nahezu zeitgleich in Deutschland in einer Explosion von Kreativität ereignete. Die wechselseitige Inspiration umfasste dabei auch Konflikte und Meinungsverschiedenheiten. Aber in einem fanden diese Bewegungen eine Resonanz: sie wollten im Strom eines besitzergreifenden, zerteilenden Bewusstseins die Ganzheit der Wirklichkeit bewahren. Und damit auch ein Empfinden der Ehrfurcht, eine Wahrnehmung des Erhabenen, des Schönen in Geschichte, Kunst, Natur, Wissenshaft und menschlicher Entfaltung.

Missbrauch des Schönen

Trotz bzw. mit dieser ästhetischen Kritik trat die wissenschaftlich-rationale Moderne ihren Siegeszug an. Aber immer wieder gab es Menschen und Bewegungen, die sich auf diese Impulse aus dem Schönen bezogen, um auf eigene Weise die Integration einer ästhetischen Form der Erkenntnis und Wahrnehmung zu befördern, wie beispielsweise die Anthroposophie Rudolf Steiners, Dichter wie Hermann Hesse, Philosophen wie Martin Heidegger oder Künstler wie Joseph Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff.

Tragisch für unsere deutsche Geschichte ist, dass die Kraft des Schönen, wie sie so fulminant denkerisch und dichtend Ausdruck gefunden hatte, vom Nationalsozialismus missbraucht wurde, indem man ästhetische Erfahrungen nutzte, um die faschistische Ideologie zu vermitteln. Geschickt griffen die Nazis die naturmystischen Elemente des poetischen Denkens auf, das sich häufig auch in hymnischen Gesängen an konkrete Orte richtete, um so eine Ideologie von Blut und Boden zu begründen. Sie nutzten auch die emphatische Betonung der Gestaltungskraft des Menschen, um sie in die Verherrlichung der »arischen Rasse« zu übertragen. Und in den Nazi-Aufmärschen mit Fackeln und Lichtbildern, den Filmen Leni Riefenstahls oder der Instrumentalisierung der Musik Richard Wagners erweckten sie in den Menschen ein Empfinden des Erhabenen, um es auf die eigene Ideologie von der »heiligen Weltmission« des deutschen Volkes zu übertragen. Nicht zuletzt griff die Nazi-Ideologie auch die poetische Vision einer Menschheit auf, in der das Schöne Entfaltungsraum findet, und inszenierten sich selbst als die Erfüllenden dieser Vision. Die ganze schreckliche Idee einer reinen Rasse hatte nicht zuletzt auch mit Kriterien eines »schönen Menschen« zu tun.

Wiederkehr der Ehrfurcht

Bei alldem ist es kein Wunder, dass bis heute ein berechtigtes Zögern besteht, die Relevanz des Schönen weiterzudenken als im sicheren, beherrschbaren Hafen von Kunst, Design oder Konsum. Solche missbräuchlichen, machtgetriebenen Bezüge auf das Schöne haben innere Stimmungen wie Ehrfurcht, Respekt, Andacht, Ehrerbietung mit einem gewissen Bann belegt. Die Postmoderne hat mit der Relativierung übergreifender Welterklärungen und der berechtigten Kritik von Machtsystemen und Formen der Unterdrückung die Skepsis gegenüber einer Relevanz des Schönen jenseits von Mode und individuellem Geschmack noch befördert.

Aber dieser Verlust unserer Beziehung zum Schönen und Erhabenen, der unsere Kultur kennzeichnet, fordert einen Preis, nicht nur in einer inneren Verarmung, sondern auch in der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Im Kontext der Klimakrise kommt ein Empfinden des Respekts vor der Kraft der Natur vor allem im Zusammenhang mit den möglichen katastrophalen Folgen in unser Bewusstsein. Die Tiefenökologie und andere ökologische Denktraditionen wie die Albert Schweitzers sehen in einer empfundenen »Ehrfurcht vor dem Leben« den Bewusstseinswandel, der es uns erst ermöglichen wird, auf den Klimawandel zu antworten. Und die tiefere Inspiration für diesen Wandel kommt vielleicht eher aus dem erwachenden Miterleben der Schönheit der Schöpfung als aus moralischen Appellen.

Deshalb können die Visionäre des Schönen, die am Beginn der Moderne unseren Bezug zum Erhabenen bewahren wollten, auch zu Ratgebern für unsere Zukunft werden. Gleichzeitig haben wir seitdem viel über den Missbrauch der Ehrfurcht durch totalitäre Ideologien oder die Verflachung des Schönen durch schwärmerische Weltflucht gelernt. Aber im kritischen Bewusstsein für diese möglichen Irrwege ist der poetische Rückbezug auf das Schöne als die Erlebensqualität unseres spürenden, schöpferischen Verbundenseins mit und in einem lebendigen Kosmos heute hochaktuell und vielleicht sogar überlebensnotwendig.

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Erschienen in evolve Ausgabe 27 / 2020: Schönheit in einer zerrissenen Welt

Räume, in denen wir werden können

Räume, in denen wir werden können

Reife in Organisationen

Was könnte Reifung in Organisationen bedeuten? In der Bewegung der New Work wird diese Frage seit Jahrzehnten gelebt und hat zu spannenden Experimenten mit neuen Formen der Zusammenarbeit geführt. Aber wie können Führung, Organisationsstruktur, Kultur, Werte und deren Zusammenspiel neu verstanden und gelebt werden? Und was können wir daraus über ein reifes Miteinander lernen?

Wir leben in einer Welt, die unsere Reife herausfordert. Mit den Wirkungen des Coronavirus und der darauffolgenden Maßnahmen in unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben hat sich das noch drastischer gezeigt. Diese Herausforderungen betreffen uns jeweils als Menschen in unseren persönlichen Bezügen wie Freundeskreis und Familie, aber auch im Umfeld unserer Arbeit. Und sie stellen auch die Organisationen, in denen unsere Arbeit ihren Ausdruck findet, vor neue Aufgaben. Welche das im Angesicht dieser aktuellen Krise sein werden, zeichnet sich erst langsam ab und wird auch von den zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhersagbaren Ereignissen der nächsten Wochen und Monate abhängen. Aber es könnte doch sein, dass z. B. die nun notwendige weitverbreitete Arbeit in Home-Offices mit technologischer Unterstützung über Videodienste auch die Strukturierung der Arbeit verändern wird.

Integrale Organisationen

Aber auch vor dieser aktuellen Krise hat die Frage, wie sich Organisationen einer schnelllebigen, komplexen, digital vernetzten, mehrdeutigen Welt anpassen können, viele Forscher und Führungskräfte beschäftigt. Aus der Unfähigkeit bisheriger Organisationsmodelle, auf diese neue Situation wirksam und schnell genug zu reagieren, entwickelten sich alternative Ideen, die man allgemein als New Work zusammenfassen kann. Hier geht es meist um Formen der Zusammenarbeit und Strukturierung von Organisationen, die starre Hierarchien aufbrechen wollen. Die Selbstführung und Ermächtigung der Mitarbeitenden in kleinen Teams wird zur neuen Organisationsform, die flexibler ist, schneller reagieren kann und die Kreativität der Mitarbeitenden unterstützt. Oft besteht auch mehr Raum für die Entfaltung des Potenzials der Mitarbeitenden. Sie werden nicht nur als Träger einer Funktion gesehen, sondern als Menschen, die sich in einer Kultur der Wertschätzung einbringen können. Eine psychologische Sicherheit ermöglicht, dass Menschen nicht fürchten müssen, Fehler zu machen oder für unausgegorene Ideen bestraft zu werden. Die Menschen werden auch in ihren psychologischen oder spirituellen Bedürfnissen ernst genommen, hier hält dann oftmals auch Meditation Einzug in Unternehmen. Und ein drittes Element solch neuer Organisationen ist der Bezug zu einem Entfaltungssinn des Unternehmens, das hier nicht als Maschine oder Familie verstanden wird, sondern als ein lebendiger Organismus, der eine eigene Lebenskraft und einen eigenen Sinn hat, die sich in der Welt verwirklichen möchten. Die Führenden und alle Mitarbeitenden können diesem Sinn nachspüren, darauf hören, ihm dienen, ihn gestalten.

Den Begriff New Work prägte Frithjof Bergmann für ein alternatives Arbeitsmodell, in dem anstelle der Lohnarbeit die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Kreativität in den Mittelpunkt rückt, was auf den Kernwerten von Freiheit, Selbstbestimmtheit und Gemeinschaft beruht. Ein weiterer prägender Ansatz dieser Bewegung ist die Lernende Organisation von Peter Senge, die anpassungsfähig ist und auf äußere und innere Reize reagieren kann. Heute wird mit diesen Qualitäten in der Start-up-Welt, im agilen Management oder der Holakratie experimentiert. In den letzten Jahren trug das Buch »Reinventing Organizations« von Frederic Laloux maßgeblich zur Formulierung dieser Vision neuer Organisationen bei.

Als ich das Buch vor fünf Jahren ins Deutsche übersetzte, war nicht abzusehen, welche Popularität es finden würde. Darin wendet Laloux die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Modelle wie Ken Wilbers integrale Theorie oder Spiral Dynamics auf die Entwicklung von Organisationsformen an und postuliert eine neue Ebene der Reife von Organisationen, die er als integrale evolutionäre Organisationen bezeichnet, die durch die zuvor skizzierten Merkmale gekennzeichnet sind: Selbstführung, Ganzheit und evolutionäre Sinnausrichtung. Die Stärke dieses Buches ist es, dass Laloux zwölf Beispiele für solch neue Organisationen ausgiebig recherchiert hat und ihre Strukturen und Prozesse eingehend beschreibt und ihre Ähnlichkeiten darlegt.

Als ich das Buch übersetzte, war ich begeistert, wie hier ein evolutionärer Entwicklungsgedanke Eingang findet in die Vision und Praxis neuer Organisationsformen. Aber vor allem inspirierte mich das Menschenbild, das sich durch das Buch und die beschriebenen Beispiele zog. Für mich habe ich es so zusammengefasst: vom Menschen als Problem zum Menschen als Möglichkeit. Viele bisherige Organisationsformen versuchen im Grunde, den Menschen zu kontrollieren und durch Anreize und Sanktionen dazu anzuhalten, gute Arbeit zu leisten. Diese integralen Organisationen setzen aber in der einen oder anderen Weise darauf, das kreative Potenzial des Menschen zu heben. Dabei kommt es gelegen, dass Innovation, Kreativität, Erfindungsreichtum in der heutigen Wirtschaft die Dynamiken sind, die auch über ökonomischen Erfolg entscheiden. So erstaunt es nicht, dass in einem weiteren übersetzen Buch über »Exponentielle Organisationen« – also solche Organisationen, die vor allem durch Künstliche Intelligenz, Algorithmen und Datennutzung in kurzer Zeit eine Geschäftsidee exponentiell verbreiten und wirtschaftlich nutzen können –, zum Teil ähnliche Merkmale fortschrittlicher Organisationen genannt werden, vor allem wenn es um Selbstorganisation der Mitarbeitenden geht, um die kreativen Potenziale zu unterstützen.

Leben, Bewusstsein, Werte

In den letzten Jahren haben sich inspiriert durch diese Modelle und Beispiele viele Unternehmer auf den Weg gemacht, ihre Organisationen in dieser Richtung umzugestalten, ihre Organisationen »reifer zu machen«. Aber wie auch in der individuellen Entwicklung: Die Eigenschaften oder Werte integraler Organisationen zu beschreiben und zu kartographieren ist etwas anderes, als sie in die Wirklichkeit umzusetzen.

Joachim Galuska und die Heiligenfeld Kliniken  , die er mitgegründet und geleitet hat, sind eines der Vorzeigebeispiele integraler evolutionärer Organisationen, die Laloux anführt. Im Buch wird für die Entwicklungsstufen eine in integralen Modellen übliche Farbkodierung verwendet, in der diese neue Stufe die Farbe Petrol oder (engl.) Teal erhielt. Aus seiner Erfahrung mit der komplexen Unternehmensentwicklung erklärt Galuska pointiert: »Teal is not real, it is an ideal.« Er führt aus, dass es in Organisationen, die sich über die Start-up-Phase mit starker Vision, kleinen Teams, wenigen Regeln, viel Kommunikation hinausentwickeln, durchaus die Notwendigkeit gibt, Hierarchien zu berücksichtigen, weil die Mitarbeitenden unterschiedliche Ebenen von Kompetenz und Reife besitzen. »Jeder muss am für ihn oder sie angemessenen Ort sein«, erklärt er.

Er ist der Überzeugung, dass sich Unternehmen nicht notwendigerweise auf eine integrale Ebene hin entwickeln müssen. Wie jedes Lebewesen haben sie das Recht, sich auf ganz eigene Weise zu entfalten. Es sind lebendige Organismen, denn sie bestehen aus lebendigen Menschen. Deshalb sollten Organisationen herausfinden, was es heißt, lebendig zu sein, denn dann sind sie offen für ihre eigene Entwicklung. Für Galuska ist der Leitstern unternehmerischen Handelns ein offenes Bewusstsein – offen für Innovation, Ko-Kreation und Evolution –, das Modelle und idealtypische Entwicklungsverläufe transzendiert. »Das Leben übersteigt unser Verstehen, wir werden offen für das Geheimnis des Lebens.« In diesem Sinne beschreibt er eine reife Organisation so: »Eine reife Organisation wird sich zunehmend ihrer innersten Werte und ihres evolutionären Auftrags bewusst und gestaltet bewusst und aktiv die Gesellschaft. Sie ›blüht‹ und strahlt damit eine Inspiration und Schönheit aus und weiß, dass sie in ihrem Innersten das Leben trägt.« Leben, Bewusstsein, Werte – diese drei Aspekte kennzeichnen für Galuska eine reife Organisation.

Räume schaffen

Auch Alexander Martinez hat sich, inspiriert durch neue Visionen der Organisationskultur auf den Weg begeben, sein mittelständisches High-Tech-Unternehmen «neu zu erfinden«. Er erklärte mir, dass er lange davon überzeugt war, dass ein Unternehmen reif ist, wenn es eine «führungslose« Selbstorganisation umsetzen kann. Er stieß mit diesem Leitbild aber zunehmend auf innere und äußere Konflikte, die zum Beispiel daraus entstanden, dass er sich aus seiner Führung, der Präsenz im Unternehmen zurückziehen wollte und Führung geradezu verweigerte bzw. als »schlecht« abstempelte und zum Teil auch bei Mitarbeitenden im Team bekämpfte. Zunehmend erkannte er, dass diese Einstellung sowohl im Innen als auch im Außen zu einer Trennung führte und eine emergente Selbstorganisation vereitelte, das Unternehmen also so nicht wirklich reif war.

Heute versteht er ein reifes Unternehmen so, dass es gelingt, »in Liebe Räume zu schaffen für das, was ist: für Mitarbeitende, die einfach nur ihren Job machen wollen. Für Mitarbeitende, die sich nach Führung und Halt sehnen. Für Menschen, die als Führungskraft etwas bewegen wollen – und dabei auch manchmal hektisch werden und über das Ziel hinausschießen. Gleichzeitig gelingt es einem reifen Unternehmen, in Liebe Räume zu schaffen, für das, was werden will.« Solche Räume bieten dann die Möglichkeit, dass sich das Leben, wie es sich in diesem jeweiligen Unternehmen als Organismus entfalten möchte, zeigen kann. Es sind »geschützte, leise Räume, in denen die Mitarbeitenden in Resonanz mit sich und mit dem höheren Sinn des Unternehmens treten können. Räume, in denen Verletzlichkeit und Angst gehalten werden, um aus dieser inneren Haltung heraus das Neue zu ersinnen«, erklärt Alexander Martinez.

Hier besteht die Aufgabe der Geschäftsführer und Führenden darin, solche Räume zu halten, zu hüten, zu ermöglichen. Ein eindrückliches Beispiel dieser Qualität ist für mich Fritz Bläuel, der auf dem Peloponnes mit seiner Familie die Firma Mani Bläuel aufbaute, die biologisch angebautes Olivenöl und ähnliche Erzeugnisse produziert und vertreibt. Auch er ist zutiefst inspiriert von der Vision einer integralen Organisation, weiß aber auch, dass das Leben sich in jeder Organisation auf eigene Weise entfaltet, je nach den jeweiligen Bedingungen. In vielen Gesprächen erklärte er mir, wie er beim Aufbau seines Unternehmens versuchte, die Seinsweise der griechischen Landbevölkerung mit einzubeziehen. Er wollte vermitteln, dass das Unternehmen die Werte des familiären Zusammenhalts praktiziert, die für diese Menschen zentral sind. Indem die Menschen im Laufe der Zeit Vertrauen zu dieser Haltung fassten, stieg die Loyalität und der Einsatz der Mitarbeitenden über jenes Maß hinaus, das man durch Kontrolle oder Anreize hätte erreichen können. Gleichzeitig bot er den Mitarbeitenden auch Räume, selbst Entscheidungen zu treffen oder öffnete Wege der Weiterbildung für solche, die mehr Mitgestaltung wollten. Aus diesen Erfahrungen erklärt er: »Reif finde ich eine Organisation, die imstande ist, ihren Arbeits- und Entscheidungsmodus an die Bedürfnisse einer gegebenen Situation anzupassen. Mit Modus meine ich, wie die Organisation strukturiert ist und wie flexibel sie ist. Ich denke, dass Flexibilität tatsächlich das Zeichen von Reife ist. Man könnte es auch als Vertrauen beschreiben, denn nur wenn Vertrauen vorhanden ist, wird auch Flexibilität möglich.« Flexibilität bedeutet für ihn, dass sich eine Organisation bei wechselnden Anforderungen oder in Gefahrenlagen z. B. von einer fast hierarchielosen Organisationsform mit einer gewissen Leichtigkeit so wandeln kann, dass eine Zentralfigur die Richtung vorgibt. Ebenso schnell kann wieder das Kollektiv weite Teile der Verantwortung übernehmen, sobald es wieder möglich bzw. die optimalere Form für alle Beteiligten ist.

Wenn alle reifen

Für Unternehmer, die sich auf den Weg der Reifung ihrer Organisationen begeben, sind Werte eine zentrale Orientierung. Prozesse der Entwicklung oder Reifung bedeuten auch, dass sich diese Werte entfalten und dass es in jeder Organisation Menschen mit unterschiedlichen Werten geben wird. Deshalb scheint es wichtig, Werte zu formulieren, die für Menschen unterschiedlicher Entwicklungsstufen einen Sinn ergeben. Dieser Sinn muss aber immer wieder dialogisch gefunden und erschlossen werden. Joachim Galuska hat dazu beispielsweise in seinem Unternehmen ausführliche Dialogprozesse für alle Mitarbeitenden eingeführt, die diese Werte, von ihm Essenzen genannt, immer wieder neu erforschen. So können Verschiedenheit und eine gemeinsame verbindende Sinnorientierung in eine kreative Spannung kommen, die Resilienz und Innovationskraft stärkt.

Der Managementberater Richard Barrett berücksichtigt diese Dynamik in seinem Modell werte-orientierter Organisationsentwicklung. In einer reifen Organisation ist es seiner Ansicht so, dass die Kernwerte der Leitung, der Belegschaft und der Organisation weitgehend übereinstimmen, was er als »niedrige kulturelle Entropie« bezeichnet. Gleichzeitig ist es ein Zeichen von Reife, wenn die Werte aller Bewusstseinsstufen vertreten und aktiv sind, was er »Full Spectrum Consciousness« nennt. Für solch eine dynamische Reife, in der verbindende Kernwerte und verschiedene Werte und Bedürfnisse der Menschen kombiniert werden, ist es wichtig, »sich über die erkannten Werte im Dialog auszutauschen. Das fördert die Reifung der Organisation, stärkt das Vertrauen und ermöglicht so die Flexibilität«, erklärt Fritz Bläuel.

Organisationen, die Reifung als Potenzial in ihren Sinn und ihre Arbeit integriert haben, können auch endlich das volle Potenzial der Mitarbeitenden erschließen. Der Entwicklungsforscher Robert Kegan und die Managementberaterin Lisa Lahey nennen diese Organisationen »Deliberately Developmental Organizations«. Solche Organisationen bieten einen sicheren, geschützten Rahmen und sind gleichzeitig so fordernd, dass die Beschäftigten sich nicht verstecken müssen und können. Sie sind der Ansicht, dass die Mitarbeitenden oft enorme Ressourcen darauf verwenden, sich zu schützen, gut dazustehen, Fehler zu vertuschen u. ä. Ein großer Energieverlust, der zur Entwicklung des Unternehmens genutzt werden kann, wenn die Kultur einer Organisation für alle einen sicheren, unterstützenden und angemessen fordernden Raum für Entwicklung eröffnet. Wichtig ist auch hier, dass dieser Kernwert der persönlichen Reife für jeden Mitarbeitenden etwas anderes bedeuten wird. Solch eine Kultur bezeichnen sie als »Everyone Culture«, eine Kultur für jeden. Hier wird die Entfaltung des kreativen Potenzials der Mitarbeitenden und der Organisation als Ganzes zur wichtigsten Orientierung. Susanne Leithoff vom Institut für gesunde Organisationsentwicklung beschreibt diesen Imperativ so: »Eine reife Organisation verzichtet konsequent darauf, gesunde Entwicklungen zu behindern. Das gelingt, wenn individuell wie kollektiv verbindlich gilt: ›Nichts was wir tun ist es wert, dass es unsere Potenzialität und damit unsere Möglichkeiten zur bestmöglichen Wertschöpfung schwächt.‹« Diese Potenzialität ist die schöpferische Möglichkeit des Lebendigen, wie sie sich in den Menschen und der Organisation, die sie formen, ausdrücken will.

Die Vision reifer Organisationen wirft für mich auch ein neues Licht auf unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen, bildet doch die Gesellschaft eine Art Meta-Organisation, in der wir alle leben und gestalten. Die möglichen Kernaspekte reifer Organisationen könnten uns hier Impulse zu einem reifen Miteinander geben: dialogisch Raum für Gemeinsamkeit und Verschiedenheit schaffen, Menschen wertschätzend, bestärkend und ko-kreativ beteiligen und in ihrer eigenen Reifung unterstützen sowie das Leben in seiner Unverfügbarkeit und schöpferischen Emergenz spüren und ermöglichen.

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Erschienen in evolve Ausgabe 26 / 2020: Menschliche Reife – Auf dem Weg zu einem neuen Miteinander

Die Zeit drängt … müssen wir langsamer werden?

Die Zeit drängt … müssen wir langsamer werden?

Kann Stille eine Antwort auf die Klimakrise sein? Ausgehend von einer Retreat-Erfahrung erforscht Mike Kauschke, welche Kraftquellen in einem meditativen Bewusstsein liegen und was dies für den kulturellen Umgang mit unseren gegenwärtigen Herausforderungen bedeuten kann.

 

Vor einigen Tagen bin ich aus einem Schweige-Retreat zum Jahreswechsel im Allgäu zurückgekehrt – einige Tage des tiefen Eintauchens in die Stille und die innere Offenheit und Weite der Meditation. Stille Meditation, wie ich sie seit vielen Jahren übe und immer wieder auch in längeren Meditationszeiten vertiefe. Aber dieses Mal war etwas anders. Das lag auch an der Arbeit an dieser Ausgabe und der intensiveren Beschäftigung mit dem Klimawandel und dessen potenziellen und immer wahrscheinlicher werdenden Folgen. Kurz gesagt: Kann man in einer Zeit, in der sich möglicherweise die Zukunft unseres Menschseins auf diesem Planeten entscheidet, in die Stille gehen? Oder ist es gerade in einer solchen Zeit das Dringlichste, eine tiefere Verwurzelung im Leben zu finden, wie sie Meditation eröffnen kann? Oder kann uns gar der Prozess des Loslassens und Gewahrwerdens eines offenen Bewusstseins, wie ihn die Meditation ermöglicht, eine Antwort darauf geben, wie wir mit dieser Situation umgehen können?

Tiefenanpassung

Wir befinden uns in einer Situation, die von immer mehr Wissenschaftlern als das mögliche Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, bezeichnet wird. Jem Bendell ist eine kontroverse Stimme, die diese Möglichkeit im wahrsten Sinne ausgemalt hat. Der Professor für Führungswissenschaften, der sich seit Jahren für Nachhaltigkeit einsetzt, erregte Aufsehen mit einem Paper mit dem Titel »Deep Adaptation – A Map für Navigating the Climate Tragedy«. Es war als akademischer Text für Kollegen und Studierende gedacht und verbreitete sich viral im Internet, mit Übersetzungen in vielen Sprachen und Deep-Adaptation- Foren in vielen Ländern. Mittlerweile wurde Bendell auch von der Labour Party und dem Europaparlament eingeladen, um über sein Paper zu sprechen. Darin wagt er, die Frage zu stellen, was es bedeuten könnte, wenn es vielleicht schon zu spät ist, die katastrophalen Folgen des Klimawandels wirkungsvoll abzuwenden. Dies fundiert er mit Prognosen der aktuellen Klimawissenschaft und den daraus abgeleiteten Folgen. Nicht alle einschlägigen Wissenschaftler unterstützen seine Thesen, weil er von Wechselwirkungen ausgeht, die manche zu hypothetisch bewerten. Als Antwort auf diese Szenarien spricht Bendell von einer Deep Adaptation, einer Tiefenanpassung. Denn angesichts eines möglichen oder gar wahrscheinlichen Zusammenbruchs unserer Zivilisation werden oberflächliche, technologische Lösungen innerhalb unseres bestehenden Systems der Wachstumsökonomie nicht ausreichen. Diese Tiefenanpassung deutet auf eine grundlegende Transformation unseres Bewusstseins und Menschseins hin.

In einem Vortrag vor Psychologen über mögliche psychologische Antworten auf Erfahrungen von Verzweiflung, Trauer oder Depression im Zusammenhang mit dem Klimawandel erzählte Bendell von einem Besuch bei seinem krebskranken Vater. Er sprach über eine Erfahrung, die viele von uns kennen: In dieser Situation, wahrscheinlich kurz vor dem Tod des Vaters, hatten sie die tiefste, wertschätzende Begegnung ihres Lebens. So viel Unwichtiges fiel zur Seite und das Wesentliche kam in die Mitte der Beziehung: die Liebe und Fürsorge füreinander. Diese Erfahrung habe ich viele Male in meiner Arbeit im Hospiz gemacht: In der Nähe des Todes bricht etwas in unserem Menschsein auf, wir fragen nach dem letztendlichen Sinn, nach dem, was uns miteinander und mit dem Leben und seiner namenlosen Quelle verbindet. Oft ist dies ein Moment der Transformation von Menschen, Beziehungen und Familien.

Vielleicht, so setzt Jem Bendell die Analogie, befinden wir uns als Menschheit heute in solch einer Situation. Wir sind mit der Möglichkeit konfrontiert, dass wir diese Krise nicht überleben werden oder dass sie zumindest schwere Verluste bringen wird. Tiefenanpassung bedeutet also, uns gemeinsam auf das Wesentliche zu besinnen und eine menschliche, soziale, gesellschaftliche, psychologische und spirituelle Antwort zu finden, die dieser Todesnähe gerecht wird.

Wie wollen wir leben?

Jem Bendell wurde für sein Paper und die Wirkung, die es auf viele Menschen hat, auch vielfach kritisiert. Denn wenn sowieso alles zu spät und vergebens ist, was motiviert uns dann noch, aktiv zu sein und für einen Wandel einzutreten? Aber Bendell sieht oftmals auch eine ganz andere Wirkung: »Menschen finden einen neuen Mut, ihre Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben und sich mit der tiefsten Vision ihres Herzens zu verbinden. Wie wollen sie leben und warum leben sie nicht jetzt so, statt es zu verschieben?«

Für Bendell selbst war die Konfrontation mit der Möglichkeit der Vernichtung ein Impuls, sich für die meditative Erforschung des Bewusstseins zu öffnen. Er entdeckte für sich, dass die Erfahrung und Hingabe an ein »Quellenbewusstsein«, das allen Erscheinungen vorrausgeht, einen Urgrund des Seins, uns einen anderen existenziellen Seinsort eröffnen kann. Hier finden wir eine bedingungslose Freiheit und Verbundenheit, die dem Wesen dieses Bewusstseins eigen sind, aus dem wir Moment für Moment erwachsen. Für Bendell liegt hier die Quelle eines Gleichmuts, der uns auch angesichts der existenziellen Bedrohung nicht in Panik oder übereilte Reaktionen ausbrechen lässt.

Dass übereilte Antworten oft aus der gleichen Denkweise kommen, die der ökologischen Krise zugrunde liegt, wiederholt Charles Eisenstein immer wieder. In seinem Buch »Klima: Eine neue Perspektive« entwirft auch er, so könnte man sagen, einen Ansatz der Tiefenanpassung. Für ihn wird im Zusammenhang mit dem Klimawandel aber oftmals die falsche Frage gestellt: »Wie können wir überleben?« Dabei ist für ihn die viel wichtigere Frage: »Wie wollen wir als Menschen leben?« Oder besser: »Wie wollen wir als Menschen zusammenleben?« Miteinander, mit unseren geschwisterlichen nicht-menschlichen Lebewesen und dem umfassenden Organismus Erde in einem lebendigen Kosmos. Dabei geht Eisenstein davon aus, dass unser innerstes Herz die Welt kennt, nach der wir uns sehnen, dass in jedem Menschen die Saat der Verbundenheit mit dem Leben liegt – weil wir das Leben sind, weil wir nie etwas anderes sein konnten. Erst diese Erkenntnis öffnet uns den Weg aus dem Suchen nach den Schuldigen inklusive der Grabenkämpfe und stellt die Frage nach dem richtigen Sein und Handeln aus der Gewissheit, dass jeder Mensch im Grunde ein Liebender der Erde ist – weil wir Erde sind.

Loslassen des Alten

Sowohl Eisenstein als auch die Deep-Adaptation-Bewegung, die sich mittlerweile weltweit gebildet hat, sehen einen wichtigen Aspekt der Antwort auf die Klimakrise darin, Begegnungsräume zu ermöglichen, in denen alle damit verbundenen Erfahrungen, Emotionen, Erkenntnisse Ausdruck finden und gemeinsam wertschätzend gehalten werden. In einer Atmosphäre, die getragen ist von einer verbundenen Verwurzelung in unserem gemeinsamen Sein. Denn was uns in der Leugnung hält, ist oft die Unfähigkeit, die Realität dessen, was gerade geschieht, wirklich an uns heranzulassen.

Das habe ich selbst erfahren, wenn ich die Nachrichten über schmelzende Eismassen, Feuer in Australien, tauende Permafrostböden sehe und daneben die Tatenlosigkeit der politischen Verantwortungsträger. Auch habe ich gemerkt, wie mir Stimmen Entlastung brachten, die sagten, es sei ja alles nicht so schlimm und es gebe auch andere Ursachen, oder die jungen Menschen sollten statt zu demonstrieren Ingenieure werden und an der technologischen Lösung arbeiten, oder dass es sich um Fake News machthungriger Regierungen handele. Es ist nicht leicht, sich in dieser Komplexität der Einzelheiten dem Szenario zu stellen, das von den meisten kompetenten Wissenschaftlern aufgezeigt wird. Dafür braucht es oftmals ein offenes Beziehungsfeld mit Menschen, in dem wir uns gemeinsam berühren und erschüttern lassen können.

Die Attraktivität der Leugnung ist vielleicht eine Parallele zu unserem Umgang mit dem Tod. In den von Elisabeth Kübler-Ross formulierten Sterbephasen kommt zuerst die Leugnung, dann folgen Wut, darauf Verhandeln, Depression und schließlich Annahme oder Akzeptanz. Es könnte eine der Hauptaufgaben einer zukünftigen Bewusstseinskultur sein, in diesen Phasen wirksame Orientierung zu bieten. Und diese Phasen sind nicht nur linear zu verstehen, sondern sind ein Prozess, der sich bei jedem anders zeigt.

In Analogie zur Phase der Akzeptanz spricht Jem Bendell von »Hoffnung jenseits der Hoffnung«. Dies ist eine Hoffnung, die den Abgrund der Verzweiflung durchschritten hat und sich nicht auf die erwünschte Zukunft richtet, sondern auf die schöpferische Kraft des Lebens selbst. Auf unser Sein als Menschen in diesem Augenblick. Und dem, was jeder von uns in seinem Leben, an seinem Ort, mit den Menschen um sich tun kann. Tun umfasst hier sowohl das Ändern des eigenen Lebensstils, eine achtsame Praxis der Verbundenheit, bewusste Begegnungsräume mit anderen Menschen oder Aktivismus und Einflussnahme auf politische Entscheidungen – und vieles mehr. Dieses Tun kommt aus einer Erfahrung der Sinnhaftigkeit und Gutheit des Lebens, die sich nicht an bestimmte Ergebnisse hängt, sondern dem Leben als solches dankbar und verantwortlich Ausdruck gibt.

Hier öffnet sich ein Gleichnis zum Prozess meditativer Versenkung, in dem wir aller Hoffnungen, Wünsche und Identitäten beraubt werden und in die Leere gestellt sind, geworfen werden, die ein dunkler Abgrund des Nichts sein kann. Erst im Aushalten und Hindurchgehen öffnet sich die Fülle des Lebens als der oder die, die wir sind, als das Leben selbst, erfüllt von Freude und Liebe, die wir nur dankbar empfangen und verschenken können. Nicht umsonst beschreiben Mystiker diesen Weg als einen Tod, ein Sterben des getrennten Ichs – und eine Neugeburt.

In diesem Sinne ist auch unsere Klimakrise ein Prozess des Loslassens alter Identitäten, Gewohnheiten, Konventionen, Selbstbeschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen. Diesen Prozess werden wir als Menschheit, als Gesellschaften durchlaufen müssen.

Im Angesicht des Sternenhimmels

Auf solche Weise stehen wir vielleicht gesellschaftlich in einem Prozess des Erwachens, der dem gleicht, den mystische Wege für Einzelne aufgezeigt haben. Diese Wandlung wird heute von einer Welt gefordert, die zugrunde geht, wenn wir uns nicht ändern.  

In unserem Neujahrsretreat gab es auch Dialogrunden. In einer davon sprachen wir über unsere Praxis der Meditation im Kontext dieser globalen Krise. Eine der Leitenden zitierte einen Satz des afrikanischen Aktivisten Bayo Akomolafe, der erklärte: »Wir leben in dringenden Zeiten, lasst uns langsamer werden.« Und es wurde klar, dass solche Erfahrungen der tiefen Intimität mit dem Leben, wie es in der meditativen Stille möglich wird, auch den Raum öffnen, uns selbst und unser Sein in der Welt neu zu sehen. Darin war eine Verletzlichkeit und Liebe im Raum, die uns in der Sorge um die Welt und einer Hoffnung jenseits der Hoffnung verband. Jetzt und hier.

Eine ähnliche Erfahrung, in der für mich diese Verbundenheit spürbar wurde, war eine 24-stündige globale »Andacht« unter dem Leitsatz: »Belonging to Earth«. Im Rahmen der Initiative »One World Bearing Witness« trafen sich im vergangenen Dezember weltweit mehrere Tausend Menschen online, um durch Meditation und Beiträge von Aktivisten und spirituellen Vordenkern Zeugnis abzulegen für unsere Zugehörigkeit zur Erde. So entstand ein globaler Bewusstseinsraum, in dem die Hinwendung zur Erde, der Schmerz über die stattfindende Zerstörung und die tätige Liebe für unseren Planeten zwischen uns lebendig wurden.

Das Besondere an dieser Erfahrung war für mich, dass sich einerseits ein Feld der Gegenwärtigkeit aufspannte, in dem die Offenheit des Bewusstseins, das reine Gewahrsein, spürbar war und uns in ein Schwingungsfeld des Bewusstseins eingehen ließ. Gleichzeitig öffnete sich in diesem Feld der bewussten Verbundenheit das Herz der Erde. Mir war es, als würde es im globalen Zwischenraum unserer geteilten Gegenwärtigkeit pochen, in uns und zwischen uns. Darin war eine Liebe, Zartheit, Verletzlichkeit und unbändige Kraft, die aus dem Leben selbst aufzusteigen schien. Und wenn ich in den Pausen auf die Hügel und das Meer, den Himmel und die Vögel schaute – ich war zu dieser Zeit in Griechenland – schien dieses Herz die ganze Landschaft zu erfüllen. Ich war kein Beobachter, sondern dieses Herz schlug auch in mir und sah sich durch mich in seiner verletzlichen Schönheit und seiner schöpferischen Kraft. Das EINE Herz des Lebens ist unser Herz.

Durch solche Erfahrungen wurde mir klar, dass kontemplative Übungen wie Meditation oder verschiedene Formen von Wir-Räumen, die bisher vor allem zur Selbstentdeckung erforscht wurden, heute einer vielleicht weitaus wichtigeren Aufgabe dienen können und vielleicht müssen: uns als Menschen Erfahrung- und Reflexionsräume zu geben, in denen wir gemeinsam unsere bekannten Identitäten loslassen und die Emotionen, die dabei aufkommen, tragen können, um aus dem nichtwissenden Vertrauen die mögliche menschliche Zukunft erahnend zu gestalten. Solche Foren bilden sich zunehmend, wie die Communities um Extinction Rebellion und Fridays for Future, Deep-Adaptation-Gruppen oder Netzwerke der Tiefenökologie oder des Sacred Activism.

Wir leben in einer Zeit, in der eine existenzielle Verwurzelung im Leben ein kultureller Wert sein wird, den wir einbringen, vertiefen und pflegen können. In der Akzeptanz, dass wir vielleicht schon zu weit in der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gegangen sind, dem Mut, auch im möglichen Zusammenbruch als Mensch zu wachsen, der Entschlossenheit, unser eigenes Leben zu ändern und uns für das Lebendige einzusetzen. Und einer Hoffnung, die aus der Kraft des Lebens selbst schöpft und der Offenheit für die Möglichkeit, dass wir aus dieser Krise als neue Menschen hervorgehen.

Bei unserem Retreat machten wir in der Neujahrsnacht einen stillen Spaziergang und sahen auf unserem Weg, wie die Böller im Tal hochgingen. Von hier oben sahen sie aus wie kleine Lichtpilze, so schnell wieder vorbei, wie sie aufgeschienen waren. Wir gingen unseren Weg weiter den Berg hinauf und kamen auf eine Lichtung, von der aus wir einen freien Blick auf den Sternenhimmel hatten. Wir alle waren berührt von seiner Erhabenheit und Ewigkeit, gegen die das Feuerwerk klein und unbedeutend erschien. In solchen Momenten ist unsere Zugehörigkeit zu einem Kosmos spürbar, der uns in seiner Größe und Tiefe, in seiner Lebenskraft und seinem Geheimnis in Stille und Staunen stürzt.

Oder wie es Jem Bendell als erste seiner Empfehlungen für den Umgang mit der Klimakrise formuliert: »Kehre zurück zur Idee – oder erforsche neu die Möglichkeit – eines Göttlichen, eines Geistes, eines Bewusstseins oder Gottes, welcher der Erde vorausgeht und sich jetzt und in alle Ewigkeit durchs Universum bewegt. Tu es so, dass du keine einfache Erklärung suchst, sondern ein Gefühl des Vertrauens darin, dass es eine Existenz und einen Sinn jenseits unserer Kultur, unserer Spezies und unseres Planeten gibt. Durch solch ein ›Vertrauen‹ kann jeder die unvermeidlichen Schwierigkeiten und Traumata des Lebens erfahren und verarbeiten.«

 

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Erschienen in evolve Ausgabe 25/ 2020: Ende oder Wende: Zwingt uns die Klimakrise zu eiunem Neubeginn?

Geheimnisse reden zu uns

Warum die Poetisierung der Welt politisch ist

Tiefe Erfahrungen mit dem unbenennbaren Urgrund unseres Lebens werden oft mit religiösen oder spirituellen Begriffen beschrieben. Aber es gibt noch eine andere, wenn auch eng verwandte Spur, in der solche inneren Erlebnisse als die Quelle und der eigentliche Lebensraum des Poetischen verstanden werden. Und dieses Poetische kann uns vielleicht gerade heute als Lebenspraxis nicht nur persönlich, sondern auch ökologisch, sozial und politisch neue Möglichkeiten des Wahrnehmens und Handelns erschließen.

Als ich für diese Ausgabe von evolve im Rahmen unserer verschiedenen Rubriken mit unseren Interviewpartnern sprach, stellte ich am Ende meist noch die Frage, ob sie sich auch mit unserem Titelthema verbinden können, ob für sie in irgendeiner Weise das Heilige eine Rolle spielt. Ich war überrascht, dass beispielsweise die Tänzerin Kirstie Simson, der Zeichner Rafael Araujo oder der junge Lebenskünstler Pierre Lischke auf ihre eigene Weise sofort wussten, wovon ich spreche. Und mehr noch, als diese Sphäre des Erlebens zur Sprache kam, veränderten sich auch die Gesprächspartner, ihre Augen leuchteten und sie fühlten sich in etwas Essenziellen, Kostbaren angesprochen, das ihre schöpferischsten Momente betraf, in denen sie sich mit etwas Größerem verbunden und davon durchströmt fühlen. Und dadurch bekam auch das Gespräch eine besondere Atmosphäre, als würden wir uns in einem tiefen, intimen Erleben begegnen, das im Innersten aufscheint, aber gleichzeitig etwas ist, das uns alle verbindet.

Ewige Augenblicke

Interessant an diesen Gesprächen war auch, dass meine Interviewpartner sagten, dass sie solche Erfahrungen, in denen sie tiefe Lebendigkeit und einen sie übersteigenden Sinn erfuhren, nicht als »heilig« bezeichnen würden, sie aber sehr wohl so empfinden, dass sie darin eine Dimension des Mysteriums berühren. Und jeder von uns kennt wohl solche Erlebnisse, in denen wir uns von etwas Größerem angesprochen fühlen, wenn wir wie jetzt im Frühling die ersten Blumen sehen und uns im Geheimnis ihres schönen Erscheinens verlieren, oder wenn wir auf andere Weise in der Größe der Natur aufgehen, in der Majestät der Berge oder der Unendlichkeit des Meeres. Oder wenn wir ganz aus dem Inneren etwas in die Welt bringen und nicht so genau wissen, woher es kommt, sei es ein Wort, eine Idee, ein Kunstwerk oder ein nächster Schritt in unserem Leben. Oder wenn uns eine Begegnung mit einem anderen Menschen tief berührt mit der Empfindung, sich ganz tief, wie aus einer Dimension jenseits von Zeit und Raum zu kennen. Oder wenn wir ein Neugeborenes in den Armen halten oder einem Sterbenden die Hand halten und spüren, wie dieses Menschenleben in einem größeren Sein geborgen ist, und wir mit ihm. Oder wenn wir einem Tier in die Augen schauen und intuitiv wissen, dass wir Teil eines großen Lebens sind. Es ließen sich wohl noch unendlich viele solcher Erfahrungen andeuten. Und jedes Gespräch wird von diesem Klang des Geheimnisses berührt, wenn wir uns über solche kostbaren Momente austauschen oder unvermittelt gemeinsam einen solchen ewigen Augenblick erleben.
Solche Erlebnisse bringen uns in eine unmittelbare Begegnung mit dem Mysterium unseres Lebens. Was wir über die Welt zu wissen meinen, verblasst, und es öffnet sich ein unendlicher Raum der Wahrnehmung, des Staunens, der Ehrfurcht und der Verbundenheit. Solche Räume des Erlebens waren immer auch die Quelle der Poesie und einer poetischen Hinwendung zur Welt. An der Wirkung der Poesie hat mich immer fasziniert, dass sie nicht über etwas spricht – und sei es das Heilige –, sondern versucht, aus dem Mysterium selbst zu sprechen. Die Sprache so tief zu verwandeln, dass durch den Glanz der Worte selbst das Licht aufscheinen kann, das in allem wirkt. Und wenn ich ein Gedicht lese, begegne ich nicht nur den Worten und dem Dichter, der sie geschrieben hat, sondern auch dem Geheimnis, aus dem er schöpfen konnte. Das ist die dialogische Magie des Gedichts.
Aber Poesie geht doch auch weit über dieses Berührtsein beim Schreiben oder Lesen eines Gedichts hinaus, man könnte das Poetische vielleicht auch als eine existenzielle Gestimmtheit und Wandlungskraft verstehen, die gerade in unserer heutigen Zeit vielleicht besonders relevant ist.

Romantisieren der Welt

Solch ein umfassendes und transformatives Verständnis von Poesie begegnete mir zum ersten Mal bei den Dichtern und Denkern der Frühromantik, die als Alternative zum beginnenden Rationalismus und Materialismus im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution die Vision der »Romantisierung der Welt« ausrief. Dieses Romantisieren sollte die Erfahrungen des Geheimnisvollen, Unnennbaren und Verbindenden zur Grundlage unseres schöpferischen Umgangs mit der Welt machen: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es«, schrieb Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis nannte, »der Neuland Bestellende«. Das Neuland der Poesie, das die Frühromantiker vor Augen hatten, sollte die Lebens- und Erfahrungsbereiche des Menschen, die sich immer mehr zu trennen und auch zu fragmentieren begannen, neu zusammenführen: Fantasie und Verstand, Geist und Natur, Wissenschaft und Kunst, Körper und Seele, inneres Erleben und äußeres Handeln. Die frühen Romantiker waren keine Schwärmer, sie waren auch Denker, Philosophen, Wissenschaftler auf der Höhe ihrer Zeit – und ihr in vielem weit voraus. Sie waren geleitet von der Idee, dass alles Wissen oder rationales Erkennen nie getrennt sein sollte vom Geheimnis, dem Wunder des Lebens, vom Duft der blauen Blume, die Novalis als Symbol der Romantik ausrief. Sie waren auch nicht nur geniale Einzelgänger, für sie war das Ideal ein Sym-poetisieren und Sym-philosophieren, ein gemeinsames, dialogisches Poetisieren, das sie in ihrem Freundeskreis experimentell erprobten.
Dieses Dialogische in der Poesie begegnete mir auch kürzlich bei einem Dichter der Gegenwart. Als ich vor einiger Zeit an der Übersetzung eines Buches von David Whyte arbeitete, beeindruckte mich, wie er in Essays zu alltäglichen Worten im Grunde versucht, unserer ganz menschlichen Erfahrung die Tiefe des geheimnisvollen und universell Bedeutungsvollen zurückzugeben, in dem, was er »the conversational nature of reality« (das dialogische Wesen der Wirklichkeit) nennt. Für ihn ist unser Leben ein einziger, vieldimensionaler Dialog mit dem Mysterium. Und bei ihm ist dieses Geheimnisvolle kein harmlos-beglückendes Gefühl, sondern gerade auch das Erschüttert-werden von den großen, letzten Fragen des Daseins, wie Tod, Verlust, Trauer, Schmerz, Enttäuschung.
Ein poetischer Weltzugang ist auch deshalb heute so zukunftsweisend, weil wir in der Welt mit soviel Gebrochenheit zu tun haben, mit Leiden und Krisen auf unterschiedlichsten Ebenen. Und wir merken, dass eine technische, rationale Weltsicht in vielem die Ursache dieser Krisen ist und dass Lösungen aus der gleichen rationalen Dimension zu kurz greifen. Deshalb könnte eine Neuverzauberung der Welt, die uns am Wunder des Lebens mitfühlend teilhaben und daraus handeln lässt, neue Möglichkeiten aufzeigen. Gerade auch, was einen achtsam-verbundenen Umgang mit der Natur betrifft, wie ihn der Biologe Andreas Weber beschreibt: »Unsere zutiefst empfindende und ausdrucksvolle poetische Existenz entfalten wir als ein fühlender Teil eines organischen Ganzen.«
Natürlich kann das Poetische gerade in einer postmodernen, in vielerlei Hinsicht selbstbezogenen Kultur auch zu einem verdrängenden Schwärmen werden, und selbst Texte von Dichtern, die zutiefst mit der Existenz gerungen haben, wie Rainer Maria Rilke, können zu Poesiealbumtexten gemacht werden, die man mit gutem Gefühl auf Facebook teilt. Auch deshalb haben mich immer die Dichter besonders berührt, die gerade in ihrer Gebrochenheit und ihrem existenziellen Erschüttert-sein die Tiefe des Menschseins berührten und vermochten, sie zum Ausdruck zu bringen, wie Georg Trakl, Else Lasker-Schüler oder Paul Celan. In der Gebrochenheit ihrer Dichtung und ihres Lebens rührten sie immer wieder kraftvoll an das Mysterium, das sich gerade dann zeigen kann, wenn unsere individuellen verstandesmäßigen Antworten ins Leere gehen.

Im Mysterium

Aber was sind eigentlich die Qualitäten des Poetischen, die für uns heute neu relevant sein könnten? Zunächst kann man vielleicht sagen, dass das eigentliche Lebensfeld des Poetischen das Geheimnis, das Mysterium ist. Eine poetische Gestimmtheit gibt unserem eigenen Erleben Unschuld, Tiefe, Ehrfurcht und Staunen, die uns so öffnen, dass wir mit einem neuen Blick uns selbst, die Anderen und die Welt betrachten können. Dem poetischen Blick kann alles zum Mysterium werden, wie es die Dichterin Rose Ausländer in einem Gedicht beschreibt: »Die Seele der Dinge/läßt mich ahnen/die Eigenheiten/unendlicher Welten. Beklommen/such ich das Antlitz/eines jeden Dings/und finde in jedem/ein Mysterium. Geheimnisse reden zu mir/eine lebendige Sprache. Ich höre das Herz des Himmels/pochen/in meinem Herzen.«
Um in Resonanz mit diesem Mysterium gehen zu können, um sich dialogisch der unbekannten, überraschenden Tiefe eines Menschen, eines Lebewesen, eines Ereignisses, der Natur, des Kosmos zu öffnen, ist ein einfühlsames Lauschen, eine Berührtheit und Verletzlichkeit notwendig, die David Whyte als »grundlegende, allgegenwärtige und beständige Unterströmung unseres natürlichen Zustands« bezeichnet.
Diese Empfindungstiefe eröffnet auch eine weitere Qualität des Poetischen, das Schöpferische und Kreative. Denn das Poetische sagt eigentlich, dass wir als Menschen nur dort unser wahres Potenzial leben, wo wir schöpferisch werden und im Verbundensein und Ergriffenwerden von der kreativen Lebendigkeit in uns an der Lebenskraft des Ganzen teilhaben und zu ihrem Ausdruck werden.
Zum Poetischen in einem umfassenden Sinn gehört aber auch, unsere gesellschaftliche, globale und soziale Wirklichkeit in diese Kreativität einzubeziehen. Hier kommt eine Haltung der Verantwortlichkeit hinzu, ganz im Sinne des englischen Wortes response-ability, die Fähigkeit zu antworten. Denn ein wirklich poetisches Gefühl der Verbundenheit mit der Welt wird auch mein Handeln in dieser Welt verändern. In diesem Sinne ist eine Poetisierung der Welt nicht nur eine Veränderung der Gefühlslage oder eine schöne Stimmung, und es ist auch kein Abdriften in eine oberflächliche Sentimentalität, sondern bedeutet auch, mit intellektueller Klarheit die Welt und was in ihr geschieht, zu betrachten und verstehen zu wollen – das Verstandene aber auch gleichzeitig zu spüren.
So kann das Poetische auch die Grundlage eines neuen Aktivismus sein, der sich nicht so sehr an Kampf und Gegnerschaft orientiert, sondern eher aus einem »stillen Aufstand« des verbundenen und berührten Herzens, ein stilles aber entschiedenes Wirken, dort wo wir sind, in der Vernetzung mit anderen. Eine Vernetzung, die oft in das poetische Bild des Myzelliums gebracht wird, das unterirdisch weit verzweigte Pilzgeflecht, das – geheimnisvoll – an einzelnen Stellen auftaucht und neue Ausdrucksformen seiner Selbst hervorbringt.
Auf diese Weise ist das Poetische auch eine Grundlage einer Wir-Kultur, die aus der Verbundenheit, aus der Berührtheit des Lebens und der ko-kreativen Schöpfung neuer Möglichkeiten entsteht. Ein dialogischer Begegnungsraum, in dessen Mitte das Mysterium des Lebens sich zeigen kann und uns Quellen der Intuition, Weisheit und Intelligenz eröffnet, die uns allein im Individuellen und Rationalen nicht zugänglich wären.
Das Poetische in diesem Sinne ist nichts Passives, keine Abkehr von der Welt, sondern eine aktive Hinwendung zum Leben aus der Liebe zum Mysterium, das darin wirkt und uns anspricht. Die Frühromantiker sahen das Romantisieren nicht lediglich als eine Art schwärmerische Verklärung der Welt, sondern auch als einen Impuls, sie aus der Öffnung für dieses Geheimnis zu transformieren. So verstanden, ist die Dimension des Poetischen nicht nur etwas, das wir in der Tiefe der Welt finden, sondern das wir auch in die Welt schöpferisch hineinbringen.

Poetische Politik

Verletzlichkeit, Kreativität, Verantwortlichkeit, ein stiller Aktivismus und eine Offenheit für das Geheimnis des Lebens könnten Aspekte einer poetischen Kultur der Zukunft sein. Und das könnte besonders bedeutsam sein in einer Zeit, in der die Gräben zwischen Mensch und Natur und zwischen den Menschen immer größer zu werden scheinen.
Aber was soll so etwas Undeutliches wie die Poesie hier beizutragen haben? Jeder poetische Impuls beginnt zunächst mit dem Lauschen, mit dem Zuhören, dem verletzlichen Einfühlen, in dem ich mich auf das Andere oder den Anderen zumindest ein Stück weit einlasse, mich für das öffne, was mich anspricht – wozu auch manchmal das Verzweifeln am Anderssein des Anderen gehört. Immer wieder gab es politisch engagierte Menschen, die auch aus solch einer verbindenden Kraft des Poetischen schöpften, wie Václav Havel als Kritiker des Stalinismus, politischer Gefangener und später als tschechischer Staatspräsident oder Dag Hammarskjöld als UN-Generalsekretär.
Ein aktuelles Beispiel ist für mich der Autor Navid Kermani. Mich beeindruckte schon sein Buch »Ungläubiges Staunen«, in dem er sich mit einer poetischen Empathie dem Christentum und dessen Verbindungen zum Islam nähert. In seinem neuen Buch »Entlang der Gräben« schreibt er über eine Reise durch den Osten Europas, die ihn in der Begegnung mit Orten und Menschen viele seiner eigenen Überzeugungen hinterfragen lässt. Darin beschreibt er eine Szene in Schwerin, wo er mit den Mitarbeitern einer Sonntagsschule für Flüchtlinge spricht und eine Veranstaltung der AfD besucht. Und er ist berührt von der Tatsache, dass beide Seiten, mit denen er geredet hat, nicht miteinander sprechen. So werden die Gräben immer tiefer.
Es mag naiv klingen, die Hoffnung auf Brücken über diese Gräben in der Poesie zu suchen, aber ich glaube doch, dass die poetische Offenheit für die Welt und das sie überall durchwirkende Mysterium auch den Raum öffnen kann, indem es zumindest möglich sein könnte, einander zu hören. Und wer weiß, was dann möglich ist. Denn das Poetische ist auch gerade diese Offenheit für das Mögliche, Überraschende, das sich zeigen kann, wenn wir der Welt und dem Anderen neu begegnen. In diesem Zwischenraum der dialogischen Begegnung kann diese poetische Haltung zu einer Kraft der Verbundenheit und Heilung werden.
Beim Schreiben dieses Artikels kam mir die verrückte Idee, wie es denn wäre, wenn der Deutsche Bundestag jedes Jahr die ersten Sitzungen damit verbringen würde, dass jeder Abgeordnete, so wie die Interviewpartner, die ich eingangs erwähnt habe, von den kostbarsten Momenten spricht, wo sie etwas erfahren haben, das sie als geheimnisvoll, erfüllend, schöpferisch und zutiefst lebendig erlebt haben. Vielleicht würde sich überraschend Verbindendes zeigen und die tieferen Motivationen hinter der anderen Meinung klarer werden, und so auch das politische Diskutieren und Handeln poetischer werden.

Und solche poetisch-politischen Momente gibt es tatsächlich. So wie die laute Stille von Emma Gonzales. Die junge Mitorganisatorinnen des großen Marsches für strengere Waffengesetze in den USA im März stand sechs lange Minuten still vor den hunderttausend Protestierenden, präsent, aufrecht, zu Tränen gerührt. Zuvor hatte sie in einer Rede, die eher ein Gedicht war, ihrer 17 Mitschülerinnen und Mitschüler gedacht, die an ihrer Schule bei einem Amoklauf, der diese sechs Minuten gedauert hatte, ihr junges Leben verloren. Sie sprach von den flüchtigen und ganz einzigartigen Gesten, Eigenheiten und Worten, die ihr von ihren Freunden in Erinnerung geblieben sind, und dass sie diese „nie mehr“ erleben werde. Für mich und wahrscheinlich jeden, der sich diese Rede anhörte, waren die anonym gezählten Opfer plötzlich wie lebendig anwesend und gleichzeitig war ihr Verlust so unendlich spürbar. In dieser poetischen Vergegenwärtigung und der lauten Stille, die ihr folgte, lag eine Transparenz, Stärke, Verletzlichkeit und Dringlichkeit, die wohl mehr bewegt hat, als viele Worte und Argumente.

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Erschienen in evolve Ausgabe 18 / 2018: WAS IST HEUTE HEILIG? – DAS MYSTERIUM UND WIR

In jedem Atemzug die Erde

Verbunden im gemeinsamen Haus

Aktivistische Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion sind in gewissem Sinne aktuelle Heimatbewegungen. Sie rufen nach einem Bewusstsein für die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen, aber auch nach neuen Formen demokratischen Gestaltens. Die modernen Weltsicht der Trennung wird dabei häufig für einen Blick der Verbundenheit geöffnet, der uns auch Heimat neu verstehen und erfahren lässt.

“Wohin gehen wir? Immer nach Hause.”
Novalis

Die Bilder gehen um die Welt. Überall auf der Erde finden sich junge Menschen und zunehmend auch alle Generationen zusammen, um ein wirksames Handeln gegen den Klimawandel einzufordern. In europäischen Städten legen Aktivisten den Verkehr lahm, treffen sich an öffentlichen Plätzen zur Meditation oder zum gemeinsamen Singen und zu Bürgerversammlungen. In Berlin ist ein Camp in der Nachbarschaft des Bundeskanzleramts zu einer vorübergehenden Heimat für Aktivsten geworden, dort finden Vorträge, Konzerte, Gesprächsrunden und Workshops statt. Diese weltweiten Initiativen bilden eine globale aktivistische Bewegung. In gewisser Weise könnte man hier auch von einer neuen, globalen Heimatbewegung sprechen, die über den Gegensatz von progressiv und konservativ hinausgeht.
Der Bezug zu Heimat wird oft davon bestimmt, ob wir die Heimat als etwas Gegebenes sehen, das bewahrt werden muss, oder etwas, das wir erst schaffen müssen bzw. können, eine Utopie, eine Zukunftsvision. Die Bewegung der Fridays for Future und Extinction Rebellion und ähnlicher aktivistischer Bewegungen im Zeichen eines »subtilen Aktivismus«, von »Defend the Sacred« bis »Rebell*innen des Friedens«, scheinen diese beiden Orientierungen zu verbinden. Sie weisen auf die Heimaten hin, die bewahrt werden sollten, indem wir unseren Einfluss auf die Biosphäre so verändern, dass das Klima in einem Rahmen gehalten werden kann, der nicht unsere Lebensgrundlagen gefährdet, und der auch unseren Mitlebewesen ein Weiterleben ermöglicht. Dies ist in gewissem Sinne ein konservatives, bewahrendes Anliegen, ganz im Sinne der Bewahrung der Schöpfung. Parteien, die sich eigentlich christlichen Grundwerten verpflichtet fühlen, verbinden hingegen heute eine konservative Haltung aber vor allem damit, die Wirtschaft oder Arbeitsplätze und letztlich Wählerstimmen und den Status quo »zu bewahren«.
Die ökologischen Protest- und Alternativbewegungen sind aber gleichzeitig auch progressiv in dem Sinne, dass sie von einer Utopie einer menschlichen Kultur geprägt sind, die zu einem respektvollen und mitfühlenden Umgang mit der natürlichen Mitwelt findet. Dazu gehören auch andere demokratische Prozesse und Formen des Zusammenlebens, wie sie beispielsweise bei den Bürgerversammlungen von Extinction Rebellion oder in vielen Gemeinschaftsprojekten wie dem Tempelhof oder Sulzbrunn experimentell erprobt werden. Diese Utopie zielt auch auf einen anderen Umgang mit Heimat und vor allem auch auf ein anderes Grundverständnis von Heimat.

Eine neue Geschichte

In den letzten Wochen hatte ich die Gelegenheit, einige Vordenker solch eines neuen Verständnisses von Heimat bei Veranstaltungen zu treffen: den Leiter der Schweisfurth Stiftung Franz-Theo Gottwald, den Biologen Andreas Weber und den ökologischen Vordenker Charles Eisenstein. Sie alle treten auf je eigene Weise für einen anderen Bezug zur lebendigen Welt ein. Vereinfacht zusammengefasst kann man von »einer Kultur der Verbundenheit mit der natürlichen Welt« sprechen, wie unser evolve Live Dialogtag in München mit Franz-Theo Gottwald betitelt war. Damit wird angesprochen, dass die ökologische Krise, in die wir uns manövriert haben, aus einer Bewusstseinsverfassung und einer kollektiven Geschichte der Trennung entstand. Die Wurzeln dieser Trennung liegen in der Moderne mit ihren Errungenschaften eines rationalen, getrennten individuellen Bewusstseins und einer Technik, durch die wir aus dieser Trennung von der Natur unsere Umwelt umgestalten, ausbeuten und uns zu eigen macht. Diese Gestaltungs- und Zerstörungsmacht hat uns den Weg ins Anthropozän geebnet, das Menschenzeitalter, in dem unser Einfluss den Planeten bestimmt.
Der Klimawandel und alle anderen ökologischen Herausforderungen führen uns vor Augen, dass diese Geschichte an ihr Ende kommt, an ihr Ende kommen muss. Wir müssen eine neue Geschichte finden, die uns auch anders mit der Natur umgehen lässt – nach dieser neuen Geschichte rufen die aktivistischen Bewegungen und die genannten ökologischen Ideengeber. Und kurz gefasst kann man sie als eine Geschichte der Verbundenheit bezeichnen. Wie würden wir leben und handeln, wenn wir uns als zutiefst verbunden mit der Erde, dem Lebendigen, unseren Mitlebewesen erfahren würden? Und aus dieser Erfahrung unsere Wirtschaft, unsere Politik, unser individuelles und soziales Leben (inklusive Konsumverhalten) umgestalten würden?

Umdenken, Umfühlen, Umhandeln

Dieser Wandel von der Trennung zur Verbundenheit betrifft auch zutiefst unsere Beziehung zu Heimat. Denn wie wir Heimat verstehen, hängt auch davon ab, in welcher Geschichte, welchem Narrativ wir leben. Wenn wir heute über Heimat sprechen, klingt darin oft die Bewusstseinshaltung der Trennung durch, und das nicht nur bei rechtslastigen Populisten; Heimat als etwas Trennendes, etwas Ausschließendes: ‚Wenn dies meine Heimat ist, dann kann es nicht deine Heimat sein‘ oder ‚Ich muss meine Heimat gegen andere verteidigen, andere daraus abgrenzen. Meine eigene Heimat bewahren, notfalls mit Grenzziehung und im Extremfall mit Schießbefehl.‘ Trumps Mauer zu Mexiko ist für diese Haltung ein beredtes Beispiel.
Der Klimawandel aber zeigt uns, dass diese Trennungen unsere Heimat nicht mehr werden bewahren können. Überall auf der Welt werden Heimaten davon betroffen sein bzw. sind schon betroffen, da hilft keine Mauer. In gewissem Sinne kommt hier der Klimawandel der Geschichte der Verbundenheit zu Hilfe, oder besser gesagt fordert er solch ein Umdenken, Umfühlen, Umhandeln.
Aus einem Blick der Verbundenheit besteht unsere Erde aus Heimaten, jeder Lebensraum dieses Planeten ist Heimat für Lebewesen, und jedes Land dieser Erde auch Heimat für Menschen. Ein Blick aus der Ganzheit der Verbundenheit sieht also die eigene Heimat, den Ort, den man gerade als Heimat empfindet, in Verbindung zu allen Heimaten dieser Erde. Daraus folgt ein Handeln, das nicht nur die eigene Heimat bewahren will, sondern alle Heimaten auf dem Planeten. Denn es ist ja auch offensichtlich, dass unsere Lebensweise anderswo Heimaten zerstört. Unser Konsum verbraucht Rohstoffe, deren Gewinnung Orte dieser Welt unbewohnbar macht, unser Wirtschaftssystem zerstört regionale Ökonomien und entwurzelt so die Menschen oder mit unseren Waffen werden Kriege geführt, die Heimaten zu Schreckensorten machen. Dass die betroffenen Menschen dann zu uns kommen, um neue Heimat zu suchen, ist nicht verwunderlich.
Solch ein Blick der Verbundenheit öffnet sich hinein in eine integrale Sicht einer Koexistenz, einer Ko-kreation von Heimat. Weil es Heimat im Singular in einer globalisierten Welt nicht mehr geben kann. Wir alle leben in Ko-Heimaten, jede Heimat existiert und entfaltet sich oder verdorrt in Wechselwirkung mit anderen Heimaten.

Matrix der Grenzen

In einem Vortrag zum Thema Allmende erklärte Andreas Weber kürzlich, dass unser Umgang mit der Natur auch auf unsere Besitzverhältnisse und unsere Idee von Besitz zurückzuführen ist, die eng mit der Weltsicht der Trennung zusammenhängen. Ein Thema, das ich kürzlich im Zusammenhang mit unserer Ausgabe zum Thema Geld auch mit einem Künstler diskutierte, der an einem Projekt zu einer »Gesellschaft ohne Eigentum« forscht. Wir denken ja oft gar nicht darüber nach, inwieweit unser Leben von der Idee des Privatbesitzes geprägt ist. Unsere Wirtschaft basiert darauf. Und sicher hat diese Besitzform auch immense wirtschaftliche Kreativität, individuellen Wohlstand und kulturelle Entwicklung hervorgebracht. Aber durch diese Besitzaufteilung ziehen wir eine künstliche, instrumentelle Matrix von Grenzen in eine Natur ein, die diese Grenzen nicht kennt. Wir teilen die uns als Schöpfung gegebene Welt auf, errichten Zäune, Grenzen und Mauern und nennen das, was innerhalb der Grenzen ist, »meins«. Uns gehört ein Stück Land. Und im Geiste der Trennung ist alles, was jenseits der Grenze ist, nicht meins, gehört anderen. Nun muss ich also meinen Besitz pflegen, vermehren und verteidigen. Egal, ob das Innere der Grenzen meine (wenn auch nur gemietete) Wohnung, mein eigenes Grundstück, meine Region, mein Bundesland oder meine Nation ist. In diesem Denken kann dort, wo meine Heimat ist, aber nicht die Heimat eines anderen sein. Und ich trage Verantwortung nur für den Bereich innerhalb meiner Grenzen.
Andreas Weber stellt diesem territorialen Denken der besitzenden Trennung die Perspektive der globalen Allmende entgegen. Dies ist ein altes Wort aus dem bäuerlichen Kontext und bezeichnete Land, das die Bewohner eines Dorfes gemeinsam nutzen konnten, ein Gemeindegut; ein Beispiel für gemeinsame Heimat. Heute werden der Begriff Allmende und Worte wie Commons und Gemeingut benutzt, um Möglichkeiten des gemeinsamen Besitzrechts anzusprechen bzw. darauf hinzuweisen, dass Privatbesitz an Boden ein künstliches Konstrukt ist. Weber begann seinen Vortrag beim Atem. Die Luft, die wir atmen, können wir nicht besitzen. Sie wird uns geschenkt, von der Biosphäre. Wenn wir atmen, nehmen wir Elemente der Natur in uns auf, die im Lebensprozess der Bäume entstehen. Die Bäume nehmen unsere Atemluft in sich auf. Diese innerste Wechselwirkung gilt auch für das, was wir trinken und essen. Selbst für das, was wir denken und fühlen. Und wenn Sie und ich nebeneinandersitzen, atmen wir uns gegenseitig. Wir leben ständig in einer wechselwirkenden Verbundenheit, die Grenzen von ich und dem Anderen nicht in ausschließender Form kennt. Ganz real, in diesem Moment bin ich die ganze Welt, bestehe aus Elementen, die schon an vielen Orten und in vielen Zeiten dieser Erde und dieses Kosmos gelebt haben, bis hin zum fernen Sternenstaub aus dem die Moleküle meines Körpers entstanden.
Jeder Ort, jede Heimat ist also immer durchdrungen von ganz vielen anderen Heimaten dieses Planeten. Eine Geschichte der Verbundenheit wird auch unsere Erfahrung von Heimat in dieses Geflecht und Gewebe mit einbeziehen. Dann sehen wir die Heimat, aus der wir kommen oder in der wir leben, als verknüpft mit der ganzen lebendigen Erde an und wissen, dass diese Heimat nicht erblühen kann, wenn nicht auch alle anderen Heimaten erblühen. Wir sehen, dass wir unsere Heimaten nur schöpferisch miteinander gestalten können, ohne ein Gegeneinander, eine Konkurrenz der Heimatorte. Und dass wir jeden kleinen Ort der Heimat nur dann wirklich pflegen, bewahren und entwickeln können, wenn wir ihn im Kontext der umfassenden Heimat erleben, verstehen und gestalten: der Erde, unserem Heimatplaneten.

Unser gemeinsames Haus

Kürzlich kam ich auf einer Wanderung an einer Kirche vorbei, in der man ein »Fest der Schöpfung« feierte, bei der eine Erdkugel als großer Ball in die Kirche gerollt wurde, während in einem szenischen Gottesdienst verschiedene Akteure der Trennung (so würde ich sie bezeichnen) ihren Besitz- und Machtanspruch auf die Erde formulierten: die Wissenschaft, das Militär, die Wirtschaft, die Politik. Bis dann die Erde selbst zu Wort kam. Vielleicht ist das heute unsere wichtigste Heimataufgabe: Die Erde selbst zu Wort und zu Wirkung kommen lassen. Genau das ist es, was Fridays for Future und Extinction Rebellion motiviert; dass sie dabei manchmal vielleicht übers Ziel hinausschießen oder dogmatisch werden, tut der Bedeutung dieses Anliegens keinen Abbruch.
Beim Herausgehen aus der Kirche lag die Enzyklika des Papstes Franziskus aus dem Jahre 2015, »Laudato si: Die Sorge für das gemeinsame Haus«. Ja, die Erde ist unser gemeinsames Haus, unsere Heimat. In der Enzyklika steht: »Die Berufung, Beschützer des Werkes Gottes zu sein, praktisch umzusetzen, gehört wesentlich zu einem tugendhaften Leben, sie ist weder etwas Fakultatives noch ein sekundärer Aspekt der christlichen Erfahrung.« (Vielleicht hätte den Vertretern der CDU/CSU vor den Verhandlungen über das Klimapaket diese Lektüre gutgetan.) In unserem evolve Live Dialogtag in München kamen wir mit Franz-Theo Gottwald mit Hinblick auf die Kultur der Lebendigkeit auf die Frage: Wie gebe ich und wie geben wir gemeinsam dem Lebendigen eine Stimme?
Ein verbundenes Verständnis von Heimat bezieht sich ja nicht nur auf die natürliche Verbundenheit mit dem Leben, sondern hat auch eine soziale Dimension. Wir als Menschen sind die eine Familie, die im Haus dieser Erde lebt. Ein Heimatverständnis aus der Verbundenheit weiß und fühlt, dass wir selbst uns nicht wirklich heimisch fühlen können, solange irgendjemand auf dieser Welt keine Heimat hat. Wir gemeinsam als Weltbürger und Erdenwesen müssen und können die Heimaten dieser Erde bewahren und gestalten, sodass überall Heimat möglich und wirklich wird.

Revolution der Liebe

Natürlich ist das eine Utopie. Sie beginnt mit dem Bewahren unserer Natur aber auch mit dem Bewahren unserer Menschlichkeit in Zeiten der Digitalisierung und Konfrontation. Gleichzeitig sehen wir, dass sich in einem neuen mitschöpferischen Denken, Fühlen, Leben und Handeln ein neues kulturelles Potenzial zeigt, das mehr sein wird, als die Summe seiner Teile. Was ich damit meine ist, dass wir als Menschen ungeahnte schöpferische Kräfte entdecken können, wenn wir nicht so immens viel psychische Energie damit verbrauchen, uns abzugrenzen und unseren Besitz zu schützen. In der kreativen Wechselbegegnung mit dem Lebendigen in all seinen Formen und mit anderen Menschen können wir uns zusammen neu beheimaten und auch das, was Heimat bedeuten kann, in eine neue Offenheit führen.
Wir verstehen, erfahren und entwickeln uns als Menschen neu, wenn wir dem Lebendigen einen unumstößlichen Wert geben. Davon ist der Ethiker Claus Eurich überzeugt, der gerade eine Initiative begonnen hat, die Lebensrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. In diesem umarmenden Blick von Mensch und Lebendigem wird auch Heimat zu etwas, das wir allen Lebewesen zugestehen: Du darfst dich auf dieser Erde beheimaten, so wie ich mich beheimaten kann. Gemeinsam finden wir Heimat in diesem Haus der Erde. Und wir als Menschen tragen Verantwortung für das ganze Haus, nicht nur für ein Stockwerk, einen Raum oder eine Ecke. Das bedeutet aber auch, dass sich diese Sorge um das Ganze immer im ganz Konkreten unserer tatsächlichen, lokalen Lebensbezüge zeigt.
Am Grunde dieser Bewegung der Verbundenheit liegt … vielleicht die Liebe. Charles Eisenstein sprach bei einem Dialogevent in München von der Notwendigkeit einer »Revolution der Liebe«. Ein ökologisches Umdenken werde nicht (nur) aus rationalen Argumenten oder überwältigenden Fakten und sicher nicht aus angstmachenden Vorwürfen oder Schuldzuweisungen kommen, sondern aus dem gespürten, berührten Mitsein – Interbeing – mit der Schöpfung: Eine in uns als Menschheit immer mehr zu entwickelnde Empfindungskraft.
Im Grunde ist diese Kultur der Verbundenheit die Verwirklichung einer schöpferischen Liebe, einer Liebe zum natürlichen Lebendigen, zu den Menschen und ihrem Entwicklungspotenzial – und zu dem Geheimnis, das uns alle übersteigt, uns trägt und zutiefst meint. In dieser Liebe wird alles zur Heimat, sie wird zur Heimat des Lebens, das sich darin selbst erkennt und ihren wahren Kern offenlegt: dass wir als Menschen Ausdruck und Mitgestalter eines lebendigen Kosmos sind. In solch einem Bewusstsein kann jeder Schritt ein Weg in die Heimat sein, die immer nur einen Atemzug weit entfernt ist. Würde uns dann jemand fragen: »Wo gehen wir hin?« könnten wir mit Novalis, dem »Neuland Bestellenden« sagen: »Immer nach Hause.«

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Erschienen in Ausgabe 24 / 2019: OFFENE HEIMAT – Wie kann sie gelingen?

Ein World Wide Web der Liebe?

Utopie und Realität der Noosphäre

Hier auch als Audio, gelesen vom Schauspieler Stephan Schwartz

Mit dem Begriff Noosphäre beschrieb der Paläontologe und christliche Mystiker Teilhard de Chardin seine Vision einer geistigen Sphäre, die uns als Menschen miteinander verbindet. Vielen sehen im Internet die Verwirklichung dieser Idee. Aber die Realität des Internets ist heute vor allem auch ein Ort der Fragmentierung unseres Lebens und unseres sozialen Gefüges. Welchen Sinn hat diese Vorstellung der Noosphäre in solchen Zeiten? Welche Rolle spielt dabei unsere Sprache? Und gibt es Wege, die uns über Trennung und Polarisierung hinausführen können?

„Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“
Ingeborg Bachmann

»Niemals, so möchten man sagen, haben sich die Menschen herzlicher zurückgestoßen und gehasst als heute, da alles sie einander näherbringt. Ist ein derartiges sittliches Chaos wirklich mit der Idee und der Hoffnung vereinbar, dass wir uns durch die Zusammenpressung unserer Körper und unserer Intelligenzen auf eine Einmütigkeit hinbewegen?« Dieser Satz scheint unsere gegenwärtige Erfahrung in Zeiten von Internet, sozialen Medien und der Gefährdung der Demokratie durch Polarisierung und Populismus, die Risse in die soziale Struktur unserer Gesellschaft reißen, sehr treffend zu beschreiben. Durch das Internet sind wir global verbundener denn je, aber gleichzeitig scheinen darin auch die Kräfte der Trennung einen neuen, kaum kontrollierbaren Wirkraum zu finden.
Der zuvor zitierte Satz stammt jedoch aus dem Jahre 1945 und von dem Jesuitenpater und Paläontologen Teilhard de Chardin und steht in einem Essay über die »Planetisation«. Teilhard sah die Evolution des Kosmos und des Menschen in einer Bewegung zu mehr Komplexität und Konvergenz, mehr Differenzierung und Zusammenführung. Im Laufe dieser Entwicklung werde die Menschheit zu einem globalen geistigen Organismus, bewegt von der evolutionären Grundkraft der Liebe. Diese Verbindung der Menschen wäre für ihn aber keine Herabminderung der Individualität, sondern könnte den Menschen erst ganz den Weg in sein Personsein ebnen. Ein Organ dieser Planetisation war für ihn die Noophäre, eine denkende Sphäre, die sich wie die Geosphäre oder Biosphäre um die ganze Erde zieht und die Menschheit geistig miteinander verbindet.
Diese Idee der Noosphäre wurde von Pionieren des Internets aufgegriffen, um ihrer Vision der Verbundenheit durch dieses neue Medium Ausdruck zu verleihen. Auch der Medientheoretiker Marshall McLuhan griff den Begriff auf und beschrieb diese Sphäre als »kosmische Membran, die sich durch die elektrische Erweiterung unserer verschiedenen Sinne rund um den Globus gelegt hat …, ein technisches Gehirn für die Welt«. Teihard meinte mit der Noosphäre aber mehr als diese technische, bewusstseinsmaschinelle Interpretation. Für ihn ging es dabei um eine Steigerung der psychischen, also geistigen Verbundenheit in Liebe und Freiheit. Die Evolution dieser Sphäre bedeutete für ihn eine Intensivierung des Bewusstseins, in der immer mehr Menschen in eine Einheit hineinfinden und sie zu einem sozialen Lebensraum werden lassen. Und letztendlich war für Teilhard als evolutionären Mystiker die Noosphäre die Verwirklichung der göttlichen Einheit in der »menschlichen Materie« auf Erden.

Kampf in der Noosphäre

Die Vision einer globalen menschlichen Verbundenheit, die zu Beginn des Internets lebendig war, ist heute vielfach ganz unter die Wirkung der Marktlogik und der Technik gefallen, die mit Big Data und Algorithmen manipulative Kräfte freisetzt, die wir kaum beherrschen können. Ein eindrückliches Beispiel ist Facebook. Die Mission Statements, die Mark Zuckerberg veröffentlicht, klingen wie der Absicht entsprungen, die zuvor beschriebene Vision der Planetisation zu verwirklichen. »Den Menschen zu unterstützen, Gemeinschaften zu formen und die Welt näher zusammenzubringen.« Viele der Internet-Pioniere haben solche Visionen der Verbundenheit mit der Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg zusammengeführt und dazu die technischen Möglichkeiten des Internets genutzt und gleichzeitig auch die Sehnsucht der Menschen nach neuen Formen der Verbundenheit als Marktressource erkannt.
Die Dynamik zwischen der Idee der Verbundenheit und der Realität der zunehmenden Ökonomisierung und Fragmentierung wird wohl nur verständlich, wenn wir sie vor dem Hintergrund unseres postmodernen Zeitgeistes sehen. Die Postmoderne hat alle übergreifenden kulturellen, politischen und religiösen Geschichten hinterfragt, die ein Monopol auf die Erklärung der Welt beanspruchten. Diese Befreiung geht mit einem immensen Sinnvakuum einher, in dem eine Vielzahl von Erklärungsmodellen um die Deutungshoheit kämpfen. Gleichzeitig sind das Internet und die sozialen Medien postmoderne Medien in dem Sinne, dass sie einen wertfreien Raum bieten, in dem Menschen ungehindert ihre Sicht der Wirklichkeit veröffentlichen können.
Heute sehen wir, dass diese Freiheit natürlich zu vielen globalen Bewegungen geführt hat, die sich an Gerechtigkeit und kulturellem Fortschritt orientieren wie der Arabische Frühlung, Occupy oder MeToo. Aber in diesen Freiraum sind auch viele andere Akteure getreten, deren Wirkraum das Internet exponenziell erweitert hat: profitorientierte Konzerne, Regierungen, Geheimdienste, politische Splittergruppen, terroristische Vereinigungen, radikale Ideologen etc. etc.
Statt einer Bewegung hin zu mehr »Einmütigkeit« ist wohl eher ein Trend zur Entzweiung zu beobachten, ein neuer Kulturkampf zwischen unterschiedlichsten Gruppen, bei dem es um das höchste Gut des Internetzeitalters geht: unsere Aufmerksamkeit. Dieser Kampf wird von den Krisen genährt, die uns in der Postmoderne heimsuchen, wie es Peter Limberg und Conor Barnes in einem Essay beschreiben. Es ist eine Sinnkrise, weil es kaum zentrale Instanzen gibt, die verbindlich Sinn geben. Eine Wahrheitskrise, weil die Manipulationsmöglichkeiten des Internets die Grundlage einer allgemein akzeptierten Wahrheit durchlöchert haben. Eine Zugehörigkeitskrise, weil das Gefühl von Gemeinschaft abhandenkommt. Eine Krise der Nähe, weil wir heute ungeschützt verschiedensten kontroversen Meinungen ausgesetzt sind. Eine Krise der Besonnenheit, weil große Akteure im Internet ihre Angebote so gestalten, dass sie möglichst stark süchtig machen und somit unsere Autonomie untergraben. Und eine Krise der Kriegsführung, weil unsere manipulierte Aufmerksamkeit zur Waffe in verborgenen Kämpfen wird, die von bestimmten Interessengruppen benutzt wird.
Ob wir es wissen oder nicht, immer wenn wir online sind und posten, liken und kommentieren, treten wir potenziell in einen kulturellen Krieg ein. Macht das nicht die Vision von einer Menschheit, die immer mehr ihre Einheit verwirklicht, zu einer kraftlosen, illusionären Idee? Immerhin fand Teilhard seine Vision der Planetisation nicht in der beschützten Umgebung abgeschiedener Kontemplation, sondern im Schützengraben des Ersten Weltkriegs. Können wir, die wir uns heute in den Schützengräben eines Kulturkampfes befinden, dieser Vision Nahrung und Raum geben? Und was könnten Ansatzpunkte dafür sein?

Demokratische Sprache

Im Kampf der vielen Interessengruppen wird zunehmend unsere Sprache zur Waffe. Deshalb sehen wir im digitalen Raum mit der Verrohnung der Sprache auch zunehmend eine Verrohung unseres Menschseins, in der Empathie, Wahrheit und Solidarität durch trennende Ideologien gefährdet werden, die sich dann »offline« in manipulierten Wahlergebnissen zeigen.
Das Internet hat unser Sprechen verändert und uns in nie dagewesenem Maße eine »entkörperlichte« und »entpersönlichte« Kommunikation ermöglicht. Bei Kommentaren in den sozialen Medien kann man leicht vergessen, dass Kommunikation ein Gegenüber, einen Menschen erreicht. Viele trauen sich Dinge zu sagen, die sie in einem Gespräch mit dem Blick in die Augen des anderen nie sagen würden. Im gewissen Sinne übernehmen wir damit die technische oder instrumentelle Haltung, die nicht den anderen Menschen sieht, sondern jemanden, der meiner Meinung zustimmt oder nicht, der auf meiner Seite ist oder nicht. Bezeichnenderweise kommen viele Kommentare schon von SocialBots. Das sind auf Algorithmen basierende Programme, die menschliche Verhaltensmuster simulieren und auf diese Weise vorgeben, echte User zu sein. Im Netz kann man also oft kaum unterscheiden, ob man mit einem Menschen spricht oder einem Roboter, der für eine bestimmte Meinung programmiert wurde. Dieses instrumentelle Denken liegt der Aufmerksamkeitsökonomie zugrunde, in der Medien durch reißerische Schlagzeilen ihre Klickraten erhöhen wollen. In dieser Sichtweise werden die Nutzer selbst zu »Emotionalrobotern«, die man mit den gut gesetzten Anreizen, die meist auf Angst basieren, anzieht.
Dabei ist Sprache das, was unser Bewusstsein formt und umgekehrt. Wenn Sprache instrumentalisert, ökonomisiert, ideologisiert und gewalttätig wird, dann auch unser Bewusstsein und damit unser Umgang mit dem Leben und der Welt. Robert Habeck, der Bundesvorsitzende der Grünen, weist auf diesen Zusammenhang hin und analysiert in seinem neuen Buch was geschieht, wenn bestimmte Worte wie »Gesinnungsdiktatur«, »Asyltourismus«, »Überfremdung« und »Volksverrat« Teil unseres politischen Wortschatzes werden. Dann werden Empathie, Mitgefühl, Vernunft und Respekt untergraben, die für unser Gemeinwesen essenziell sind. Natürlich kann man die neuen Medien nicht allein für diese Entwicklung verantwortlich machen, aber sie bieten doch Räume, in denen solche Grenzüberschreitungen anonym erprobt werden können. Und die ökonomische und politische Logik im Kampf um die Aufmerksamkeit bringt Medien und Parteien dazu, solche grenzüberschreitenden Worte aufzugreifen, weil sie Klickraten bzw. (vermeintlich) Zustimmungswerte erhöhen.
Interessanterweise könnte aber einer der Gründe für die momentanen Wahlerfolge der Grünen die »Überwindung des spaltenden Sprechens, des Schneidenden, des Krakeelens und des Kanzelpredigens« sein, wie die »TAZ« kürzlich bemerkte. Hier wird ein »reparatives Sprechen« versucht, das sich nicht von anderen Sichtweisen abgrenzt, sondern sie zum Anlass nimmt, mit der eigenen Sicht darauf zu antworten. Habeck will deshalb eine »Poetik des demokratischen Sprechens« beleben, die den konstruktiven Streit gegen eine trennende und entmenschlichende Sprache abgrenzt. Eine offene Sprache, die Raum lässt für den respektvollen Dialog unterschiedlicher Meinungen und die vor allem im anderen immer den Menschen sieht – das Menschsein, das uns trotz aller Unterschiede verbindet. Und, so Habeck, »eine lebendige Sprache ringt immer wieder neu um Verständnis und Verstehen.«

Das Netz zum Leuchten bringen

Eine besonders kraftvolle Form des lebendigen, menschlich verbindenden Sprechens ist für mich die Poesie. Poetische Sprache lebt aus der Verbundenheit und dem Offenlassen des anderen, dem ich begegne, sei es ein Mensch, ein Baum oder ein Ereignis. Wenn ich poetisch spreche, will ich das Angesprochene nicht dinglich fassen und feststellen, sondern das Geheimnis des Lebens, das darin atmet, erspüren und ansprechen. Es ist ein vorsichtiger Umgang mit Worten, der mein Sprechen einer technischen und instrumentellen Verfügbarkeit entzieht. Poetisches Sprechen entspringt letztlich unserer gemeinsamen menschlichen Erfahrung und versucht, sie uns zu vergegenwärtigen. Wenn wir poetische Worte nachempfinden, begeben wir uns in den Sprachraum unserer Verbundenheit mit den Menschen und unserer Welt.
In ihrem Buch »Alles, was leuchtet« schreiben Hubert Dreyfuss und Sean Kelly, die angemessene Reaktion auf die Gefahren des Technischen sei nicht, »die Ablehnung der Technik als solcher, sondern die Akzeptanz des technischen Fortschritts unter der gleichzeitigen Wahrung aller poietischen Sitten und Gebräuche, die sich einer ausschließlich von Technik bestimmten Lebensweise in den Weg stellen.« Mit dieser poietischen Lebenshaltung meinen sie auch »das Gefühl, die Welt kultivieren und die notwendigen Kunstfertigkeiten entwickeln zu können, um sie leuchten zu lassen.« Damit sprechen sie vor allem auch unsere menschlichen schöpferischen Fähigkeiten an, die im Kern des Poetischen wirken. Poesie kann die Welt verwandeln. Kann sie auch die Welt der digitalen Medien verwandeln, gar zum Leuchten bringen? Oder das in ihnen enthaltene Leuchten freilegen und stärken? Aber was ist dieses Leuchten? Hinter der Trennung, dem Hass und der Unwahrheit, zu denen diese Medien heute vielfach genutzt werden, liegt vielleicht immer noch das Leuchten der Verbundenheit.
Teilhard de Chardin nannte drei Merkmale der Planetisation: die Formung eines kollektiven Gedächtnisses, die Entwicklung eines die Erde einhüllenden Nervennetzes, in dem sich unser Denken überträgt und die »Emergenz einer Fähigkeit des gemeinsamen Sehens«, das uns neue Potenziale unseres Seins eröffnet. Bei den News über die Schattenseiten des Internets sollten wir nicht vergessen, in welcher Weise die digitale Sphäre der nonlokale Ort ist, wo sich diese Ausdrucksformen heute schon verwirklichen. Seien es die vielen Projekte des Online-Learnings wie MOOCs (Massive Open Online Courses), die Nutzung der Zoom-Technologie für Online-Kongresse, die gerade Hochkonjunktur haben, Online-Experimente mit Wir-Erfahrungen oder die weltweiten U-Labs. Oder auch die Projekte mit einem subtilen Aktivismus, in dem Menschen gemeinsam ihre Aufmerksamkeit – oft vermittelt über das Internet – auf ein bestimmtes politisches oder soziales Thema richten. Oder Bewegungen wie Occupy und die vielen Portale für Online-Petitionen. Ganz zu schweigen von zahllosen Podcasts und YouTube-Videos. Wir nutzen solche und andere Mittel der Gemeinschaftsbildung so oft, dass sie schon selbstverständlich geworden sind.
Letztlich geht es hier zunächst auch um unsere bewusste Nutzung dieser Medien für eine Kultur der Verbundenheit, in der eine lebendige und manchmal gar poetische Sprache den technischen Raum lebendiger werden lässt und vielleicht gar poetisiert und darin das »Leuchten« sucht. Daneben wird es, wie von Dreyfus und Kelly angesprochen, die Verbindung dieser Online-Begegnungen mit verkörperter Erfahrung sein, die dem Technischen seinen Platz im Menschlichen gibt, und nicht umgekehrt.
Ein aktuelles Beispiel dazu sind vielleicht die Proteste gegen die Rodung im Hambacher Forst. Aktivisten vor Ort, die uns wieder an den Wert und die Würde eines Waldes erinnern, hinter denen online immer mehr Menschen standen, die sich vernetzten, und dann in verkörperten Waldspaziergängen einer letztlich poetischen Vision eines anderen Umgangs mit dem Leben der Natur Ausdruck gaben. Es ging nicht mehr nur um den »Hambi«, sondern um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen.

Gemeinsames Sehen

Teilhard sah die Entwicklung der Noosphäre und damit des kollektiven Bewusstseins der Menschheit in einem Prozess der Intensivierung und »Erhitzung«. Die Intensität des Kulturkampfes, den wir gerade erleben, scheint ihm Recht zu geben. Für ihn war eine Folge dieser Erhitzung, dass Grenzen zwischen den Menschen zerschmelzen und wir einander näher kommen, was auch zu Konflikten führen wird. Limberg und Barnes ordnen den Stand unserer Noosphäre mit dem Phasenmodell für Gruppendynamiken des Psychologen Bruce Tuckman ein. Er erklärt, dass Gruppen mit einer Phase der Formierung (Forming) beginnen, gefolgt vom Stürmen (Storming), wonach eine Phase der Normierung (Norming) und schließlich der Ausführung (Performing) wirkt. Sie sehen das Internet und die neuen Medien heute in der Phase des Sturmes, aus der wir den Weg in die Normierung finden müssen. Hierbei wird eine offene, menschliche, dialogische Sprache eine entscheidende Rolle spielen.
Der nächste Schritt in der Evolution der Noosphäre wird von schöpferischen Gestaltern – also uns allen – abhängen, die der Polarisierung den Dialog entgegensetzen, die lernen, Mediatoren zwischen verschiedenen Sichtweisen zu sein, die Räume der poetischen Verbundenheit eröffnen, die online und offline Biotope schaffen, in denen wir das »gemeinsame Sehen« praktizieren, damit neue Lösungshorizonte emergieren können. In solch einer Dynamik könnte sich mehr und mehr das Erwachen der Noosphäre vollziehen, das Teilhard als unsere evolutionäre Möglichkeit und Aufgabe sah. Es war seine poetische Vision eines von Liebe durchdrungenen Kosmos. Denn Teilhard betont, dass die Planetisation nicht nur eine äußere Gegebenheit oder Notwendigkeit ist, weil die Globalisierung sie fordert, sondern vielmehr, dass hierin eine vom »’Geist der Evolution’ beseelte menschliche Masse« wirkt: Eine »(fast anbetende) Sympathie aller Elemente … für die Bewegung, die sie mitreißt« und »eine (ganz brüderliche) Sympathie jedes Elementes … für das, was sich an Ursprünglichstem und Unmittelbarsten in jedem der Ko-Elemente verbirgt.«

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Erschienen in Ausgabe 20 / 2018: DIE BEWUSSTSEINSMASCHINE – Die neuen Medien und wir

Goethe in Buchenwald

Über einen Besuch in Weimar

Weimar – ein Ort, an dem die Abgründe und Aufbrüche unserer Geschichte wie verdichtet spürbar werden. Was braucht es von uns, um uns der Vergangenheit zu stellen, uns ihr zu öffnen und so den Weg in die Zukunft zu finden? Ein Reisebericht in das Herz unserer menschlichen Gebrochenheit und zu der Frage nach einer schöpferischen Antwort.

Unser Leben entfaltet sich immer in einem kulturellen und geschichtlichen Kontext. Damit gehören auch die Brüche und Wunden in Kultur und Geschichte zu uns und bestimmen unser Leben. Je mehr wir uns dieses Eingebundenseins bewusst werden, bemerken wir, wie diese kulturelle Dimension unseres Seins in uns hineinwirkt, uns beeinflusst, uns formt. Sie wird zu der Voraussetzung, von der aus wir mehr oder weniger schöpferisch unser eigenes Leben gestalten, sowohl die Potenziale und Sternstunden als auch die Wunden und Tiefpunkte unserer Kultur – die immer auch mit unseren universellen menschlichen Möglichkeiten in Beziehung stehen – wirken in uns und unser Umgang mit ihnen wirkt in die Kultur zurück.
Es gibt Orte, dort verdichtet sich die Vielschichtigkeit dieser kulturellen Durchdringung unseres Menschseins besonders intensiv, sodass die Aufbrüche und Zusammenbrüche auf eine Weise spürbar werden, dass sie uns zu einer Antwort herausfordern. Eine Antwort, die weniger in Erklärungen liegt, als in einem Wandel unseres Seins in der Welt, das aus dem Spüren der Wunder und Wunden der Geschichte die schöpferischen Impulse für die Zukunft finden kann.

Kultur und Grauen

Weimar ist ein solcher Ort. Vor einigen Wochen reiste ich anlässlich der Ausstellungseröffnung eines Freundes in die Stadt und war gespannt auf diesen Besuch. Vor nunmehr 30 Jahren war ich schon einmal dort, und dieser kurze Aufenthalt blieb mir stark in Erinnerung. Ich war damals mit Mitschülern aus meiner Heimatstadt in Brandenburg nach Weimar gekommen. Wir sahen eine Ballettaufführung im Nationaltheater und besuchten natürlich die »heiligen« Stätten deutscher Literatur, die Orte, an denen Goethe und Schiller wirkten. Wir besuchten damals auch die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, das unweit von Weimar auf dem Ettersberg liegt. Diese Nähe von Stätten höchsten geistigen und kulturellen Ausdrucks des Menschen und einem Ort unaussprechbaren Grauens hatte mich damals tief berührt, verunsichert, überfordert und viele Fragen aufgeworfen, für die ich keine Antworten fand. Auch dieses Mal berührte mich diese Nähe von kulturellen Aufbrüchen und Abgründen. Mir schien, dass in Weimar – der janusköpfigen Stadt, wie sie genannt wurde – die Höhen und Tiefen deutscher Geschichte – und des menschlichen Geistes – wie zum Äußersten gesteigert spürbar werden.
Schon der erste Gang vom Bahnhof in die Stadt war ein geschichtliches Wechselbad. Ich war erstaunt, als ich auf diesem Weg plötzlich ein Denkmal sah, das mich an meine Jugend in der DDR erinnerte. Dort stand Ernst Thälmann, mit geballten Fäusten bei einer Rede dargestellt – von 1925 bis zu seiner Verhaftung 1933 war er Vorsitzender der KPD und wurde nach elf Jahren Einzelhaft 1944 auf Befehl Hitlers in Buchenwald ermordet. Auf einer langen Steinmauer daneben steht: »Aus eurem Opfertod wächst unsere sozialistische Tat«. Später fand ich heraus, dass dieser Platz »Buchenwald-Platz« heißt und das 1958 eingeweihte Monument der 56.000 in Buchenwald ermordeten Häftlinge, insbesondere der politischen Gefangenen gedenkt.
Nur einige hundert Meter weiter kam ich an einem großen Gebäudekomplex vorbei und sah auf einem Schild, dass diese mächtigen Bauten ab 1937 ursprünglich als Gauforum der Nationalsozialisten errichtet wurden. Der Architekt Hermann Giesler, der es entworfen hatte, schrieb: »In den Bauten des Dritten Reiches will der Nationalsozialismus zur deutschen Seele sprechen und in alle Zukunft künden von dem Durchbruch des großen heroischen Geistes, der unsere Zeit beseelt …«. Die Nationalsozialisten hatten in Weimar schon früh großen Einfluss – 1926 hielten sie hier ihren ersten Parteitag ab (als Hitler in anderen Teilen Deutschlands noch Redeverbot hatte) und schon 1932 war die NSDAP stärkste Partei. Einige Jahre zuvor hatte die rechtsgerichtete Landesregierung Thüringens, die in Weimar ihren Sitz hatte, die progressiven Künstler des Bauhaus aus der Stadt vertrieben. Die Historikerin Karina Loos beschreibt Weimar als »Sprungbrett« und »Experimentierfeld« der NSDAP auf dem Weg von München nach Berlin.
Nach diesen Relikten zweier Diktaturen, die auf je ihre eigene Weise Weimar für sich »entdeckt« hatten, kam ich in die Innenstadt, die von einem ganz anderen Deutschland erzählt. Von der Stadt Goethes, Schillers, Herders, Wielands, wo die Weimarer Klassik mit ihren Leitgedanken des Humanismus und der ästhetischen Bildung geboren wurde. Dass hier an diesem Ort geistiger Blüte das deutsche Desaster solch eine gewaltige Ausprägung fand, erzeugte für mich eine ganz eigene Konfrontation mit dem Vergangenen, das in uns gegenwärtig ist.

Einfühlendes Schauen

Aber natürlich führen in Weimar alle Wege zu Goethe. Damals, bei unserem Besuch mit der »Arbeitsgemeinschaft Literatur«, wurde uns Goethe als der Vertreter eines aufstrebenden Bürgertums präsentiert (dem dann bald die Proletarier folgten). Quasi so etwas wie ein Vorläufer des Sozialismus. Auch die Nazis fanden ihren Weg, um den großen deutschen Dichter für sich zu vereinnahmen, indem sie den Glanz des überlegenen deutschen Geistes beschwörten, für den er ihrer Meinung nach stand. Da hat es einen besonders bitteren Beigeschmack, wenn heute auch ein Alexander Gauland von der AfD Goethe herbeizitiert, um die spezifisch deutsche Kultur zu benennen, die es wiederzubeleben gelte.
Begegnet man aber dem Dichter und Denker selbst, bekommt man schnell ein anderes Bild. Beim Besuch seines Weimarer Wohnhauses haben sich für mich neue, überraschende Seiten des Universalgenies erschlossen. Denn ich wusste nicht, dass sein Wohnhaus vor allem auch ein großes Depot für Kunstwerke wie Zeichnungen, Plastiken und Vasen sowie Fundstücke aus der Natur wie Steine und Fossilien war. Goethe näherte sich der Kunst- und Naturgeschichte nicht nur über das Lesen von Büchern, sondern indem er zum Beispiel Zeichnungen verschiedener Epochen in wechselnden Abfolgen nebeneinanderlegte und sie in unterscheidender Betrachtung studierte. Mich faszinierte diese Verfeinerung des Sehens und Spürens, des sehenden Verstehens, die er hier offensichtlich übte und sich so die Welt durch eigenes Fragen und Erfahren erschloss. Auch anderen Kulturen wendete er sich mit einer solchen empathischen Offenheit zu. Mein Freund, der Künstler Axel Malik, griff in seiner Ausstellung »Die Bibliothek der unlesbaren Zeichen« einen solchen kulturellen Verständigungsversuch Goethes auf. Dabei hatte der Dichter in arabischen Schreibübungen durch das Schreiben arabischer Schriftzeichen und Worte, die er nicht verstand, versucht, sich dem Geist dieser fremden Kultur zu nähern, sich innerlich dazu in Resonanz zu bringen. Goethes einfühlendes Schauen scheint heute aktueller denn je, in einer Zeit, in der sich die Kulturen der Welt mit ihren Licht- und Schattenseiten begegnen. Wie wäre es, wenn sie – und damit wir – das in dieser behutsamen, respektvollen Weise tun würden, die uns unser deutscher Dichter vorlebte?

Erstickte Wut

In Weimar hatte ich eine weitere Gelegenheit, ein solches einfühlendes Schauen zu üben. Im Rahmen des Kunstfestes Weimar, das unter dem Motto »100 Jahre Kommunismus« stand und die Auswirkungen und heutige Relevanz dieser politischen Vision untersuchte, wurde das Stück »Allee der Kosmonauten« von Sasha Waltz aufgeführt. Die bekannte Choreografin hatte es 1996 zum ersten Mal aufgeführt und es wurde ihr internationaler Durchbruch. Es erzählt mit den Mitteln des Ausdruckstanzes und auch mit Humor und Akrobatik die Geschichte einer Familie in Ost-Berlin nach dem Mauerfall. Wie Sasha Waltz in der Einführung erklärte, war sie dafür nach Berlin-Marzahn in eine Plattenbausiedlung gefahren – in die dortige Allee der Kosmonauten – und befragte die Bewohner, die ihr Zutritt zu ihrer Wohnung gewährten. Mit den Aussagen dieser Interviews begann sie mit ihrem Ensemble zu improvisieren, bis sich um die Gefühle der Apathie, des Aufbruchs, der Nostalgie, der Langeweile, Verzweiflung, Gewalt und Komik eine Choreografie mit unglaublicher Intensität entfaltete, die einen auch heute noch berührt. In der Reflexion über die seit der Erstaufführung des Stückes vergangenen Zeit erklärte Waltz, dass die Desillusionierung, die Verunsicherung, die Frustration und Gewaltbereitschaft, die sie damals in den Interviews wahrnahm und die auch Eingang in das Stück fanden, in den letzten Jahren aus dem privaten Raum und den Körpern der Menschen in die Politik gelangt seien, wie der Aufstieg der AfD vor allem auch im Osten Deutschlands zeige. Und wirklich, die in Sasha Waltz‘ Stück noch stumme und ungelenkte Wut und Frustration scheinen heute in den politischen Debatten zu Wort zu kommen. Die Ursprünge dieser Gefühle, die Waltz in diesem Stück spürbar werden lässt, erhalten in der Tagespolitik nicht besonders viel Raum. Die Bundestagswahl hat gezeigt, wie viele Menschen sich von den etablierten Parteien nicht mehr verstanden fühlen, was die Populisten der AfD auszunutzen wussten. Eigentlich ergeht an unsere ganze Gesellschaft, und besonders diejenigen, die sich als progressiv verstehen, der Auftrag, wieder das Zuhören zu lernen. Und auch zu verstehen, dass Integration – egal ob von Flüchtlingen oder AfD-Wählern – zuerst einmal darin liegt, einander zuzuhören. Inspiriert von unserem Goethe stelle ich mir einen Flashmob vor, bei dem sich Flüchtlinge und AfD-Wähler gegenübersetzen und still die Schrift des anderen zu schreiben üben, sich Fotos ihres Lebens zeigen und ihre Lebensgeschichten erzählen, und dann ins Gespräch kommen. Sicher etwas idealistisch, aber unsere Zukunft könnte von einer solchen Haltung interessierter Offenheit mehr abhängen, als wir denken.

Die brennende Goethe-Eiche

Am Abend nach der Aufführung der »Allee der Kosmonauten« suchte ich mit Freunden noch nach einem Ort, um gemeinsam etwas zu trinken. So kamen wir in die Bar des Hotel Elephant, in dem sich, wie ich später herausfand, auch Goethe und Schiller, Wagner und Liszt und die progressiven Künstler des Bauhaus gern trafen – und in dem auch Adolf Hitler wohnte. Das Hotel Elephant und Hitler auf dessen Balkon sah ich schon bald in einem Dokumentarfilm in der Gedenkstätte Buchenwald wieder. Einige Zeit hatte ich überlegt, ob ich am letzten Tag meines Aufenthalts noch nach Buchenwald fahren oder vielleicht doch lieber einen Bummel durch die schöne Stadt oder einen Museumsbesuch machen sollte. Meine Freundin, die aus Prag stammt, wollte gern mehr über den Ort erfahren, von dem sie nun bei unserem Aufenthalt schon so viel gehört hatte. Denn in Weimar ist Buchenwald auf merkwürdige Weise überall präsent. Wie eine Wolke, die einen dunklen Schatten auf den Glanz der Klassikstadt wirft.
Der Ettersberg, auf dem das Konzentrationslager errichtet wurde, war ein beliebtes Ausflugsziel für die großen Geister Weimars. Goethe sagte über den Ort: »Hier fühlt man sich groß und frei, wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein soll.« Und man sagt, er soll sich dort an einer alten Eiche mit Charlotte von Stein getroffen haben, mit der ihn eine tiefe geistige Freundschaft verband, und dort auch Texte verfasst haben. Dieser als Goethe-Eiche bezeichnete Baum war der einzige Baum, den die SS beim Bau des KZ’s stehen ließ. Wie eine ferne Erinnerung an die Größe des menschlichen Geistes und den deutschen Humanisten muss er den Häftlingen im Schrecken des Lagers erschienen sein. Es heißt, er war für einige ein Hoffnungszeichen dafür, dass es ein Leben jenseits des Lagers gibt. Andere empfanden den Baum als zynisches Zeichen der Qual, wurden doch daran auch Häftlinge erhängt oder gefoltert. Es gab unter den Häftlingen die Sage, dass das Deutsche Reich fallen würde, wenn die Eiche stirbt. Im August 1944 bombardierten die Alliierten die Rüstungsfabrik in der Nähe des KZ’s, eine Brandbombe fiel ins Lager und setzte auch die Eiche in Brand. Es blieb nur der Stamm, der heute noch zu sehen ist. Das Deutsche Reich lebte noch neun Monate länger. Die befreiten Häftlinge schworen sich: »Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«
In Buchenwald traf ich auch Ernst Thälmann wieder, bzw. den Ort, an dem er hinterrücks ermordet worden sein soll. Ich erinnerte mich daran, wie oft ich in unserem Unterricht in der DDR die Geschichten von der Standhaftigkeit Thälmanns bis zum Tod gehört hatte. Das Selbstverständnis der DDR hing tief mit Buchenwald zusammen, verstand man sich doch als gelebtes Vermächtnis der Widerstandskämpfer, die in Buchenwald inhaftiert waren und starben. Aber ich erfuhr damals nichts vom sogenannten »kleinen Lager«, in dem in Pferdeställen vor allem Juden eingepfercht waren und die Bedingungen noch elender waren. Ich wusste auch nicht, dass das Lager von der sowjetischen Besatzungsmacht nach dem Krieg noch fünf Jahre weitergeführt wurde. In der Geschichte sehen wir gern nur das, was wir sehen wollen oder was zu unseren Überzeugungen passt.

Ein waches Leben

Meine Zeit in Weimar, der janusköpfigen Stadt, war wie ein Weg durch die Gipfel und Abgründe der Geschichte, unserer Geschichte. Licht und Schatten unserer menschlichen Möglichkeit kommen hier in solcher Intensität und Nähe zusammen, dass es schwer ist, diese Spannung auszuhalten. So erging es mir jedenfalls. Ich merkte, welche innere Kraft es braucht, um den Schecken ganz an sich heranzulassen, sich auch ihm in einfühlendem Anschauen auszusetzen. Schon aus Respekt vor den Opfern. Aber auch, um das ganze Spektrum unserer Wirklichkeit zu fühlen. Aber es braucht auch Kraft, die höchste Möglichkeit als dies stehen zu lassen und anzuschauen. Nur zu leicht schleicht sich sonst ein Zynismus ein, der die Echtheit und Möglichkeit des Guten, Schönen und Wahren anzweifeln kann.
Weimar ist ein Ort, an dem die Vergangenheit lebendig ist, und damit ist es auch ein Ort der Gegenwart und Zukunft. Denn auch heute sehen wir in der Welt hoffnungsvolle Zeichen der Menschlichkeit und Taten der Grausamkeit oder Gleichgültigkeit. Aber wie viel davon wollen wir fühlen, einfühlend anschauen? Gerade zu einem Zeitpunkt, wo jemand wie Donald Trump gewählt werden konnte und die Welt an den Rand eines Atomkriegs bringt, oder die AfD als drittstärkste Partei in den Bundestag einzieht und im Osten Deutschlands stellenweise sogar die meisten Stimmen holen konnte, wird klar, dass wir einen neuen Weg finden müssen, um Menschen nicht an die Verzweiflung zu verlieren. Unsere Geschichte und ihre Wirkung in uns kann uns dabei helfen. Und Goethe. Sein einfühlendes Anschauen, die „zarte Empirie“, wie er sie nannte, war sein Versuch, die Trennung von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt zu überwinden. Es ist sicher etwas vereinfacht, aber mir scheint, dass die Blüten, die großen Momente einer Kultur damit zu tun haben, dass diese Trennung und damit auch die Trennung zwischen uns Menschen durchlässig wird und eine Ganzheit und Verbundenheit der Wirklichkeit spürbar wird. Und die Desaster, die Kriege, Genozide, unterdrückenden Systeme aber auch der alltägliche Hass haben ihre Wurzel in der Trennung von der Welt und dem anderen. Wenn wir uns auch dem Licht und Schatten unserer eigenen Geschichte – und unseres Menschseins – aus einer solchen ungetrennten Haltung zuwenden, uns bewusst werden, wie sehr sie uns durchdringt, kann es uns nicht nur berührbarer machen, sondern unsere tiefste menschliche Möglichkeit erwecken, in dieser gebrochenen Welt zu einer Kraft der Ganzheit und Heilung zu werden.
Ein Ort wie Weimar hat die Kraft, uns im Innersten herauszufordern: Wo stehst du? Was ist deine gelebte Antwort? Diese Fragen haben mich nach diesem Besuch in Weimar noch lange beschäftigt und mir gezeigt, wie wichtig es ist, aus einer existenziellen Wachheit in jedem Moment die Entscheidungen zu treffen, die aus dem Geist der Ganzheit und Verbundenheit kommen. Womit wir wieder bei Goethe wären, an dem in Weimar einfach kein Weg vorbeiführt. Das Wort »Wachheit« kennzeichnet für den Goethe-Biografen Rüdiger Safranski am besten dessen Haltung dem Leben gegenüber: »Ein waches Leben zu führen, das ist das Ideal, mit allem, was dazugehört.«

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Erschienen in Ausgabe 16 / 2017: LICHTBLICKE FÜR EINE VERWUNDETE WELT – Die kulturelle Dimension von Heilung

Unsere Glaubensreise

Religion, Evolution und der Poet der Welt

Seit dem Beginn des Menschseins scheint uns ein religiöser Sinn innezuwohnen, der sich im Laufe unserer Menschheitsentwicklung zu immer neuen Ausdrucksformen gewandelt hat. Was kann uns dieser Prozess der Entfaltung unserer Beziehung zum Geheimnis unserer Existenz über die Relevanz und die Zukunft des Religiösen in unseren stürmischen Zeiten sagen?

Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug.
Hilde Domin

Die Geschichte der Religion ist, so könnte man sagen, auch die Geschichte einer Beziehung – der Beziehung zum Geheimnis unserer Existenz. Mit der Geburt des Menschseins scheint auch dieser Beziehungssinn geboren zu werden und ein Hinausspüren in den Kosmos, das auch ein Hineinspüren ins Innere ist: In welcher Wirklichkeit leben wir? Was ist der Grund unseres Seins? Und was begegnet uns darin an den Grenzen unseres Wissens, Könnens und Sterbens?
Für den Religionswissenschaftler Reza Aslan ist dieser religiöse Sinn etwas, das unser Menschsein von Anfang an begleitet: »Religiöser Glaube ist ohne Zweifel so weit verbreitet, dass man ihn als Grundelement der Welterfahrung des Menschen betrachten muss. Der Mensch ist ein Homo religiosus, und zwar nicht, weil wir Glaubensbekenntnisse brauchen oder uns religiöse Institutionen wünschen, bestimmten Göttern anhängen oder konkrete theologische Konzepte vertreten, sondern weil uns ein existenzielles Streben nach Transzendenz eigen ist, ein Sich-Ausstrecken nach dem, was wir als jenseits der manifesten Welt erfahren.«
Dieses Sich-Ausstrecken hat sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder zu neuen Formen gewandelt. Welche Formen das sind, hat der Theologe James Fowler untersucht und die Stufen des Glaubens erforscht, die der integrale Philosoph Ken Wilber mit seinem Modell der Bewusstseinsentwicklung verbunden hat. Was sind diese Stufen unserer Beziehung zum Göttlichen oder zu dem, was wir als göttlich empfinden und erfahren? Und was kann uns die Tatsache, dass sich religiöser Sinn durch verschiedene Ausdrucksformen entfaltet über die Zukunft der Religion sagen?

Eine kurze Geschichte des Glaubens

Die erste Stufe des Glaubens nennt Fowler intuitiv-projektiv, Wilber bezeichnet sie als magisch. Dieser Glaube in der Morgendämmerung unseres Bewusstseins schöpft aus der Intuition unseres eigenen Beseeltseins und der Beseeltheit der Natur und ihrer Wesen und Kräfte, mit denen wir uns verbunden fühlen, die wir fürchten und die wir um etwas bitten. Wir projizieren eine Absicht in die Gegebenheiten der Natur: Es donnert, weil der Himmel böse auf uns ist. Es ist eine magische Verschmelzung von Ich und Welt. Es ist eine Religiosität, die sich bei Kindern und auch bei Naturvölkern findet.
Aus dieser intuitiven Verschmelzung bildet sich nach und nach unser Ich-Sein, in dem wir lernen, zwischen innen und außen, uns selbst und der Natur und anderen Wesen zu unterscheiden. Jetzt erscheint das Göttliche oder die Götterwelt immer mehr als ein machtvolles und unberechenbares Gegenüber, das die Welt regelt und ordnet und dem wir uns unterordnen. Diese Regeln werden wörtlich genommen und müssen befolgt werden. In diesem mythisch-wörtlichen Glauben (bei Wilber magisch-mythisch) entstehen die Mythen, die die Dynamik der Götterwelt beschreiben. Mit Ritualen versuchen wir, die mächtigen Götter oder den machtvollen Gott zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Es ist der Glaube antiker Kulturen, der im Lebenslauf dem Grundschulalter entspricht.
Mit der nächsten Stufe, dem synthetisch-konventionellen Glauben (bei Wilber mythisch) sehen wir uns selbst als Teil einer Gruppe, eines Volkes oder einer Kirche. Es ist ein ethnozentrischer Glaube, in dem wir uns mit unserer Religion identifizieren und Gläubige anderer Religionen und Ungläubige als Gefahr wahrnehmen. In diesem Glauben, der die Grundlage vieler Weltreligionen bildet, gibt es einen festen Verhaltenskodex, klare Hierarchien und die heiligen Schriften und Symbole werden wortwörtlich verstanden. Diesen Glauben können wir in der Jugend ausprägen, für viele bleibt es der Glaube, der das ganze Leben bestimmt. Wir sehen ihn in Menschen, die blind ihrer Kirche oder Glaubensgemeinschaft und ihren Autoritäten folgen. Jede Kritik an ihnen oder den zugrundeliegenden Wahrheiten wird als Bedrohung erlebt, die entsprechende gewaltvolle Reaktionen hervorrufen kann.
Mit dem Schritt zu einem individuierend-reflektierenden Glauben (bei Wilber modern-rational) treten wir aus dem Umkreis einer als unfehlbar wahrgenommenen Tradition heraus und beginnen, selbst über Glaubensinhalte und das religiöse Leben zu reflektieren und können eine individuelle Beziehung zum Göttlichen ausbilden. Wir hinterfragen die überlieferten Dogmen und entdecken Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den religiösen Institutionen und Autoritäten, was bei manchem zum Bruch mit der Tradition oder dem Glauben überhaupt führt. Der Glaube gerät hier auch ins prüfende Blickfeld der Wissenschaft und hieraus kommen die theologischen Versuche, ihn rational zu begründen. Auch viele Reformbestrebungen an der Basis der Kirchen kommen aus diesem neuen Glaubenshorizont. Man könnte sagen, hier beginnt der Glaube erwachsen zu werden.
Die nächste Stufe bezeichnet Fowler als verbindenden Glauben (bei Wilber pluralistisch). Hier sind wir nicht nur gegenüber anderen Glaubensformen tolerant, sondern wir wollen sie verstehen und möglicherweise in unsere Glaubenspraxis integrieren. Hier wird der interreligiöse Dialog lebendig, psychologische Innenschau wird Teil des religiösen Lebens und die direkte spirituelle Erfahrung wichtiger als Glaubensinhalte. Diese Form des Glaubens bezeichnen viele von uns so, dass wir »spirituell, aber nicht religiös« sind und vieles in der heutigen alternativen Spiritualität kann als Ausdruck dieser Form des Glaubens verstanden werden. Diese postmoderne Spiritualität ist oft ökologisch und sozial engagiert, setzt sich für Benachteiligte, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine ökologische Haltung gegenüber der Schöpfung ein. Ein Schattenaspekt dieses Glaubens liegt darin, dass uns die Vielzahl der religiösen Optionen manchmal den Weg in die Tiefe verstellt. Und obwohl wir hier die vielen Ausdrucksformen des Glaubens wertschätzen können, finden wir noch nicht zu einer sinnvollen Integration. Auch wir selbst bleiben trotz der Fähigkeit, verschiedene Perspektiven auf das Leben einzunehmen, im Grunde von diesem Lebensstrom getrennt. Die Fixierung im Persönlichen kann zum Narzissmus werden, in dem wir uns um uns selbst drehen.
Fowler sah Anzeichen für eine weitere, umfassendere Stufe des Glaubens, die diesen Selbstbezug durchbricht. In diesem universellen Glauben (bei Wilber integral) wird die Erfahrung des Eingebettetseins in ein kosmisches Mysterium zur Grundstimmung und Motivation unseres religiösen Impulses, die sich in einem umfassenden Mitgefühl zeigt. »Die integrale Perspektive sieht sich selbst als zutiefst verwoben mit dem gesamten Universum, einem all-verbundenen, nahtlosen, lebendigen, kreativen und bewussten Kosmos«, schreibt Wilber. Auch Fowler sah diese Stufe einhergehend mit einer radikalen Selbsttranszendenz, in der der Mensch die Einheit mit dem Kosmos in seinem Leben verwirklicht.

Gott und Mensch

Wie dieser kurze Abriss der Stufen des Glaubens zeigt, scheint unser »Sich-Ausstrecken zur Transzendenz« gleichzeitig immer individueller und universeller zu werden. Die Entscheidung darüber, was wir glauben, wird zunehmend zu unserer freien Wahl. Und der Umfang der Wesen, der Welt und Wirklichkeit, denen wir eine Teilhabe an der Gegenwart des Göttlichen zugestehen, wird immer weiter und umfassender.
Reza Aslan beschreibt in seinem Buch »Gott – eine menschliche Geschichte« ähnliche Stufen des Glaubens, die er auch in seiner eigenen »Glaubensreise« wiederfindet – »von einem spirituell interessierten Kind, das sich Gott als alten Mann mit Zauberkräften vorstellte, zu einem gläubigen Christen, der sich Gott als vollkommenes menschliches Wesen vorstellte; von einem akademischen Muslim, der das Christentum um des reineren Monotheismus des Islam willen aufgab, zu einem Sufi, der erkennen musste, dass es nur einen Weg gab, die Einzigkeit, Ewigkeit und Unteilbarkeit Gottes zu erfassen, nämlich den, jede Unterscheidung zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung auszulöschen.“
In seinem Buch zeigt er auf, dass diese Geschichte unserer Beziehung zum Göttlichen auch die Erzählung einer Abfolge von Projektionen ist, in denen wir dem unergründlichen Geheimnis unserer Existenz menschliche Eigenschaften und Emotionen zuschreiben. Diese verständliche Projektion führt dazu, dass wir Gottesbilder schaffen, die vor allem dadurch Kraft erhalten, dass sie sich gegen andere Bilder abgrenzen – mit allen gewalttätigen Folgen, die wir in der Geschichte der Religionskriege und des religiös motivierten Terrorismus sehen können.
Bei der Suche nach einer Zukunft der Religion kam Aslan zu einem pantheistischen Glauben, in dem er versucht, diese Projektionen zurückzunehmen und sich einem »nicht-menschlichen Gott« zuzuwenden, der mit dem Universum eins ist. Solch ein Verständnis des Göttlichen würde seiner Ansicht nach die Religionen friedlicher, menschlicher und verantwortungsvoller machen. Denn wenn Gott alles ist, dann müssen wir mit allem so umgehen, als wäre es Gott.

Wir sind Werdende

Auch Fowler beschreibt in seinen Stufen des Glaubens im Grunde unsere Projektionen des Göttlichen. Er bezog sich in seiner Forschung auf Entwicklungsmodelle für unser Denken (von Jean Piaget) oder unsere Moral (von Lawrence Kohlberg), die ähnlichen Sequenzen und Entwicklungsrichtungen folgen. Das verdeutlicht, wie sehr die Entfaltung des Glaubens von der Entwicklung unseres Bewusstseins bestimmt wird. Das heißt, das Bild Gottes und die Qualitäten, die wir ihm zuschreiben, hängen von der Weite und Tiefe dessen ab, was wir in unserem Bewusstseinshorizont fassen können. Aber worauf richtet sich dann eigentlich unser Glaube? Auf eine tatsächlich präsente Wirklichkeit, die wir nur in zunehmender Öffnung wahrnehmen, so wie das Licht durch ein immer größeres, differenzierteres Fenster? Oder richtet sich unser Glaube einfach auf unsere menschlichen Projektionen, wie es Atheisten behaupten? Oder gibt es auch hier noch eine Perspektive, die diese Möglichkeiten übersteigt?
Vielleicht liegt eine Antwort darauf im Blick auf das grundlegendste Ergebnis von Fowlers Forschungen: die Erkenntnis, dass sich unser Glaube wandelt und entfaltet. Denn was wir daraus entnehmen können ist, dass wir als Menschen werdende Wesen sind. Damit wandelt sich auch unser Glaube, unsere Beziehung zu Gott, wobei jede der skizzierten Stufen ihre eigene Würde und Berechtigung sowie ihre eigenen Schattenseiten hat und auch weiter in uns wirksam bleibt. Diese Entfaltung unseres Bewusstseins und unseres Glaubens ereignet sich im Kontext eines Universums, das ebenfalls ein werdendes ist und sich über Materie, Leben und Bewusstsein entfaltet hat.
Wenn wir nun aber die gegenseitige Durchdringung Gottes und seiner Schöpfung ernstnehmen, dann ist, so könnte man sagen, auch Gott ein Werdender. Und indem wir Gott immer neu erkennen, erfahren und berühren, wirken wir an seinem Werden mit. Da das Universum ein schöpferischer Prozess ist, kann auch der Ursprung und Urgrund dieses Universums nicht »abgeschlossen« oder »fertig« sein, sondern nur eine offene, kreative, in immer neue Möglichkeiten ausgestreckte Wirklichkeit. So wird der Welt und dem Menschen eine eigene kreative Potenz zugestanden, die unserem Leben eine neue Würde, Kreativität und Verantwortlichkeit schenkt: Unser Leben und Handeln wandeln die Welt und letztendlich auch Gott. Unser Leben liegt in Gottes Hand, aber Gottes Leben auch in unserer.
Dies ist ein evolutionäres Verständnis von Religion, wie es von Pionieren wie Sri Aurobindo, Jean Gebser, Alfred North Whitehead, Teilhard de Chardin oder Ken Wilber erforscht wurde. Whitehead fand für dieses Gottesverständnis eine treffende Metapher: Gott ist nicht der allmächtige Schöpfer, sondern vielmehr der berührende und berührbare »Poet der Welt«, dessen Dichtung die Schöpfung ist, ein Prozess, den wir mit unserem Sein und Werden mitgestalten können. Vielleicht erkennen und verstehen wir dann uns selbst und einander als »Ko-Poeten« dieses Lebensstromes, der wir sind.

Auf offener See

Wenn wir so am Gedicht der werdenden Welt mitweben wollen, scheint eine Haltung des poetischen Ahnens angemessener als ein definierendes Wissen. Denn schließlich müssen wir uns bei allem, was wir über Entwicklungstheorien und die Geschichte des Glaubens und seiner möglichen Zukunft sagen können, auf ein lineares, rationales Denken und eine Sprache stützen, die wohl diesem Neuen noch nicht gewachsen sind.
Der Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt in seinem Essayband »Nach Gott« diese Ausgangslage des Aufbrechenden in religiöses Neuland so: »Sucht jemand aus solcher Lage nach etwas Haltgebendem, so muss er vom Bodenlosen aus selber das Tragende konstruieren. Um ein Denkbild des japanischen Philosophen Nishida zu benutzen: er ist gezwungen, auf offener See das Floß zu bauen, mit dem er sie befahren will.«
Was kann dieses Tragende sein? Vielleicht ist es genau dieses poetischen Ahnen, das uns im Bodenlosen unseres Daseins gründet und uns auf der offenen See des Werdens hält, empfänglich und wach für einen nächsten Horizont des Möglichen. Solch ein Leben schöpft aus der Erkenntnis, dass wir immer schon mit dem Gedicht der Schöpfung verwoben sind und mit unserem Sein daran teilhaben. Und aus der Demut, dass wir diese Dichtung nie ganz verstehen und erfassen werden. Sie schützt uns davor, uns erneut in Modellen und Begriffen abzusichern, auch wenn es universelle oder integrale Modelle und Begriffe sind. Unsere religiöse Intuition und Sehnsucht richten sich dann vielleicht eher darauf, immer tiefer, umfassender, kreativer und liebevoller dem Gedicht der Schöpfung zu lauschen und an der Entfaltung des Lebens mitzuwirken.

Staunende Fürsorge

Die Zeit, in der sich die Frage nach einem neuen Ausdruck unserer religiösen Grundintuition stellt, ist aber eine Zeit, in der die Grundfesten unseres Menschseins durch die Folgen unseres kollektiven Handelns erschüttert werden. Klimawandel, Artensterben, Digitalisierung, individuelle Vereinzelung, gesellschaftliche Polarisierung fragen nach einer Religion, die dieser stürmischen See gewachsen ist. Es scheint auch eine Zeit zu sein, die unser bewusstes, mitfühlendes, schöpferisches Mitwirken besonders dringend braucht. Dazu ist es auch wichtig, Wege zu finden, um uns in einer staunenden Fürsorge für unsere Welt schöpferisch zu begegnen, über alle ideologischen, religiösen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg.
In unserer säkularen Gesellschaft gilt Religion aus gutem Grunde als Privatsache, es ist die Freiheit des Einzelnen, zu glauben, was er oder sie will, so lange es die Grundsätze unseres Zusammenlebens nicht verletzt. Aber die menschlichen Fragen, aus denen der religiöse Impuls erwächst, sind nichts Privates, sie sind universell. Religion, Kunst, Philosophie, Poesie, Wissenschaft können in diesem Sinne als Versuche verstanden werden, Antworten auf die Fragen unserer Existenz, unserer Herkunft und Zukunft zu geben. Und auch die Herausforderungen, vor denen wir als Menschheit stehen, sind universell und betreffen uns alle.
Eine Religion der Zukunft könnte dazu beitragen, einen Bewusstseins- und Begegnungsraum zu eröffnen, in dem eine Sprache und innere Verfasstheit des Staunens uns an das schöpferische Geheimnis unserer Existenz erinnern. Dies ermöglicht auch Dialog und Ko-Kreation, in denen das Verbindende und Universelle unserer menschlichen Erfahrung einen wirksamen Impuls formt, der uns und unsere Gesellschaft verwandeln kann. Denn wie würden Ethik, Politik, Ökologie, Medizin, Wirtschaft, Bildung – und Religion – aussehen, in denen das Staunen vor dem Mysterium unseres Menschseins eine lebendige Resonanz findet und unser gemeinsames kreatives Handeln inspiriert? Wie könnten Beziehungsfelder oder gar eine Gesellschaft aussehen, in der wir als Ko-Poeten miteinander und mit dem unergründlichen Geheimnis unserer Existenz die Dichtung des Kosmos weiterweben?

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Erschienen in Ausgabe 21 / 2019: DIE ZUKUNFT DER RELIGION

„Zeugen im Schönen“

Facebook, Resonanz und das Konzert der Welt

Was bedeutet Intimität in Zeiten digitaler Vernetzung? Nimmt durch soziale Medien unsere Verbundenheit oder Entfremdung zu? Und wo gibt es Erfahrungsräume für eine tiefere Intimität mit uns selbst, miteinander und der Welt?

 

Vor einiger Zeit besuchte ich eine Veranstaltung zum Thema „Mensch und Smartphone“ im Schloss Freudenberg, einem Ort, der sich als Erfahrungsfeld der Sinne und des Denkens versteht. Unter dem Motto „iSinn“ untersuchten und diskutierten wir in verschiedenen Kontexten, ob das Internet, soziale Medien und Smartphones unsere Sicht der Welt erweitern oder vielleicht auch einschränken. Öffnen sie uns einen neuen Blick auf die Wirklichkeit, verbinden sie uns, machen sie uns mehr Informationen und Erfahrungen zugänglich, oder verdecken sie eher unsere direkte, unmittelbare Begegnung mit der Welt, der Natur, unseren Mitmenschen? Oder anders gefragt: Gibt es eine Intimität, die sich uns insbesondere durch unsere digitale Vernetzung erschließt? Und gibt es zugleich im Internetzeitalter eine neue Entfremdung, die uns so im abstrakten Raum digitaler Vernetzung hält, dass wir unsere eigene Stimme nicht mehr hören, den anderen nicht mehr sehen und die Welt nicht mehr spüren?
Der Tag, an dem ich dieses Seminar besuchte, war der 14. November, der Tag nach den Terroranschlägen in Paris. Am Abend, als ich nach Hause kam, setzte ich mich vor mein Laptop und ging auf Facebook. Viele bewegende Posts und Videos zeugten von Trauer und Verunsicherung, aber auch von Mut und Widerstand. Meine eigene Trauer und meine Fragen verbanden sich mit den Emotionen, die mich digital vermittelt erreichten. Ich bekam keine Antworten, meine Gefühle fanden keine Erleichterung, aber ich fühlte mich verbunden. Die Reaktionen auf das Ereignis hatten ein spürbares Netz des Mitgefühls über die Erde gespannt, in das ich eingebunden war.
Gerade auf Facebook beobachte ich aber auch ein Phänomen, das eher in die andere Richtung geht. Immer wieder sehe ich, dass sich Menschen in Kommentarspalten und Diskussions-Threads in einer Vehemenz angreifen und beleidigen, wie sie es wohl nie tun würden, wenn sie dem Menschen gegenüberstünden und in die Augen schauen würden. (Ganz abgesehen von den unsäglichen Hasskommentaren, die hier auch grassieren.) Dieser zwiespältige Eindruck hat mich dazu gebracht, mir immer wieder bewusst „facebookfreie Zeiten“ zu nehmen, auch weil das einfache Abscrollen der Posts und Nachrichten, die oft nur an der Oberfläche bleiben, mich selbst in eine „oberflächende“ Stimmung bringt – die Masse zählt, nicht die Tiefe.
Ich habe knapp über 900 Facebook-„Freunde“, davon kenne ich etwa die Hälfte persönlich, mit vielleicht 100 habe ich eine Beziehung, die man Freundschaft nennen kann, und wenn es zu wirklich engen Freunden kommt, bleiben vielleicht 25. Auf diese Weise wird ein Begriff wie „Freund/in“ neu definiert oder eben auch verflacht, ausgehöhlt. Gleichzeitig habe ich über dieses soziale Netzwerk alte Freunde wiedergefunden, wodurch sich Freundschaften weiter entfalten konnten, und der Online-Austausch hat auch zu wertvollen neuen Freundschaften geführt, die ich nicht missen möchte.
Während des Freudenberger Seminars kamen wir letztlich zu dem Schluss, das es an jedem selbst liegt, ob Internet, soziale Medien und Smartphone unsere Verbundenheit oder Entfremdung verstärken. Der entscheidende Punkt, so folgerten wir, ist die Verbindung zu unserer eigenen Kreativität, ist unsere Freiheit im Umgang mit diesen digitalen Möglichkeiten. Für mich war dies der Auslöser, weiter über die Beziehung zwischen der Erfahrung einer Verbundenheit mit der Welt und unseren neuen medialen Welten nachzudenken. Dabei fand ich als Dialogpartner einige spannende Denker, die sich dem Thema Intimität im weitesten (und tiefsten) Sinne angenommen haben.

Eine Kultur des Glatten

Eine besonders herausfordernde Entdeckung ist für mich das Buch „Die Errettung des Schönen“ von Byung-Chul Han. Natürlich entscheiden wir selbst, wie wir mit digitalen Medien umgehen, aber für Han liegt das Problem tiefer und ist grundsätzlicher.
Han bezeichnet unsere Gegenwart als eine „Kultur des Glatten“. iPhone, Brazilian Waxing und die Skulpturen von Jeff Koons nennt er als Symptome einer Kultur, die den Blick auf die Oberfläche der Dinge lenkt. Es ist eine Kultur der Gefälligkeit, eine Kultur des „Like“. Han nennt es „Positivgesellschaft“, weil wir die Oberfläche der Dinge verehren, positive, glatte Touchscreen-Erfahrungen machen wollen, aber verlernt haben, uns erschüttern zu lassen. Erschüttern zu lassen vom Anderssein des anderen, von der Wirklichkeit, das jeder von uns ein Universum ist, das nicht in ein Facebook-Profil passt. Für Han entsteht wirkliche Nähe mit einem anderen oder mit der Welt immer auch in der Erfahrung eines Widerstands. Tiefe Intimität ist nicht glatt, sie entwickelt sich, erprobt sich, differenziert sich in einem Prozess, in dem sich Widerstände, Erschütterungen, Brüche zeigen. Es ist eine Nähe, in der auch ihr scheinbares Gegenteil, die Ferne, Einzug halten kann: „Ohne Distanz ist keine Mystik möglich. Die Entmystifizierung macht alles genieß- und konsumierbar.“ Der Fokus auf das Sichtbare, Geheimnislose, Konsumierbare macht für Han unsere Kultur auch zu einer pornografischen Kultur. Alles muss sofort sichtbar sein. Selbst Information wird für Han pornografisch: „Die Information ist eine pornografische Form des Wissens. Ihr fehlt die Innerlichkeit, die das Wissen auszeichnet. Dem Wissen wohnt insofern eine Negativität inne, als es nicht selten gegen einen Widerstand zu erringen ist.“
Für Han sind all dies Symptome einer „Krise des Schönen“: Wir haben dem Schönen die Tiefe und Verbindlichkeit genommen. Er schreibt: „Die Sexyness ist der moralischen Schönheit oder der Charakterschönheit entgegengesetzt. Moral, Tugend oder Charakter haben eine besondere Zeitlichkeit. Sie beruhen auf der Dauer, Festigkeit und Beständigkeit.“ Und weiter: „Je charakter- und gestaltloser, je glatter, je aalglatter man ist, desto mehr Friends hat man. Facebook ist ein Markt der Charakterlosigkeit.“ Diese Krise des Schönen diagnostiziert Han in unserem Umgang mit Kunst, Politik, Moral, Wahrheit. Für ihn kann uns nur eine „Errettung des Schönen“ weiterführen. Und wie sieht die aus?
In gewissem Sinne kommt auch Han zu unserer innewohnenden Kreativität und Schöpferkraft zurück, er nennt es „Zeugen im Schönen“. Denn eine Gefahr unserer digitalen Kultur ist, dass sie uns passiv macht, steuerbar, konsumfreudig, durchsichtig. So ist auch das Schöne nach den Vorgaben des Konsums geglättet, verflacht, beliebig, bequem und behaglich geworden. Das „Zeugen im Schönen“ ist für Han auch eine Wiederentdeckung des Verbindlichen. Ein schönes Wort, finde ich, weil es Verantwortungsgefühl oder Treue mit Verbundenheit zusammenführt.

Resonanzraum

Verantwortungsgefühl und Verbundenheit berühren auch eine andere Erfahrung, die mir beim Nachdenken und -spüren zum Thema Intimität immer wieder begegnet ist: Resonanz. Denn was Han kritisiert, ist auch eine Unfähigkeit zur Resonanz. Der Soziologe Hartmut Rosa, der den Begriff der Resonanz momentan stark in den Diskurs bringt, meint mit Resonanz, „dass einem Menschen die Welt als antwortend, atmend, tragend, wohlwollend oder sogar gütig erscheint.“ Es ist eine Erfahrung der Verbundenheit, die viele von uns in menschlicher Begegnung, ästhetischen Erfahrungen, in der Natur oder auch in Gebet, Meditation und spiritueller Praxis finden. Für Rosa kann aber auch Politik mehr oder weniger Resonanz erzeugen, nämlich je nachdem, wie sehr sich die Menschen wirklich gemeint fühlen, ob ihre Anliegen bei politischen Entscheidungsträgern eine Stimme finden. Politikverdrossenheit ist also vielleicht auch ein Symptom mangelnder sozialer Resonanz.
Interessant finde ich, dass Resonanz diesen Pol der Verbundenheit hat, aber auch den Pol der eigenen Verantwortung, vielleicht auch im Sinne einer Fähigkeit zum Antworten. Aber dazu muss ich mich selbst kennen, muss mit mir selbst innig verbunden sein, meine eigene Stimme hören, meine kreativen Impulse spüren. Das ist in unserer lauten Kultur gar nicht so einfach. Der Philosoph Peter Bieri bringt es auf den Punkt: „Ich möchte in einer Kultur der Stille leben, in der es vor allem darum ginge, die eigene Stimme zu finden.“
Erst auf dieser Grundlage habe ich überhaupt die Charakterstärke und den inneren Raum, um in Resonanz zu gehen. Deshalb ist für Rosa auch unsere Beschleunigungs- und Reizüberflutungskultur ein Resonanzverhinderer.

In der Atmosphäre

In einer kreativen Spannung zwischen Zutiefst-bei-mir-sein und dem berührungsfähigen Antworten auf die Welt lebt auch die Erfahrung der Atmosphären. Wir alle kennen die Erfahrung einer heiteren, traurigen, aufgeladenen, angespannten oder entspannten Atmosphäre in Räumen, in Landschaften, im Erleben mit anderen Menschen. Wenn man diese Erfahrungen genauer betrachtet, sind sie ein Geheimnis, weil sie weder ganz in einem selbst zu leben scheinen, noch in den Gegenständen oder Räumen. Der Philosoph Gernot Böhme, der „Atmosphäre“ als Grundlage einer ästhetischen Theorie aufgegriffen hat, schreibt: „Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in Bezug auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren.“
Vor einiger Zeit sah ich in einer Ausstellung „Die Straßenbahnhaltestelle“ von Joseph Beuys. Eine Installation mit einer Straßenbahnschiene und einer Stele mit einem Kopf darauf. Als ich sie betrachtete, war mir das, was ich da sah, zunächst sehr fremd. Aber ich spürte eine Atmosphäre. Und in den folgenden Minuten hatte ich das Gefühl, in die Atmosphäre dieses Kunstwerkes einzutauchen, in Resonanz zu gehen. In mir stieg ein Strom von Assoziationen auf, die mit Weichenstellung im Leben, dem Treffen von Entscheidungen, mit Ankunft und Abschied, mit Auf-dem-Weg-sein zu tun hatten. Fragen, die für mich eine Bedeutung hatten. Das Kunstwerk antwortete mir. Aber was in mir angeregt wurde, war nicht nur in mir, es war auch nicht objektiv im Kunstwerk, es entstand, emergierte im Dazwischen, in dem merkwürdigen Raum, in dem Fremdheit und Nähe zusammenfließen zu der Erfahrung einer bedeutsamen, einer sprechenden Welt. Ähnliche Erfahrungen kennen viele von uns in den Atmosphären der Natur, einem dichten Wald, am Meer, im Gebirge. In solchen Erfahrungen brechen wir den Panzer eines von der Welt getrennten Ichs auf, für Böhme werden wir aber gleichzeitig einer tieferen Natur der Dinge gewahr. Er nennt es die „Ekstase der Dinge“. Die Dinge der Welt sind nicht einfach nur da, sie sind ekstatisch, sie treten aus sich heraus, sie schwingen, sie resonieren, sie antworten.
Vielleicht kann man sagen, dass Erfahrungen wie Resonanz und Atmosphäre auf das Offene hindeuten: Ein offenes Selbst und eine offene Welt. Ich öffne mich der Welt, ihrer Schönheit und ihrem Grauen, lasse mich berühren, erschüttern, verunsichern, erfüllen und ich antworte mit meiner eigenen Stimme, meinem „Zeugen im Schönen“. Ich antworte einer Welt, die nicht mehr ein verschlossenes Gegen-über ist, voller Gegen-stände. Die Welt öffnet sich, sie lässt sich sehen, erkennen, spüren, gestalten, verändern. Und unsere (Ant-)Wort kann wie ein Schlüssel sein, wie es Joseph von Eichendorff in seine bekannten Verse gebracht hat:

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

Das Konzert der Welt

Gernot Böhme führt als einen frühen Vertreter einer „Resonanzphilosophie“ seinen Namensvetter, den Mystiker Jakob Böhme an. Er lebte im 16. Jahrhundert und galt Hegel als „der erste deutsche Philosoph“. Aber Böhme war eben auch und vor allem Mystiker, der in seiner Schrift „De Signatura Rerum“ die Wirklichkeit als ein großes Konzert beschreibt. Jeder Gegenstand und jedes Wesen sind für ihn ein Resonanzkörper, der einen spezifischen Klang hervorbringen kann. „Ein jedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung. Und das ist die Natur-Sprache, daraus jedes Ding aus seiner Eigenschaft redet, und sich immer selber offenbaret, und darstellet, wozu es gut und nütz sey.“ Was wir Welt nennen, ist also in dieser Vision eine Wechselwirkung zwischen klingenden Körpern, die erst im Zusammenklang ihre Bestimmung, ihren Ausdruck finden. Für Böhme ist dieser große Klang vom „Hall“ Gottes durchdrungen, der dieses kosmische Konzert erst möglich macht. Für den Menschen als bewusstes Wesen besteht die Aufgabe und Möglichkeit darin, mit diesem Klang der Dinge in Beziehung zutreten, ihn in den Dingen zu erwecken, das „Zauberwort“ zu finden.
In diesem Sinne ist Intimität mit dieser klingenden Welt etwas von Grund auf Aktives, Schöpferisches, ein „Zeugen im Schönen“. Es ist der Gegenentwurf zu einer Kultur des Konsumierens, des Glatten und des Gefallens. Für Jakob Böhme ist die Voraussetzung für diese schöpferische Nähe mit allem die „Gelassenheit“, womit er meinte, dass wir unserer „Ichheit absterben“ und uns Gott „einergeben“. Für ihn ist aber Gott nicht getrennt von dieser Welt, sondern das Konzert der Welt ist der „Hall“, in dem sich Gott ausdrückt und schafft. Der ganze Kosmos ein heiliger Resonanzraum, in dem die Schöpfung schwingt, und jede konkrete Begegnung ein Ton in der Symphonie des Seins. In ihr erfüllt sich die Innigkeit zwischen uns und der Welt – oder eben nicht.

Klingende Nähe

Damit sich diese Innigkeit erfüllen kann, brauchen wir Raum. Eine innere Freiheit, die uns aus einer gewissen „Tyrannei der Nähe“ befreit, die uns durch digitale Medien, ständige Verfügbarkeit, psychologische Selbsthilfemethoden und schnelllebige Informationen oft in kommerzieller Absicht „nahegebracht“ wird. Nähe, schöpferische, lebendige, klingende Nähe braucht einen Raum, in dem sich unsere Verbundenheit zeigen, erkennen und entwickeln kann. Dia-log, das „Zwie-gespräch“, ist eine Erfahrung, in der das tiefe Ich-selbst-sein mit dem Anders-sein in einem Raum der Freiheit zu schöpfersicher Verbundenheit findet. Deshalb sagt es viel über unsere Kultur, dass Dialog so selten geworden ist. Byung-Chul Han beobachtet: „Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen, ja zum Zuhören verschwindet heute auf allen Ebenen.“
Bei der Arbeit an dieser Ausgabe hatte ich eine eindrückliche Erfahrung der Möglichkeit des Dialogischen. Ich rief Stephan Guber an, den Künstler, dessen Arbeiten wir in dieser Ausgabe für die Gestaltung nutzen dürfen. Ich wollte einen Telefontermin für ein Interview mit ihm verabreden. Er aber bestand darauf, dass wir uns persönlich treffen, das Thema sei doch schließlich „Intimität.“ Als wir uns dann gegenübersaßen, verstand ich, was er meinte. Seine Kunst hatte mich immer beeindruckt, und doch waren sie und auch er selbst als Künstler und Mensch immer auch etwas fremdgeblieben. Als wir uns aber in diesem Gespräch aufeinander einließen, auf die Andersheit des Anderen, in wachem Interesse, im offenen Zuhören, berührten wir immer wieder diese Punkte, wo wir aus verschiedenen Blickwinkeln auf eine existenziell bedeutsame Erfahrung blickten, sie gemeinsam spürten, nachhallen ließen, zusammen ahnend die Wahrheit des Kosmos berührten. Es war ein „Zeugen im Schönen“, im Konzert der Welt, als wären wir zwei Instrumente, deren Klang einander und dem Ganzen antwortete. Einfach. Menschlich. Intim.

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Erschienen in Ausgabe 09 / 2016: GANZ NAH – Intimität als Herz des Lebens

Der Kosmos in uns

Die Geschichte des Lebens in unserem Körper

Die Entwicklung, die den Kosmos, das Leben und unseren Körper hervorgebracht hat, lebt in uns weiter. Eine Reise durch unsere Entstehungsgeschichte, die heute in uns über sich nachdenkt.

„Wir alle sind aus Sternenstaub“, singt die Band „Ich+Ich in ihrem Song „Vom selben Stern“. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Elemente unseres Körpers in einer Supernova entstanden sind, hat Einzug in die Popkultur gehalten. Die Wissenschaft zeigt aber auch, dass alle biologischen Prozesse, die in uns wirken, im unvorstellbar langen Lauf der Evolution entstanden sind. Die Frage ist berechtigt: Was bedeutet das eigentlich für uns – abgesehen von einer poetischen Verwandtschaft von Mensch und Stern oder Mensch und Natur? Vielleicht verstehen wir ja unser Menschsein und damit auch unser Körpersein erst wirklich, wenn wir uns als eingebettet in einen Prozess sehen, der weit über uns hinausgeht und durch uns hindurchläuft – und sich in uns seiner selbst bewusst wird.

Im All geboren

Also, wie ist das nun mit dem Sternenstaub? Um eine sehr sehr lange Gesichte sehr sehr kurz zu machen: In der gigantischen Explosion des Urknalls vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden nur zwei Elemente, Wasserstoff und Helium. Diese Elemente verbanden sich etwa 200 Millionen Jahre später unter dem Einfluss der Schwerkraft zu Sternen und in der Folge entstanden Galaxien. In den Sternen, die vor allem aus Wasserstoff bestehen, wird durch Druck uns Hitze mehr Helium produziert. Dabei entsteht Energie, die den Stern leuchten lässt. Wenn der gesamte Wasserstoff zu Helium umgewandelt wurde, verringert sich der Druck in seinem Inneren. Der Stern kann der Schwerkraft nicht mehr standhalten, wird zusammengedrückt und dichter und heißer. Nur unter diesem Druck und dieser Hitze können die schweren Elemente entstehen, aus denen unser Körper und die gesamte materielle Welt besteht. Der sterbende Stern explodiert als Supernova und schleudert die Elemente ins All, aus denen viele Milliarden Jahr später Planeten wie unsere Erde entstehen.
Jetzt, wenn Sie diese Zeilen lesen, tun Sie es in einem Körper und einer Welt, deren Ursprung in diesen kosmischen Explosionen liegt. Der Kosmologe Brian Swimme schreibt: „Das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen, die Nahrung, die wir essen, die Moleküle, aus denen unser Körper besteht – sie alle gehen auf eine Sternenexplosion zurück. … Schau dir deine Hand an. Jedes Element wurde in Temperaturen geschmiedet, die millionenfach heißer sind als geschmolzenes Gestein, jedes Atom wurde in lodernder Sternenhitze geformt, deine Augen, dein Gehirn, deine Knochen – alles an dir ist aus Schöpfungen eines Sterns zusammengefügt. Du bist dieser Stern, in eine Lebensform gebracht, die es dem Leben ermöglicht, sich selbst zu erkennen.“
Aber bis dahin war es noch ein langer Weg.

Wir sind Natur

Vor 4,5 Milliarden Jahre war die Bildung unserer Erde abgeschlossen, ein fester Planet mit einer Temperatur, in der Wasser flüssig bleibt. In den Ozeanen dieses Planeten tat das Univerum einen weiteren unergründlichen Schritt, dem wir unser Leben verdanken und wohl nie ergründen werden. Nicht umsonst nennt ihn der Ökologe Holmes Rolston III den zweiten Urknall: Das Leben kommt in die Welt. Erst sind es Einzeller, dann mehrzellige Organismen. Vor 2,5 Milliarden Jahren entstanden Bakterien, die die Erdatmosphäre umbauten, um die Luft zu ermöglichen, die wir heute atmen: durch Photosynthese konnten sie Sauerstoff bilden. In der nun folgenden Evolution bildete das Leben eine Innovation nach der anderen, denen wir heute unser Leben verdanken: genetischer Code, Sexualität, Immunabwehr, Blutkreislauf, zentrales Nervensystem, Lungenatmung, beidäugig koordiniertes Sehen.
Die neue evolutionäre Entwicklungsbiologie (EvoDevo) zeigt, dass dies nicht einfach nur ein „dummer“ Prozess von Versuch und Irrtum war, sondern eine komplexe Interaktion zwischen jedem Lebewesen und seiner Umwelt und sich verändernder Bedingungen. Die Evolution verläuft nicht blind, sondern „sehend“, vielleicht sogar „intelligent“. In dem Sinne, dass Evolution durch eine wie auch immer geartete Wahrnehmung der Umwelt geschieht, auf die mit Anpassung reagiert wird. Diese Abstimmungsprozesse finden seit Milliarden von Jahren in jeder Zelle, in jedem Lebewesen, in jedem Grashalm, in jeder Schnecke statt – auch in diesem Moment. Ein Spaziergang durch die Natur in diesem Bewusstsein kann uns ein Gefühl dafür geben, in welchem Wunder wir eigentlich unterwegs sind: Die Natur und damit unser Körper ist damit im wahrsten Sinne des Wortes ein intelligentes Netz werdender Lebendigkeit.
In der Integration und Verfeinerung der evolutionären Erfindungen hat unser menschlicher Körper eine nie da gewesene Komplexität erreicht. Nicht nur durch den aufrechten Gang, durch den wir uns als Spezies anschickten, einen anderen Weg als alle anderen Tiere einzuschlagen. Vor allem die Ausprägung unseres Gehirns zum komplexesten Organ der Schöpfung versetzte uns in die Lage, die zu sein, die wir heute sind: selbstbewusste Wesen.
Dabei tragen wir in unserem Gehirn die Geschichte des Lebens in uns: Der Hirnstamm, der die grundlegenden Reflexe und Überlebensfunktionen wie Atmung und Verdauung steuert, das Mittelhirn, das wir mit allen Säugetieren gemein haben und schließlich der Neokortex, der unser selbstreflexives Bewusstsein ermöglicht.
Und dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. In der Tat ist der Körper selbst ein ständiger Prozess: Ständig nehmen wir Luft auf und geben sie wieder ab, nehmen Nahrung auf und geben die Abfallprodukte wieder ab und viele Zellen des Körpers werden ständig erneuert. Zwischen zehn und fünfzig Millionen Körperzellen pro Sekunde baut der menschliche Körper ab und ersetzt sie durch neue Zellen.

Lebensfeuer

Dieser kleine Abriss zeigt schon, dass unser Körper mit all seinen fein abgestimmten Systemen ein Werk der Evolution ist – ein wahres Wunderwerk. Und die Lebendigkeit, die wir im Körper spüren, ist der Puls des Lebens selbst. Denn was hat die Evolution des Lebens vorangetrieben? Es war der Imperativ des Überlebens, ein unbedingtes Ja zum Leben. Für alle Tiere ist das Überleben der höchste Wert. Nun kann man natürlich sagen, dass es hier nur um die Weitergabe der Gene geht. Aber vielleicht ist dieses Lebensfeuer selbst noch mehr.
Für den Lebensdrang, den wir in der Evolution der Natur wahrnehmen, hat der Biologe Andreas Weber drei „Gesetze der Sehnsucht“ formuliert. Das erste Gesetz der Sehnsucht besagt, dass „alles, was lebt, mehr Leben will“. Allen Wesen ist ihr eigenes Leben wichtig und sie empfinden sich „als Körper unter Körpern“. Das zweite Gesetz der Sehnsucht besagt, dass sich die Macht des Verlangens nach Leben im lebenden Leib zeigt. „Lebewesen sind deshalb keine Maschinen. Sie sind Werkzeuge der Sehnsucht.“ Das dritte Gesetz der Sehnsucht lautet: „Nur im Spiegel anderen Lebens können wir uns selbst verstehen.“ Weber weiter: „Alles Leben ist Geflecht. Blattadern, Baumkronen, die Kapillargefäße in der Hand des Säuglings: Wenn man genau hinschaut, dann zeigen sich fast alle Körper als Muster von Verbindung und Überlagerung.“
Die Sehnsucht nach Leben hat dabei nicht nur zum Überleben geführt, sondern auch zur Entwicklung höherer Lebensformen mit immer komplexeren Organen der Wahrnehmung und Interaktion. Das Leben wurde immer intelligenter. Im Menschen hat sich mit dem Auftreten des Selbstbewusstseins ein Quantensprung vollzogen, die Lebendigkeit des Lebens wird sich seiner selbst bewusst. Rolston bezeichnet es als den dritten Urknall unserer Evolution.

Mensch und Welt

Was bedeutet es für uns als verkörperte Menschen, wenn wir uns als Teil der Evolution erfahren? Wie wir gesehen haben, reicht unser Körper weit in die Geschichte zurück – oder andersherum, die Geschichte des Universums ist in unserem Körper präsent. Für den Philosophen Wolfgang Welsch ist diese „evolutionäre Prägung des Menschen“ ein Schlüssel für ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Welt. Er sagt: „Die Evolution liegt nicht hinter uns. Sondern wir haben den Gang der Evolution in uns.“
Für Welsch könnte diese Erkenntnis der Schritt über die „Denkform der Moderne“ hinaus sein, die gekennzeichnet ist von der Trennung zwischen Mensch und Welt, Geist und Körper. Vereinfacht gesagt hat die Moderne den Menschen ins Zentrum des Erkennens gestellt. Diderot sagte schon 1755: „Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss.“ In der Folge, so beobachtet Welsch, hat sich die westliche Denktradition in verschiedenen Ausformungen an die primäre Stellung des Menschen gehalten. Im Erkennen unserer evolutionären Natur sieht Welsch einen anderen Blickwinkel auf den Menschen: „Lebt der Kosmos nicht in uns fort? Sind wir nicht gar kosmische Wesen? … – Vielleicht hatte Herder Recht, als er sagte, das Verständnis des Menschen müsse vom Kosmos seinen Ausgang nehmen.“
Als Folge dieser Überlegungen entwirft Welsch eine philosophische Ganzheitsperspektive, in der Mensch und Welt aufs Innigste zusammengehören. Auch unsere kognitiven Fähigkeiten sieht er zurückreichen bis in die Tiefen der Evolution, bis zurück zu den ersten Bakterien und ihren „sensorischen und informationsleitenden Strukturen in der Zellmembran“. Welsch versucht nachzuvollziehen, wie uns solch eine Verbundenheit mit der Welt verändern würde. Er gibt dafür ein Bild: „Er geht wochenlang an der Küste entlang. Mit der Zeit verändert sich sein Verhältnis zu Wasser und Strand, zu Felsen, Tieren und Wolken. Immer mehr gewinnt er den Eindruck, als wären dies nicht Dinge von wirklich anderer Art als er selbst, sondern als wären diese Dinge und er weithin gleichartig. Nach Monaten wird es ihm zur Evidenz: Wir Menschen sind Gefährten, Verwandte und Partner, Zeit- und Schicksalsgenossen all dieses anderen Seienden, wir und es sind von der gleichen Art, sind aus dem gleichen Stoff.“

Körper Kosmos

Viele von uns kennen solche „evolutionären Einheitserfahrungen“. Im Lichte unserer evolutionären Geschichte werden sie verständlich als ein Wiedererkennen, als ein beglückendes, dankbares Wiedererkennen. Brian Swimme beschreibt dieses Wiedererkennen im Hinblick auf unsere „Sternennatur“ so: „Sie haben Bilder von sich selbst als kleines Kind gesehen, wenn Sie dieses Kind anschauen, dann betrachten Sie sich selbst. Dann wird sich aber dieses Kind seiner eigenen Schönheit bewusst. Sind Sie nicht die Weiterentwicklung dieses Kindes? Natürlich, aber das Kind scheint auch anders zu sein als Sie. Aber genau so ist es mit den Sternen. Wir wissen, dass wir eine Weiterentwicklung des Sterns sind, aber wir wissen, dass wir anders sind als der Stern. Der Stern entwickelt sich durch den menschlichen Geist zum selbstflexiven Bewusstsein seiner Schönheit und kreativen Tätigkeit.“ Und weiter: „Wenn wir unser Bewusstsein für die einfache Wahrheit vertiefen, dass wir nur durch die Kreativität der Sterne hier sind, dann spüren wir Dankbarkeit. Wenn wir darüber reflektieren, wie viel Arbeit in die Entwicklung des Lebens gegangen ist, dann spüren wir Ehrfurcht. Und in unserem tiefsten Herzen verbinden wir uns mit unserer eigenen Kreativität.“
In unserem Körper und in unserem Geist sind wir Erben der unaufhaltsamen Kreativität des Universums. Wenn wir unseren Körper als Ausdruck dieses Werdens erfahren, dann wird die Lebendigkeit, die wir darin spüren, transparent für die Lebendigkeit des einen Lebens des Ganzen. Wir spüren unseren Körper nicht mehr als getrenntes Ding, sondern vielmehr als Organ eines viel größeren Leibes: des Kosmos. Wenn wir uns dieser Lebendigkeit mehr und mehr bewusst werden, sie mit Gewahrsein durchdringen und in Liebe umarmen, dann kommt in uns der Kosmos zu sich selbst. Der große Mystiker der Evolution Teilhard de Chardin sagte über diese Aufgabe unseres Menschseins: „Im Herzen der Materie erscheint ein purpurnes Leuchten, in dem sich die Bestimmung des Kosmos ankündigt, in Liebe vollendet zu werden. Das Leuchten der Materie geht über in das Gold des Geistes, um sich in der Glut des Universal-Personalen zu vollenden.“

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Erschienen in Ausgabe 05 / 2015 VOM KÖRPER DEN WIR HABEN ZUM LEIB DER WIR SIND

Burnout, Resilienz und Transformation

Stärke aus Verbundenheit

Was macht uns innerlich stark? Warum werden Menschen von Schicksalsschlägen für immer gezeichnet, während andere wieder den Mut zum Leben finden? Eine Spurensuche im Umkreis von Resilienz, Salutogenese und Weisheit.

Die Diagnose Burnout ist momentan allgegenwärtig. In unserer immer schneller werdenden Welt sind wir mit vielen Stressauslösern konfrontiert: ständig steigende Anforderungen am Arbeitsplatz; Angst davor, ihn zu verlieren; die Informationsflut und die permanente Erreichbarkeit durch Mobiltelefone und Internet; der Spagat zwischen Kindererziehung und Karriere – und als Hintergrundrauschen die Krisen in der Finanzwelt, der Ökologie und Politik, die uns ständig begleiten. All das kann uns emotional so in die Enge treiben, dass unsere innere Kraft versiegt und wir ausbrennen.
Die Idee der Resilienz oder psychischen Widerstandskraft scheint einen Ausweg aus diesem Dilemma zu ermöglichen. Längst beschäftigt sich auch die Wissenschaft mit dem Thema, Ratgeber für mehr psychische Stabilität werden zu Bestsellern, Seminare zu Resilienz als Burnout-Prophylaxe sind ausgebucht. Dabei werden oft Methoden aus der Psychologie oder auch Achtsamkeitsübungen angewendet, die Menschen eine innere Zentrierung entwickeln lassen. Aber geht es hier eigentlich nur um ein Problem auf der individuellen, persönlichen Ebene? Oder zeigt sich in den steigenden Burnout-Zahlen nicht auch eine tiefere Misere unserer Kultur? Der Soziologe Hartmut Rosa stellt als Folge der ständigen Beschleunigung eine zunehmende Entfremdung von uns selbst und der Welt fest. Der Philosoph Byung-Chul Han spricht von einer „Müdigkeitsgesellschaft“ und sieht Burnout und Depression als Krankheiten unserer Zeit. Es scheint, als könnten wir mit der Komplexität der Welt nicht mehr mithalten. Und obwohl es sicher viele hilfreiche Methoden gibt, scheint eine radikalere Umorientierung nötig. Worin diese bestehen kann, zeigt sich vielleicht, wenn wir die Resilienz, unsere innere Stärke, bis zu ihrer Quelle zurückverfolgen, die wiederum unser ganzes Sein in der Welt verwandeln kann.

Gestalter, nicht Opfer

Als Pionierin der Resilienzforschung gilt die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner. In den 70er Jahren führte sie eine Langzeitstudie zu der Frage durch, wie sich Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, zu Erwachsenen entwickeln. Die Eltern der Kinder waren zum Teil psychisch auffällig, alkoholkrank, arbeitslos und/oder arm. Unerwartet bei ihren Untersuchungen war für Werner, dass ein Drittel dieser Kinder sich trotz dieser schwierigen Erfahrungen in der Kindheit normal entwickelte. Sie schlussfolgerte daraus, dass diese Kinder über besonders starke psychologische Widerstandskräfte verfügten. Werner unterschied drei Aspekte, durch die diese Kinder trotz allem gesund heranwachsen konnten: Persönliche Faktoren wie ein positives Selbstkonzept, eine unterstützende Beziehung zu mindestens einem emotional stabilen Familienmitglied und eine Gemeinschaft oder eine Gruppe Gleichaltriger, in der sich das Kind aufgehoben fühlt.
Seit diesen grundlegenden Untersuchungen von Werner hat sich das Feld der Resilienzforschung rasant entwickelt. Die American Psychological Association hat eine zehn Punkte zählende „Road to Resilience“ formuliert, die neben der Pflege von Beziehungen vor allem eine zentrale Haltung charakterisiert: Das Selbstvertrauen, uns auf die Möglichkeiten der Veränderung zu fokussieren, die sich aus einer schwierigen Situation ergeben. Diese Fähigkeit wird als „Kontrollüberzeugung“ bezeichnet. Toni Faltermaier vom Institut für Psychologie der Universität Flensburg erklärt: „Wenn wir diese Kontrollüberzeugung besitzen, sehen wir uns eher als Gestalter unseres Schicksals und weniger als Opfer der Ereignisse.“ Ein weiterer Faktor ist unsere emotionale Intelligenz, ein Begriff, der durch die Arbeit von Daniel Goleman bekannt wurde und darauf verweist, dass wir unsere Emotionen einfach wahrnehmen können, ohne sie zu dramatisieren oder zu verharmlosen. Zudem sind wir in der Lage, sie positiv zu beeinflussen. Wir können uns zum Beispiel bei Angstgefühlen beruhigen oder aus unseren Emotionen bewusst Handlungen folgen lassen, die unseren eigenen Werten und Zielen förderlich sind.
Interessanterweise konnte in einer Studie mit Witwen herausgefunden werden, das sich diejenigen Frauen als besonders resilient zeigten, die starke Emotionen zulassen konnten – sowohl Gefühle der Trauer wie auch Gefühle des inneren Friedens und der Akzeptanz des Schicksalsschlages. Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass ein wichtiger Faktor für Resilienz die „emotionale Komplexität“ ist, die Fähigkeit, während einer Stresssituation verschiedene starke Emotionen zu erfahren, ohne dabei von ihnen vereinnahmt zu werden.
Wichtig für die Fähigkeit emotionaler Komplexität scheint auch die richtige Verbindung von Denken und Fühlen zu sein. Einem zentralen Punkt der „Road to Resilience“ gemäß ist dabei eine langfristige Perspektive hilfreich, in der die momentanen Schwierigkeiten in einem größeren Kontext gesehen werden können. Hier bildet also die rationale Fähigkeit, das eigene Leben als ein sinnvolles und gestaltbares Ganzes zu sehen einen Kontext für zunächst überwältigend scheinende Emotionen.
Damit wird auch deutlich, dass für Resilienz ein gewisser innerer Abstand zum emotionalen Erleben unterstützend ist. Diese Fähigkeit zur Distanzierung lässt sich durch Achtsamkeitsübungen und Meditation schulen. Wir erfahren Gedanken und Gefühle, ihr Kommen und Gehen, sind aber nicht unauflösbar in sie verstrickt. Meditatives Bewusstsein ist einerseits ein neutrales Beobachten, lässt andererseits aber auch positive Gefühle in uns erwachen, wenn wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit von den Inhalten des Bewusstseins – zum Beispiel Gedanken, Emotionen, Erinnerungen – zum reinen Gewahrsein lenken. Diese Freiheit von Gedanken und Emotionen „fühlt sich gut an“ und bringt uns in Verbindung mit einer inneren Freude und Zufriedenheit, die zu einer tiefen Ressource in stressvollen Situationen werden kann.
Diese psychische Erleichterung bildet allerdings nicht das eigentliche Ziel der meditativen Übungen. Vielmehr geht es dabei um den Kontakt mit einer existenziellen Sphäre in uns, in der unsere Trennung vom Ganzen des Lebens durchlässig wird oder sich gar auflöst. Unsere Individualität im Sinne eines Getrennt-Seins von der Welt relativiert sich und wir fühlen uns aufgehoben in einem größeren Zusammenhang. Diese Sphäre einer existenziellen Zugehörigkeit und eines grundlegenden Lebensvertrauens ist die eigentliche Quelle von Resilienz. Aus ihr entsteht eines der kostbarsten Güter für uns Menschen, ohne das wir innerlich verarmen: Sinn.

Der Sinn, der uns übersteigt

Etwa zur gleichen Zeit wie Emmy Werner untersuchte der israelische Soziologe Aaron Antonovsky die Lage von Frauen, die den Holocaust überlebt hatten. Trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse war ein Drittel der Frauen psychisch stabil geblieben. In einem weiteren Schritt formulierte Antonovsky daraus seinen Ansatz der „Salutogenese“. Als entscheidend für die sogenannten Widerstandsressourcen sah er das Kohärenzgefühl an. Hierbei waren für ihn drei Aspekte wichtig: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit und Bedeutsamkeit oder Sinnhaftigkeit.
Verstehbarkeit ist die Überzeugung, dass wir die Ereignisse unseres Lebens verstehen und geordnet erfassen und beeinflussen können; Bewältigbarkeit ist das Wissen, dass wir in uns und um uns die nötigen Ressourcen finden, um diesen Ereignissen konstruktiv zu begegnen. Aber der dritte Aspekt war für Antonovsky der wichtigste. Denn ohne einen Sinn, der den Menschen zum Überleben, zum Weitermachen, zur Auseinandersetzung mit schwierigen Erfahrungen bewegt, wird ihm die innere Motivation fehlen, um auf schwierige Begebenheiten zu antworten.
In der Tat haben Menschen, die selbst unter schrecklichsten Umständen ihre Würde bewahren konnten, eine innere Widerstandsfähigkeit gezeigt, die über das menschliche Vermögen hinauszugehen scheint. Es sind Menschen wie Viktor Frankl (… trotzdem Ja zum Leben sagen), die kürzlich im Alter von 111 Jahren verstorbene Alice Herz-Sommer oder Etty Hillesum, die im Konzentrationslager schrieb: „Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten – all das ist in mir ein einziges starkes Ganzes, und ich beginne immer mehr zu begreifen, wie alles zusammenhängt, ohne es bislang jemandem erklären zu können.“
Durch solche Worte spricht ein Erspüren der Sinnhaftigkeit, in der uns tiefere Ressourcen als nur die der eigenen Psyche zugänglich scheinen. Wie in der Meditation können uns solche Erfahrungen geheimnisvoller Bedeutsamkeit in eine Verbundenheit mit etwas führen, das unser getrenntes Dasein übersteigt. Die Erfahrung von Verbundenheit und Einheit war immer eines der Anliegen mystischer Wege, weil sich darin unser Selbstgefühl erweitern kann. Wir sind dann nicht mehr nur ein persönliches Selbst, sondern unser Selbsterleben schöpft aus der ungetrennten Tiefe unseres innersten Wesens und dem sich entfaltenden Prozess des Lebens in uns, in anderen Menschen und in der Welt.

Weisheit ist lernbar

In den großen spirituellen Traditionen gilt die Erfahrung dieser existenziellen Verbundenheit als stärkste Quelle von Weisheit. Auch die wissenschaftliche Forschung nimmt sich seit einigen Jahrzehnten dieses schwer zugänglichen Bereichs an. Als einer der Pioniere der modernen Weisheitsforschung gilt Paul Bathes, der das „Berliner Weisheitsmodell“ formulierte. Für Bathes ist Weisheit ein „Expertenwissen in Bezug auf die fundamentalen Tatsachen des menschlichen Lebens“, das sich in Selbstvertrauen und Selbstreflexion, Altruismus und Empathie, in Wissen und dessen Anwendung im „richtigen Leben“ zeigt. Einen anderen Ansatz von Weisheit hat die Soziologin Monika Ardelt entwickelt. Sie schreibt der Weisheit eine kognitive (Streben nach Wahrheit), eine reflektive (Selbstreflexion) und eine affektive (Mitfühlen) Komponente zu, wobei Weisheit für sie darin besteht, diese Aspekte zu integrieren. Für Gert Scobel wiederum, Fernsehmoderator und Autor des Buches Weisheit – Wissen, was zählt, hat „Weisheit damit zu tun (…), wie wir uns in komplexen, scheinbar unlösbaren Situationen zurecht finden und diese nachhaltig steuern“.
Was die Weisheitsforschung und die Weisheitstraditionen vereint, ist die Erkenntnis, dass Weisheit sich entwickeln lässt. Allerdings nicht allein durch Methodik und die Ansammlung von Wissen oder nur durch die Zunahme an Erfahrung im Laufe des Lebens (und Alterns), sondern durch ein existenzielles Erkunden der letzten Fragen des menschlichen Daseins. Weisheit entspringt aus der Quelle des Ungetrennten in uns selbst und zeigt sich in etwas, das man vielleicht als existenzielle oder gar spirituelle Resilienz bezeichnen könnte. Sie beruht nicht nur auf Übungen des Selbstmanagements, so wertvoll und nützlich diese auch sein mögen, sondern auf der inneren Öffnung für den zugrundeliegenden Sinn unseres Daseins und für das umfassendere Ganze, in dem unser Leben sich entfaltet.
Das steigende Interesse an Resilienz könnte auch auf das Sinnvakuum zurückzuführen sein, dass viele Menschen heute spüren. Otto Scharmer zum Beispiel sieht als Grund für Burn-out und verwandte Phänomene die Trennung zwischen unserem „jetzigen Selbst“ und unserem „höheren“ oder „zukünftigen Selbst“, dem Selbst, das wir werden können. Wenn wir diese innere „Vertikalspannung“, wie Peter Sloterdijk die Divergenz zwischen beiden Polen nennt, nicht mehr spüren, fallen wir in eine innere Leere und Erschöpfung.
In einer TV-Sendung zum Thema Resilienz machte Gert Scobel vor kurzem unter großem Zuschauerinteresse auf ein Defizit aufmerksam, auf das wir seiner Überzeugung nach durch die kulturelle Förderung von Weisheit reagieren können und sollten. Resilienz, Salutogenese und Weisheit weisen darauf hin, dass der Mensch ein lernendes, ein sich entwickelndes Wesen ist. Der Weg wird dabei zum Ziel: Menschen, die in unabhängiger Selbstreflexion die Tiefe ihres eigenen Wesens ausloten, die Beziehungen zu ihren Mitmenschen und der Welt entfalten und sich einem größeren Sinn verbunden fühlen, haben Zugang zu einer Kraftquelle in sich selbst. Eine Kultur, in der diese innere Haltung gefördert würde, könnte dann selbst an Resilienz und Weisheit gewinnen und so auch bis in Wirtschaft und Politik hinein andere Strukturen und Lebensformen entwickeln, die wiederum diese Qualitäten in Individuen unterstützen. Wir müssen aber nicht darauf warten, dass dies von selbst geschieht, denn intuitiv können wir erahnen: Eine weisere Kultur beginnt in und zwischen uns.

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Erschienen in Ausgabe 02 / 2014: WELTINNENRAUM – DENKEN FÜHLEN INTUITION

Die Versuchung der Einfachheit

Populismus, Spiritualität und die Verletzlichkeit des Lebens

Wir leben in einer Welt zunehmender Komplexität. Gleichzeitig erleben wir auch einen Aufstieg einfacher Antworten und das nicht nur bei Populisten und Verschwörungstheoretikern. Was bedeutet Einsatz für den sozialen Wandel in Zeiten wie diesen?

 Vor einiger Zeit machte ich Urlaub im Biohotel eines Freundes; zu den Gästen zählen Menschen, die man vielleicht als bewusst, alternativ, ökologisch sensibilisiert und spirituell interessiert bezeichnen kann. Eines Abends saßen wir in einer kleinen Gruppe zusammen, mein Freund hatte unter freiem Himmel auf dem Klavier improvisiert, der laue Abend senkte sich, geradezu Bilderbuchharmonie. Bis das Gespräch auch auf die Politik kam. Da war es dann vorbei mit achtsamer Ruhe. Eine Frau in unserer Runde vertrat die Ansicht, dass die Medien sowieso manipuliert seien. Eine Erklärung ihres Vorwurfs blieb aus. Ein anderer Gast stellte wenige Minuten später fest, dass wir Deutschen ständig auf den Nationalsozialismus reduziert würden, dass es vorher eine deutsche Geschichte gegeben hätte, würde in den Schulen gar kaum gelehrt. Ein älterer Herr neben mir bemerkte, das entspräche nicht den Tatsachen, er sei selbst jahrzehntelang Geschichtslehrer gewesen. Aber dieses Argument schien keine Wirkung zu zeigen. Am nächsten Tag traf ich den Mann, der das Geschichtsbild der Deutschen zurechtrücken wollte, wieder. Er kam gerade vom Kajakfahren auf dem Meer, dort fühle er sich eins mit Mutter Erde, sagte er. Und die Medienkritikerin freute sich schon auf ihren Kurs in Sacred Dance, der in den nächsten Tagen beginnen sollte.
Beide waren mir sympathisch und ich konnte ihren Unmut auch verstehen, der in unserer unüberschaubaren Welt nach Orientierung, Sicherheit und Klarheit zu suchen schien. Und die Hilflosigkeit, die aus ihren Worten sprach, kenne ich nur zu gut. Und ich empfand sie auch in unserer Begegnung, weil ich keine Worte fand, die aus unbegründeten Behauptungen ein menschliches Gespräch machen konnten. Ich blieb zurück mit der Frage, wie es kommt, dass sich Menschen, die scheinbar auf einem Weg wachsender Bewusstheit sind, in einer Weise äußern, wie ich es eigentlich eher von AfD-Anhängern erwarten würde?

Postfaktische Zeit

Die pure Fülle von Informationen, die heute über TV, Radio, Internet, soziale Medien auf uns einprasseln, ist an sich schon überwältigend. Nachrichten und Videos, die wir meist nicht selbst prüfen können, auf deren Echtheit wir uns verlassen müssen. Wie leicht aber selbst Videos inkl. Interviews aus Krisengebieten gefälscht werden können, wurde immer wieder gezeigt. Wenn ich selbst in diesem Sturm von Nachrichten sitze, von denen viele mit emotional-reißerischen Titeln Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, spüre auch ich schnell ein Gefühl des Überwältigtseins. Und die Frage: Wem kann ich glauben? Auf welche Nachrichten kann ich vertrauen? Aber selbst, wenn man darauf eine erste Antwort findet und wie ich eher der Berichterstattung »Der Zeit« vertraut, als einem Russian-Today-Video, bleibt die Fülle an verstörenden Nachrichten, die uns erreichen, bestehen. Wenn ich Videos aus dem zerstörten Aleppo sehe oder von einer Bekannten, die auf Lesbos war, von den aussichtslosen Zuständen in den Flüchtlingslagern höre, überkommt auch mich Ohnmacht. Und ich will verstehen, warum sich Situationen so zuspitzen können, nur um einzusehen, dass es keine einfachen Antworten gibt.
Wir lernen gerade – zum Guten wie zum Schlechten –, dass wir in einer neuen Welt leben, einer global vernetzten Welt, in der alles mit allem zuinnerst zusammenhängt. Die spirituelle Weisheit des Verbundenseins, die buddhistische Lehre des bedingten Entstehens aller Phänomene wird uns heute in nie da gewesenem Ausmaß vor Augen geführt. Es ist eine Komplexität, die uns oft zu überfordern scheint, und uns schnell auch zu einfachen, zu vereinfachenden Antworten greifen lässt – seien es nun Verschwörungstheorien, Feindbilder oder einfach die Vermeidung dieser Komplexität.
Erschwert wird diese Situation dadurch, dass wir in einer »postfaktischen Zeit« leben, dieser Begriff macht gerade die Runde und sagt aus, dass im heutigen gesellschaftlichen Diskurs immer weniger die Fakten zählen, sondern Gefühle. Populisten wie Trump und die AfD machen diese Gefühle zu ihrem Programm. Die Menschen im Osten Deutschlands fühlen sich von Ausländern bedroht, von denen es dort kaum welche gibt, oder vom Islam, den man dort gar nicht kennt. Dieser Zeitgeist, der mittlerweile auch als »Gefühlsdemokratie« bezeichnet wird, kann sich dann auf fatale Weise auch mit einer spirituellen Haltung verbinden, die das Herz gegen das Denken ausspielt. Einer der Wahlsprüche vieler Seminare und spiritueller Lehrer ist, dass wir uns wieder mit unserem Fühlen verbinden müssten. Aber das kann eben auch schiefgehen, bzw. nur einen kleinen Bereich der Wirklichkeit berücksichtigen. Das Fühlen dem rationalen Denken und Argumentieren entgegenzusetzen, ist genauso einseitig und vereinfachend, wie einer klaren Ratio allein das Wort zu geben.

Schatten des Geistes

Vor einigen Tagen erhielt ich eine bemerkenswerte Email von Tami Simon, der Gründerin des spirituellen Audiobuch-Verlages Sounds True, in dem sie ihre Kunden und Partner aufruft, zur Präsidentenwahl in den USA zu gehen. Darin schreibt sie: »Manchmal wenden wir uns auf dem spirituellen Weg enttäuscht von der Welt ab und wollen uns nicht mit der momentanen Politik beschäftigen, vielleicht weil wir uns davon gelöst haben oder einem >langfristigen Blick< der menschlichen Evolution folgen. Vielleicht drehen wir uns weg, weil das >Hineingehen< bedeuten würde, dass wir mit zu viel Drama, zu viel Unsinn, zu viel Wahnsinn in Kontakt kommen. Oder vielleicht – eine dunklere Perspektive darauf – sind wir einfach zu selbstbezogen, als dass es uns etwas ausmachen würde. Aber diese >losgelöste< oder >unbeteiligte< Haltung könnten wir auch als einen möglichen Schatten eines spirituellen Weges sehen.«
Tatsächlich ist die Verheißung spiritueller Praxis unter anderem auch das Finden einer inneren Ganzheit und Einfachheit inmitten einer chaotischen Welt. Und dieses Sein, diese tiefe Stille, dieses Einssein, das die wahre Natur des Bewusstseins ist, und die wir durch spirituelle Praxis zunehmend erfahren können, kann uns eine existenzielle Einfachheit eröffnen, die uns tiefen Frieden und Erfüllung schenkt. Aber was machen wir mit dieser Erfahrung, wenn wir in die Welt des 21. Jahrhunderts treten? Stellen wir uns mit dieser inneren Ganzheit einer leidenden, unübersichtlichen, vielschichtigen Welt und finden unseren Platz, um daran mitzuwirken, dass diese Komplexität durch umfassende menschliche Werte wie Mitgefühl und Verbundenheit eine heilsame Veränderung erfährt? Oder ist uns diese Komplexität schlicht zuviel und wir versuchen, sie zu vermeiden oder auf einfache Antworten zu reduzieren?
Und selbst, wenn wir uns zum Handeln entschließen, bleibt die Frage, wie dieses Handeln der Komplexität unserer Welt und unserer Verflochtenheit darin gerecht wird. David Loy, ein amerikanischer Buddhist und Ökologe macht eine interessante Beobachtung in Bezug auf den sozial engagieren Buddhismus: »Viele amerikanische Buddhisten akzeptieren heute, dass der Dienst am Nächsten, wie das Lehren des Dharmas in Gefängnissen, Hospizarbeit und Hilfe für Obdachlose ein wichtiger Aspekt des eigenen Weges sein kann. Mit anderen Worten, wir werden besser darin, Ertrinkende aus dem Fluss zu ziehen, aber wir werden nicht besser darin zu fragen, warum überhaupt so viele Menschen in den Fluss fallen. Wovon oder von wem werden sie mitgerissen? Wenn wir fragen, warum in einem der reichsten Länder der Welt so viele Menschen obdachlos sind oder in Gefängnissen sitzen, werden wir als Radikale oder Linke bezeichnet. >Diese Dinge<, so sagt man oft, >haben nichts mit dem Buddhismus zu tun.<«
Auf was Loy hier hinweist, ist vielleicht so etwas wie ein unpolitischer oder vereinfachender Aktivismus, in dem wir den größeren Kontext aus den Augen verlieren. Ich selbst war jahrelang in der Hospizarbeit engagiert und habe erlebt, dass man dabei in einer Blase agieren kann, in der es dann oft auch stark um die eigene Selbstverwirklichung geht und das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Das Gleiche gilt heute wohl ebenso für andere Formen des ökologischen und sozialen Aktivismus. Nur wenn wir den größeren Kontext und die systemischen, komplexen, verwobenen Ursachen von Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Unmenschlichkeit verstehen, wird sich eine gesellschaftliche Kraft formen können, die die Radikalität – den Blick auf die Wurzeln – besitzt, um unsere Lebensweise nachhaltig zu verändern.

Meditieren für den Weltfrieden?

Neben dem sozial engagiertem Buddhismus gibt es mittlerweile auch neue Ansätze, um die Menschen, die man vielleicht als »spirituell aber nicht religiös« bezeichnen könnte, zu einer neuen Form von Aktivismus zu inspirieren. Namentlich der Ansatz des »Sacred Activism« von Andrew Harvey oder der «Subtle Activism«, den David Nicol in einem neuen Buch recherchiert hat: »Subtiler Aktivismus ist eine Aktivität des Bewusstseins oder Geistes wie Gebet, Meditation oder ekstatischer Tanz, mit der Absicht, kollektive Heilung und sozialen Wandel zu unterstützen. Der subtile Aktivismus erwächst aus der Idee, dass es neben offensichtlicher politischer Aktion viele effektive Wege gibt – einige gerade erst im Entstehen, andere so alt wie die Menschheit –, um sozialen Wandel positiv zu beeinflussen.«
Seit Menschengedenken haben Weise, Heilige, spirituell Übende ihre Praxis und die Verdienste daraus dem Wohl der Menschheit gewidmet. Diese subtile Dimension des Aktivismus heute wieder zu betonen, ist not-wendig, um zu einem integraleren Blick zu kommen.
Aber es ist auch nicht so einfach. Das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, z. B. für die Welt zu meditieren. In meiner Erfahrung ist es schon schwer genug, im Chaos des eigenen Geistes zu einer meditativen Tiefe zu finden, geschweige denn, wenn ich mich dem Chaos der Welt öffne. Praktiken wie das Tonglen des tibetischem Buddhismus, bei dem man die Leiden anderer auf sich nimmt und verwandelt, gelten in ihrer ursprünglichen Form als höchste Errungenschaften dieses Praxisweges. Und Sri Aurobindo, von dem gesagt wird, dass er mittels subtilen Aktivismus in die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges eingegriffen hat, empfahl seinen Schülern, die ihn dabei unterstützen wollten, doch besser mit der Waffe gegen Japan zu kämpfen, weil diese Form des Aktivismus umfassende geistige Voraussetzungen erfordert.
Was ich damit sagen will? Dass auch der subtile Aktivismus allein nicht die Antwort ist. Wenn ich für den Weltfrieden meditiere, dann fühle ich vielleicht, dass ich etwas für die Welt getan habe. Und wahrscheinlich ist dem auch so. Aber wir sollten uns auch im Klaren sein, dass das allein unsere Welt nicht verändern wird. Die Botschaft »Meditieren für den Weltfrieden« kann leicht zu einer selbstgenügsamen Passivität führen. Denn »das entlastet in einer gnadenlos unübersichtlichen, heillos komplexen Welt ungemein. Wer ein guter Mensch sein will, muss nun nicht mehr die anstrengende Frage nach Gut oder Böse stellen, muss sich nun nicht mehr den Kopf zerbrechen über politische, womöglich militärische Antworten auf die Krisen und Kriege weltweit. Der brave Deutsche darf jetzt tun, was er gerne tut: die Augen schließen, die Hände in den Schoß legen, sich in sich selbst versenken.«, schreibt natürlich etwas überzogen der »Cicero«. Aber auch David Nicol ist sich dieser möglichen Nebenwirkung eines subtilen Aktivismus bewusst: »Es gibt auch eine potenzielle Falle beim subtilen Aktivismus, denn er könnte als eine spirituelle Rechtfertigung dafür verwendet werden, sich von den Belangen der Welt fernzuhalten – eine Art soziales spirituelles >Bypassing< oder Vermeiden. Aber solch eine Haltung würde eine narzisstische Verzerrung meines Vorschlags bedeuten, der einen subtilen Aktivismus in der Welt unterstützen will, indem er mit konventionellen Formen des Aktivismus verbunden wird, als Teil eines ganzheitlichen Ansatzes des sozialen Wandels.«

Raum zum Spüren

Solch ein ganzheitlicher Ansatz bedeutet vielleicht vor allem, dass wir uns nicht auf einfache Antworten verlassen. Wenn wir die Komplexität der Welt und unsere Verflechtung mit ihr anerkennen, öffnet sich ein Raum, in dem wir zunächst einmal nicht wissen. Nicht wissen, was zu tun ist oder wie wir reagieren können. Aber vielleicht liegt in dieser Lücke die Quelle einer anderen Antwort. Die Fülle der Nachrichten und Meinungen deckt für uns diese Räume zu. Ich merke immer wieder, wie schnell ich von einer schrecklichen Meldung zur nächsten scrolle, ohne diese Lücke zu lassen, wo allein Berührung möglich ist. Aber wenn ich nicht nachspüren kann, was Menschen in Syrien empfinden, die in Krankenhäusern bombardiert werden, dann kann kein wirklich ganzheitliches Handeln daraus entstehen. Diese Verletzlichkeit, dieses Nicht-Wissen zu spüren, ist keine Ohnmacht, sondern vielmehr ein tieferes Einlassen auf das Leben. Denn es geht vielleicht nicht nur darum, uns als Antwort auf die Krisen der Welt zu engagieren, sondern dem eigenen Leben eine andere Grundlage zu geben. Es ist das Vergegenwärtigen unseres Nicht-getrenntseins mit der Welt in all ihrer Komplexität, ihrem Chaos, ihrem Schrecken und ihrer Schönheit und Herrlichkeit. Aus dieser Verbundenheit zu leben, im offenen Raum der Verletzlichkeit, wird sich uns zeigen, was unsere Antwort sein kann, ohne dass wir uns darin jemals sicher fühlen könnten. In dieser Verletzlichkeit liegt vielleicht die Kraft eines Aktivismus, der sich der Vielschichtigkeit und des Eingebundenseins unseres Lebens nicht verschließt. Oder wie Charles Eisenstein schreibt: »Das gleiche Intersein, das uns so unglaublich verwundbar macht, macht uns auch unglaublich stark. Daran sollten wir uns immer erinnern! In Wirklichkeit gehen Verletzlichkeit und Kraft Hand in Hand, denn nur wenn wir den Schutz des getrennten Selbst loslassen, können wir uns mit der Kraft verbinden, die jenseits davon liegt. Nur dann können wir Dinge erreichen, die für das getrennte Selbst unmöglich sind. Oder, um es etwas anders zu formulieren, wir werden fähig zu Dingen, von denen wir nicht wussten, wie wir sie geschehen ‘machen’ sollten.«

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Erschienen in Ausgabe Ausgabe 12 / 2016: WAS KÖNNEN WIR TUN? – Das Herz eines neuen Aktivismus

Meine eigene Wahrheit

Und die Suche nach Verbundenheit

Ein Grundanliegen der Postmoderne war, dass jeder Mensch sein Leben frei gestalten solle, in einer Pluralität der Lebensentwürfe. Diese Befreiung hat aber auch zu Isolation und Orientierungslosigkeit geführt, deren Folgen wir gesellschaftlich zunehmend spüren. Denn was verbindet uns noch, wenn jeder eine Insel ist?

In den Wochen vor der Bundestagswahl erhielt ich eine E-Mail, die mir zu denken gab. Darin rief ein scheinbar spirituell orientierter Mensch dazu auf, die AfD zu wählen. Begründet wurde der Aufruf mit Ideen, die seit geraumer Zeit recht lebendig auch durch alternative Kreise geistern: Wir leben in einer Schein-Demokratie. Und werden von einer Allianz (oder Verschwörung) von Politik, Justiz, Medien, Bildungseinrichtungen, Unterhaltungsindustrie, Gesundheitswesen und Großkonzernen regiert, kontrolliert und manipuliert. Danach folgte eine Lobeshymne auf die AfD und ihrem Spitzenpersonal aus »anständigen und sympathischen« Leuten. Die E-Mail endete mit einem Aufruf, alles für Deutschland zu geben und die schlafende Menschheit aufzuwecken. Und einem Hinweis auf einen »Bewusst-Treff«, einem losen Netzwerk von Gruppen um das Portal »BewusstTV«. Dieser YouTube-Kanal gehört zu den alternativen Medien wie »Stein-ZeitTV« oder »Rubicon«, wo sich selbst ernannte »Wahrheitssucher« treffen, um die Informationen zu bekommen, die angeblich vom »System« verheimlicht werden.
Natürlich ist die Haltung dieses E-Mail-Schreibers extrem und sicher eine Ausnahme, aber Teile der darin beschriebenen vermeintlichen Verschwörung höre ich doch recht oft. Vor allem die Mutmaßung, dass die Medien »gesteuert« sind, findet vielerorts Zustimmung. Was ist es, das Menschen im alternativen Umfeld dazu bringt, sich leichten oder alles erklärenden Verschwörungstheorien zuzuwenden? Dass Menschen auf die Idee kommen, dass hinter den eigenen oder gesellschaftlichen Problemen Verschwörungen stecken, ist erst mal nicht so abwegig. Immerhin gab es oft genug in der jüngeren Geschichte tatsächliche Verschwörungen, man denke nur an die Lüge über Massenvernichtungswaffen, um den Irak-Krieg zu beginnen. Oder auch die Verflechtung von Lobbyisten und der Politik oder den Dieselskandal. Man könnte denken: Es gibt allen Grund, misstrauisch zu sein.
Zudem verheißen Verschwörungstheorien in einer immer komplexer werdenden Welt die Aussicht auf einfache Antworten. Das war wohl schon immer das Anziehende an diesen Theorien, die darauf hinauslaufen, einen Schuldigen oder Sündenbock für die eigene Misere zu finden. Dass Verschwörungen gerade heute, und auch insbesondere in alternativen Kreisen eine Renaissance erleben, hängt vielleicht auch mit der Vereinzelung und Orientierungslosigkeit zusammen, die in einer postmodernen Kultur immer spürbarer werden. In der Tat scheint das Gefangensein im Subjektiven eine der Ursachen zu sein, für das Misstrauen, das wir gerade in unserer Gesellschaft sehen. Allzu oft erleben wir bei Politikern und Wirtschaftsbossen, aber auch bei Künstlern und Sportlern, dass das Eigeninteresse zur grundlegenden Motivation wird. Ganz schnell führt das zu einer Haltung, die ich vermehrt höre: Man kann niemandem mehr glauben. Die da oben belügen uns.
Aber was dann Verschwörungstheoretiker tun, kommt eigentlich aus einem ähnlichen Gefangensein im Subjektiven, von einer eigenen Insel. Nur nutzt man einige Tatsachen oder Zweifel an den offiziell verbreiteten Wahrheiten, wie z. B. über die Terroranschläge vom 11. September, um sich sozusagen auf der eigenen Insel eine eigene Wahrheit zu kreieren. Wenn dies dann genügend Zustimmung findet, erhärten sich diese Theorien, stiften Zusammenhalt, geben Orientierung. Aber sie werden nicht mehr zur Diskussion gestellt. Sie werden zu einem neuen, persönlichen Glaubenssystem.

Jeder eine Insel

Wenn ich über die Veränderungen nachdenke, die die Postmoderne mit ihren verschiedenen Strömungen gebracht hat, erinnere ich mich oft an meine erste »wirkliche« Begegnung mit diesem kulturellen Umfeld. Ich zog einige Jahre nach der Wende nach Freiburg, wohl eine der Hochburgen der grün-alternativ-spirituellen Szene in Deutschland. Als jemand, der im Osten Deutschlands groß geworden ist, wirkte auf mich die Freiheit des persönlichen Ausdrucks, die ich dort erlebte, wie eine Offenbarung (und ein Schock). Viele Menschen, die ich dort traf, waren in therapeutischen, künstlerischen oder spirituellen Kontexten auf der Suche nach sich selbst und ihrer Authentizität. Gleichzeitig merkte ich bald, dass dabei jeder in gewissem Sinne eine Insel ist und dieses Land seines eigenen Selbst, seiner eigenen Subjektivität erforscht und gestaltet. Dieser Impuls der Selbstverwirklichung ist seitdem zu einem Grundwert unserer Gesellschaft geworden und die Pluralität der Lebensentwürfe ist weit in den gesellschaftlichen Mainstream vorgedrungen. Das Internet und die sozialen Medien haben die Möglichkeiten, sich selbst zu erfinden, zu gestalten und darzustellen, extrem gesteigert. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass das Internet mit seiner Freiheit aber auch Beliebigkeit das postmoderne Medium schlechthin ist – ein digitales Flachland, in dem es an uns liegt, das Wichtige vom Unwichtigen und das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Und das ist heute gar nicht so einfach.
Die zutiefst positive kulturelle Entwicklung hin zu mehr Autonomie und subjektiver Freiheit, hat auch zu einer Vereinzelung, Isolation und einem Narzissmus geführt. Und zu Orientierungslosigkeit. Denn wie finden wir Orientierung und Sinn, wenn es jedem selbst überlassen bleibt, das Wesentliche vom Unwesentlichen, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden? Wenn jeder eine Insel ist, wie können wir uns dann auf verbindliche Werte und Wahrheiten einigen? Und wie finden wir zu einem gesellschaftlichen Vertrauen, das die Voraussetzung ist für einen Diskurs über Werte und die Frage »Wie wollen wir leben?«
In der Postmoderne ist jeder von uns sozusagen sein eigener Kosmos geworden, oder sein eigenes Spiegelkabinett. Jeder von uns kann sich selbst kreieren und sich so formen, wie er von den anderen gesehen werden möchte. Jeder kann frei wählen, welcher Wahrheit über die Welt er vertraut. Dann fällt es aber schwer, einen Wertunterschied zwischen einer Perspektive, die mehr Komplexität der Welt umfassen kann, und einfacheren Erklärungsmodellen zu treffen. Das ist eine Freiheit, weil zunächst jedem seine eigene Sichtweise zugestanden wird. Es ist aber auch ihre Beschränkung, weil dann keine Entscheidung getroffen werden kann, welche Werte uns wichtiger sind als andere. In dem Vakuum, das durch diesen Relativismus entsteht, finden auch Populisten und auch Verschwörungstheoretiker den Raum, um ihre eindeutigen Welterklärungen zu liefern.
Die Postmoderne war ja eigentlich mit dem Ziel angetreten, uns als Menschen miteinander zu verbinden. »Love & Peace« war die Hoffnung, dass uns die individuelle Befreiung dazu bringen wird, uns als menschliche Familie neu zu gestalten. In einem Sein und Seinlassen, das der Agenda von Konkurrenz, Materialismus und kriegerischen Nationen die Vision einer friedlichen Weltgemeinschaft der vielen Kulturen entgegensetzt. Konkret wurde diese Vision in vielen Kommunen und Gemeinschaften versucht. Viele davon sind gescheitert, andere arbeiten weiter daran, wie diese Idee gelebt und weiterentwickelt werden kann.
Dass diese menschliche Verbundenheit nicht so leicht in die Tat umzusetzen war, wie es sich viele in der postmodernen Bewegung vorgestellt haben, lag vielleicht daran, dass in diesen Versuchen letztendlich doch jeder eine Insel blieb. Trotz des großen Aufbruchs, den die Postmoderne auslöste, ging sie hier möglicherweise nicht tief und weit genug, und konnte es vielleicht auch nicht. Die Vision eines gemeinschaftlichen Lebens oder die Hinwendung zur Spiritualität wie in den 60ern und danach mit postmodernen Ikonen wie Osho Shree Rainesh konnte die Grenzen des getrennten Individuums, das die Postmoderne ja befreien wollte, nicht überwinden. Und vielleicht wäre das auch zu viel verlangt. Denn die Befreiung aus engen Familienstrukturen und der Abtrennung von natürlichen Lebensimpulsen und der Sexualität, die die Zeit vor den 60er Jahren prägten, war allein schon eine not-wendige Revolution. Aber vielleicht müssen wir heute einen Schritt weiter und tiefer ins Wesentliche gehen, um diese Befreiung zu bewahren und sie gleichzeitig in eine echte Integration zu führen.

Leben und Tod

In unserer Zeit stellt sich die Frage, was uns als Menschen und als Gesellschaft verbindet und verbinden kann, wohl dringlicher denn je. Wie finden wir als Menschen, als Gemeinschaft ein gemeinsames Land, das wir zusammen gestalten können? Dazu gibt es schon viele versuchte Antworten, von denen die stärkste vielleicht die Vision einer offenen Gesellschaft ist, die den Dialog unterschiedlicher Meinungen fördert, gleichzeitig aber die Grundwerte wie die Würde des Menschen, Gewaltlosigkeit, Meinungsfreiheit bewahrt und sichert. Aber vielleicht braucht solche eine offene Gesellschaft auch eine wesentlichere Grundlage, die aus einer existenziellen Tiefe schöpft.
Vor einiger Zeit hat mich eine Botschaft des Benediktiners Bruder David Steindl-Rast sehr berührt, in der er darauf hinwies, was uns als Menschen allen gemeinsam ist. Er sagte, es sei die existenzielle Erfahrung von Leben und Tod. Mit welcher Eindringlichkeit er diese offensichtliche Tatsache erwähnte, ließ mich aufhorchen. Ich erinnerte mich an meine Arbeit im Hospiz. Dort begegnete ich in der Begleitung Sterbender Menschen, die in vielem völlig anderer Meinung waren, mit ganz anderen Vorstellungen über das Leben. Aber angesichts des Todes treten Meinungen in den Hintergrund und wir suchen die Wesensverbindung, mit uns selbst und den Menschen um uns herum. Und die tiefen Erfahrungen in der Begleitung Sterbender kommen aus diesem gemeinsamen Ergriffensein vom Geheimnis von Leben und Tod. Wir spüren: Der Tod zerstört unsere Insel, ob wir es wollen oder nicht. Er nimmt uns die Kontrolle über uns selbst aus der Hand und wirft uns in den Urgrund des Lebens selbst. Und angesichts des Todes stellen wir die wesentlichen Fragen: Was habe ich der Welt gegeben? Wie werden mich die Menschen in Erinnerung behalten? Wie habe ich gelebt? Oder um mit dem Zen-Meister Wiliges Jäger zu sprechen: »Was wir am Ende unseres Lebens in den Händen halten, sind nicht unsere Leistungen und Werke. Wir werden uns zuerst und vor allem der Frage stellen müssen, wie viel wir geliebt haben.«
Das sind existenzielle, absolute Fragen. Angesicht des Todes verblasst die Relativität, wir wissen selbst ganz genau die Antwort, wenn wir nach innen spüren. Aber woher wissen wir es? Gibt es Grundwerte, Lebenswerte, die insofern universell sind, weil wir alle ein Ausdruck des Lebens sind? Albert Schweitzer fand dafür diese Formel: »Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in seiner Entwicklung hemmen … Jedes Leben ist heilig.«
Das Credo der Postmoderne war in gewissem Sinne auch eine Oberflächlichkeit. Die Hierarchien und Wertunterschiede wurden zu einem Flachland eingeebnet, wo jeder und jedes genauso viel wert ist wie alles andere und jede Wahrheit gleichberechtigt neben der anderen steht. Was für eine Freiheit, aber auch: was für eine Beschränkung. Ohne Aussicht auf Orientierung dafür, was ein »gutes« oder gar »besseres« Menschsein sein könnte. Ein wie auch immer gearteter Schritt über die Postmoderne hinaus müsste ein anderes Credo aufnehmen, das von vielen als die große Lehre des Todes gesehen wird: Werde wesentlich!
Und der Tod führt uns auch etwas vor Augen, das wir in unserem Käfig des Subjektiven leicht verpassen: dass wir immer Teil eines Lebensprozesses sind, der uns übersteigt aber auch mit allem Leben verbindet. Dass unsere Insel eigentlich nur ein Ausdruck eines Lebens ist und gar keine unabhängige Existenz besitzt.
Ein Ausdruck einer existenziellen Oberflächlichkeit, die wir in unserer Kultur vielfach vorfinden, ist auch das Sinnvakuum und der Mangel an Utopien für sich selbst und unsere Kultur, den eine Relativierung und Subjektivierung nach sich ziehen kann. Aber wir Menschen suchen nach einem übergeordneten, einem letztendlichen Horizont unseres Menschseins, ein sinnvolles Eingebundensein in das Ganze der Welt. Eine Kultur, die um diese existenziellen, geistigen, im Grunde spirituellen Fragen einen mehr oder weniger großen Bogen macht, hinterlässt eine Leere. Und Verschwörungstheorien, die es sich zur Aufgabe machen, die Menschen »zu erleuchten«, oder Populisten, die die nationale Identität beschützen wollen, rühren an dieses grundmenschliche Bedürfnis nach einem umfassenden, übergeordneten Sinnhorizont.
Kürzlich erzählte mir eine befreundete Lehrerin, dass sie begonnen habe, mit ihren jugendlichen Schülern in einer AG der Frage nachzugehen, was ihre Vision für ihr Leben ist, was das tiefste Anliegen ihres Lebens ist. Diese Frage überrascht die Jugendlichen jedes Mal völlig. Sie wird ihnen normalerweise in Erziehung und Unterricht nicht gestellt. Die Lehrerin beschrieb dann eindrücklich, wie die Schüler aufblühen, wenn sie langsam die Scheu vor dieser Frage überwinden und dann in einem Kurzvortrag den anderen Schülern von ihrer Lebensvision erzählen.
Die letzten Fragen und existenziellen Werte des Lebens wiederzuentdecken, scheint mir in unserer Zeit besonders dringlich zu sein. Nicht als Dogmen oder Glaubenslehren, sondern als Inhalte eines Dialogs über Werte, deren Wichtigkeit uns angesichts des Todes nur zu deutlich werden. Die Postmoderne hat uns gezeigt, wie wir Wahrheiten, Ideen, große Utopien hinterfragen können und erkennen lassen, wie relativ sie sind und wie zerstörerisch sie werden können. Das war eine große Befreiung. Das hat uns aber auch in eine Beschränkung geführt, in der wir nicht mehr sehen, dass wir bei aller Relativität und Pluralität doch Teil und Ausdruck eines Lebensprozesses sind. Wenn wir verstärkt Möglichkeiten finden, diese existenzielle Verbundenheit zu erfahren, wäre es vielleicht möglich, die postmoderne Freiheit nicht auf der Insel des Subjektiven enden zu lassen, sondern einen Schritt weiter in ein umfassendes Leben zu tragen, das wir gemeinsam gestalten können. Und vielleicht finden wir durch die Verständigung über die Grundwahrheiten von Leben und Tod auch leichter den gemeinsamen Grund des Vertrauens, der einen echten, offenen Dialog über Wahrheit, Werte und unsere Zukunft ermöglicht.

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Erschienen in Ausgabe 17 / 2017: DIE POSTMODERNE UND DARÜBER HINAUS – 1968 – 2018

Am Anfang ein Traum

Über die tieferen Quellen sozialen Wandels

„Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“ Hermann Hesse

Vor einigen Wochen sprach ich mit einer Freundin, deren Tochter begonnen hat, Konfliktforschung zu studieren. Sie erzählte, wie schwierig es für die junge Frau sei, mit der Fülle an dramatischen Nachrichten zurechtzukommen, die nun durch Erfahrungsberichte von sozialen Brennpunkten überall auf der Welt auf sie einströmen. Denn diese drastischen Berichte finden nur selten einen Ausgleich in Erfolgsgeschichten wirksamer gesellschaftlicher Veränderung. Schnell kann da die Hoffnung auf eine tatsächliche Transformation unserer Welt verloren gehen – eine Hoffnung, die uns erst veranlasst, uns für den Wandel zu engagieren. Nach dem Gespräch fragte ich mich, ob wir dabei nicht oft die tieferen Quellen der Hoffnung vergessen.

Die Kraft der Vision

Unser Umgang mit den sozialen Konflikten dieser Welt richtet sich meist auf das Reparieren der Missstände, die wir sehen. Aber die Menschen, die sich für große positive Umbrüche einsetzten, wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela oder Sophie Scholl, reagierten nicht nur auf die Fehlerhaftigkeit ihrer Gesellschaften. Sie waren von der Vision einer gerechteren Welt erfüllt, bewegt und begeistert. „Ich habe einen Traum“, sagte Martin Luther King in seiner berühmten Rede während des Marsches auf Washington, „dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.“
Gesellschaftlicher Wandel beginnt mit einem Traum – wir eröffnen uns eine Dimension des Möglichen und machen so Raum für das, was gegenwärtig noch unmöglich erscheint. Was diese Visionäre sozialer Transformation auszeichnet, ist nicht ihr Wissen, ihre Macht oder klugen Strategien, es ist eine Verletzlichkeit für das Leben, in der die Frage nach einer neuen, gerechteren, menschenfreundlicheren Wirklichkeit immer dringlicher wird. Diese Frage, in der schon die Ahnung der Antwort vernehmbar ist, hat dann die Kraft, viele Menschen zu berühren. Aber in dieser Berührung wird sich durch uns das Leben einer neuen Möglichkeit bewusst, einer größeren Verwirklichung der Wahrheit, Schönheit und Güte, die dem Leben selbst innewohnt. Die großen Visionäre waren auch deshalb bereit, ihr Leben für ihren Glauben an das Mögliche einzusetzen, weil sie mit diesem sie übersteigenden Strom des Guten verbunden waren, wie beispielsweise Gandhi sagte: „Die Ehrfurcht vor dem ‚universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit‘ […] hat mich in die Politik geführt.“
In meiner eigenen Biografie war der Fall der Mauer ein Moment, in dem das scheinbar Unmögliche plötzlich Wirklichkeit wurde. Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen und kann mich noch gut erinnern, als ich im Radio hörte, die Grenze zwischen Ost-und Westberlin sei offen. Etwas, das ich kaum zu träumen gewagt hatte, war Realität. Das ist wohl auch der Grund, warum dieser weltgeschichtliche Augenblick für Menschen überall auf der Welt so besonders in Erinnerung blieb. Solch ein „Einbruch“ des Möglichen in den „geordneten“ Lauf der Dinge zeigt uns, dass wir die Zukunft und ihre die dazu notwendigen Transformationen nicht planen oder vorhersehen können. Die Aktivisten, die sich damals im „Neuen Forum“ engagierten oder auf die Straße gingen, hatten die Vision einer freien Gesellschaft – wie genau sie aussehen und auf welchem Wege sie zustandekommen könnte, wussten sie nicht. Aber sie wagten, zu träumen. Wenn ich an die Zeit vor der Wende zurückdenke, dann erinnere ich mich eigentlich nur an ein durchdringendes Gefühl der Resignation. In meinem Bewusstsein war noch kein Raum für das Mögliche, weil wir das Träumen nicht gelernt hatten. Es brauchte einige Jahre, bis ich mit dieser neu gewonnenen Freiheit umgehen und mich darin entfalten konnte. Ich war nicht darauf vorbereitet. Vielleicht wächst in dem Glauben an ein Potenzial der Zukunft auch die Fähigkeit, es kreativ und bewusst zu gestalten, wenn es – auf welchem Wege auch immer – Wirklichkeit wird.

Das Prinzip Hoffnung

Der Philosoph Ernst Bloch beschäftigte sich in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ mit der Kraft der Vision, die uns als Menschen immer wieder erneut veranlasst, Utopien zu entwerfen: „Sozialutopie arbeitete als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“ Die utopischen Visionäre sehen in ihrem geistigen Auge ein Potenzial der Zukunft: „Die Wachträume ziehen, sofern sie echte Zukunft enthalten, allesamt in dieses Noch-Nicht-Bewusste, ins ungeworden-ungefüllte oder utopische Feld.“ Wie Bloch mit seinem Begriff der Wachträume andeutet, kann dieses „Noch-Nicht-Bewusste“ nicht allein rational erfasst werden. Es kommt aus einem „antizipierenden Bewusstsein“ das sich für die Realität des ganz Anderen, Zukünftigen, noch nicht Manifesten offenhält. Damit wird aber die Gegenwart, der gelebte Augenblick, offen für die Zukunft.
Vielleicht hat die Arbeit an sozialer Transformation auch viel damit zu tun, diese Räume des Möglichen zu eröffnen und schöpferisch auszuloten. Denn dieses hoffnungsoffene Bewusstsein lebt nicht allein aus Vorstellungen, Ideen oder Strategien, sondern vor allem aus einer Verbundenheit mit dem Schöpferischen des Lebens selbst. Wenn wir uns die Evolution unseres Bewusstseins und unserer Kultur vergegenwärtigen, von den Anfängen vor etwa 40.000 Jahren bis heute, dann sehen wir eine Abfolge radikaler Transformationen, die jedes Mal unser Zusammenleben und unsere Möglichkeiten in der Welt völlig neu formten. Der integrale Denker Steve McIntosh bemerkt, dass sich kulturelle Evolution immer in der Dialektik von „Drücken“ und „Ziehen“ ereignet. Dabei kommt der Druck aus den krisenhaften Situationen einer kulturellen Stufe und der Zug entsteht durch die Anziehungskraft neuer Werte einer neuen Stufe. Damals in der DDR war der Druck die unerträgliche Enge von ideologischer Gleichschaltung und Überwachung und der Zug war die Verheißung der Freiheit, eines selbstbestimmten Lebens.
Auch heute stehen wir an einer Schwelle, wo wir den evolutionären Druck deutlich spüren, in einer Welt voller grassierender Konflikte und Probleme. Aber was zieht uns in die Zukunft?

Das Salz der Erde

Vor einiger Zeit sah ich den Film „Das Salz der Erde“ von Wim Wenders über den Fotografen Sebastião Salgado. In seiner Karriere als weltbekannter Fotograf zog es ihn immer wieder an Orte, wo sich schreckliche menschliche Tragödien ereigneten. Er wollte das Auge der Welt sein und uns allen zeigen, was heute auf unserem Planeten geschieht. So kam er auch in den Konflikt zwischen den Hutu und Tutsi in Ruanda, bei dem etwa eine Million Tutsi umkamen und die Welt tatenlos zuschaute. Diese Erfahrung stürzte Salgado in eine tiefe Krise: „Als ich dort wegging, glaubte ich an nichts mehr. Nichts könnte die Menschheit mehr retten. So etwas könnten wir nicht überleben! Wir hatten es nicht verdient zu leben. Niemand!“ Er hörte mit dem Fotografieren auf und zog sich auf die Farm seiner Eltern in Brasilien zurück. Im Laufe der Zeit fand er eine Antwort auf die Verzweiflung. Das Tal, in dem die Farm seiner Eltern stand, war einst dicht bewaldet gewesen, heute war es Steppe. Raubbau und Dürre hatten das Land zerstört. Zusammen mit seiner Frau fasste Salgado einen unmöglich scheinenden Entschluss: das Tal wieder aufzuforsten. Er ließ zweieinhalb Millionen Regenwaldbäume pflanzen, wodurch sich das Ökosystem mit der Zeit wieder erholen konnte. Das Land schenkte er dem brasilianischen Staat als Nationalpark und gründete das „Instituto Terra“, um an anderen Orten ähnliche Aufforstungsprogramme durchzuführen. Salgado fand aus seinem Leiden an der Lage unserer Welt eine kreative Antwort. Und er konnte auch wieder fotografieren: Für sein Projekt „Genesis“ bereiste er unberührte Orte der Erde und brachte die Schöpfung, von der wir ein Teil sind und deren Bewahrung unsere Aufgabe ist, in beeindruckende Bilder, die Millionen Menschen erreichen.

Dem Leben antworten

An der Geschichte von Sebastião Salgado berührt mich besonders, wie vollkommen er sich dem „Druck“ unserer krisenhaften Weltsituation ausgesetzt hat, damit aber so umgehen konnte, dass er seinen „Zug“ spüren, ihm folgen und ihn umsetzen konnte. Wir alle können leicht überwältigt werden von der Komplexität und der Vielzahl der Probleme in unserer Welt. Aber wenn wir uns mit dem Zug, der Verheißung des Neuen, unserer Vision, dem „utopischen Feld“ verbinden, gehen wir existenziell in eine andere Dimension. Denn in dieser Ahnung eines besseren Lebens, von tieferer Wahrheit, Schönheit und Güte, zeigt sich in unserem Bewusstsein die kreative Kraft des Lebensstromes selbst.
Der Philosoph Maik Hosang, den ich vor Kurzem bei einem Vortrag erlebte, nennt diesen schöpferischen Impuls unseres Wesens in Anlehnung an evolutionäre Denker wie Jean Gebser oder Sri Aurobindo das „evolutionäre Selbst“ oder das „seelische Wesen“, das sich als Inspiration, Freude und Verbundenheit mit dem noch nicht Gewordenen zeigt. Aus dieser Berührung mit der Energie des Möglichen in uns selbst kämpfen wir nicht so sehr gegen die bestehenden Verhältnisse, als vielmehr für die Vision von Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Frieden und Mitgefühl, die wir in unserem Geist erahnen. Das ist nicht nur ein anderer kognitiver Fokus, sondern verbindet uns auch mit der positiven Energie des Lebens, das sich in mehr Leben hinein entfalten will und sich in uns seiner selbst und seiner Möglichkeiten bewusst wird. Hosang zitiert den Soziologen Herbert Marcuse, der eine „ästhetisch-erotische Transformation“ forderte. Eine Transformation, die bewegt wird von den Kräften einer weltzugewandten Liebe und einem bewussten Erfülltsein von der wachsenden Intensität des Lebens. Hier nährt sich die Arbeit an gesellschaftlicher Veränderung auch aus dem schöpferischen Potenzial der Kunst, wie es die Beuys-Schülerin Shelley Sacks verfolgt: „Gemäß dem griechischen aisthetikos, ‚wahrnehmend‘, sehe ich in Ästhetik das Gegenteil von Anästhesie oder Betäubung – also ein belebtes, verlebendigtes Sein. So verstanden, ist Ästhetik die Fähigkeit, sich dem zu nähern, was uns in der Welt, unserem Umfeld und in uns selbst begegnet, berührt, bedrängt, und die Fähigkeit, darauf zu antworten.“
Welche Inspirationskraft solch ein Wandel aus dem Antworten auf das Leben entfalten kann, erfuhr ich kürzlich bei einem Kongress, bei dem Margret Rasfeld die von ihr gegründete Evangelische Schule Berlin Zentrum vorstellte. Der Impuls zu der radikal anderen Form von Pädagogik, die dort gelebt wird, kam aus der Erfahrung, dass wir das lebendige Potenzial unserer Kinder unter einer leistungsorientierten und standardisierten Bildung verschütten. Für Margret Rasfeld stehen hingegen die in jedem Menschen anwesenden Entfaltungsimpulse im Mittelpunkt. Und in der Verbindung mit ihrem eigenen tieferen Potenzial finden die Jugendlichen auch ganz natürlich zu einem sozialen Verantwortungsbewusstsein. Nicht umsonst heißen zwei zentrale Fächer ihrer Schule „Herausforderung“ und „Verantwortung“.

Die Kreativität des Ganzen

In der Evolutionsforschung gibt es einen Begriff, der das Geheimnis des schöpferisch Werdenden sehr gut benennt: Emergenz. Damit wird das Merkmal komplexer Systeme beschrieben, wonach aus dem Zusammenwirken der Teile plötzlich eine neue Ganzheit entsteht, die nicht vorhergesagt werden kann. Nehmen wir zum Beispiel Wasserstoff und Sauerstoff: Wie kann aus der Verbindung von zwei Gasen plötzlich flüssiges Wasser entstehen? Wir wissen es nicht. Oder noch grundlegender: Wie konnte aus lebloser Materie das Leben entstehen? Oder wie aus Säugetieren selbstreflexive Menschen? Wie kam es 1989 plötzlich zum Mauerfall? Und wie emergierten viele Male in unserer Geschichte neue Gesellschaftsformen – von Stämmen zu Feudalgesellschaften zu Imperien zu demokratischen Nationalstaaten und einer global vernetzten Gesellschaft? Der Kosmologe Brian Swimme sagt über die Bedeutung von Emergenz: „Lange Zeit dachten wir, das Universum sei ein unveränderliches Gebilde, das seine schöpferische Hauptaktivität nur am Anfang der Zeit hatte. Aber jetzt verstehen wir, dass das Universum ein anhaltendes kreatives Ereignis ist. Sterne entstanden, Galaxien entstanden, Planeten tauchten auf, das Leben barst in die Existenz. Diese Entstehungskraft könnte man auch fortwährende Kreativität nennen. In gewisser Weise ist die größte Entdeckung menschlicher Wissenschaften die Entdeckung, dass das Universum als Ganzes – und damit jedes Wesen darin – von der Kraft der Emergenz durchdrungen ist.“
Wenn wir soziale Transformation vor diesem Hintergrund sehen, werden die Herausforderungen, die vor uns liegen, nicht leichter. Aber wir kommen mit anderen Quellen in uns in Verbindung, damit zu unserem rationalen Verstehen der Ursachen auch die mitfühlende Fürsorge, die spürende Intuition des Möglichen und das Vertrauen in die kreative Kraft des Lebens kommen können. Wenn wir dann unserem eigenen Zug ins Mögliche, ins „Noch-Nicht-Bewusste“ folgen, danach handeln und uns darin begegnen, dann arbeiten wir gemeinsam an der Emergenz einer erträumten unmöglich-möglichen Zukunft.

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Erschienen in Ausgabe 07 / 2015: DIE ZUKUNFT IN UNS – Gesellschaft im Umbruch

Rückkehr des Erhabenen

Liebe im World Wide Web

Das Internet ist allgegenwärtig, auch in der Liebe. Wie verändert das Web unsere Liebe, und wir kann unsere Liebe das Web verändern? Eine Spurensuche.

Liebe begleitet uns Menschen seit den Anfängen unserer Geschichte, und vielleicht auch schon weit vorher. Und jedes neue Zeitalter, durch das wir historisch gegangen sind, hat dieses Urgefühl verändert und neue Ausdrucksformen geschaffen. Ein Merkmal unserer Zeit ist der Einfluss des Internets und der Digitalisierung in allen Bereichen unseres Lebens, und natürlich auch in der Liebe. Was beutet das für uns?

Ware Liebe

Vor einiger Zeit habe ich etwas gemacht, das – so verraten Statistiken und Gespräche im Freundeskreis – immer mehr Menschen tun: Ich habe mich bei einem der unzähligen Online-Dating-Portale angemeldet. Ich habe mir also ein Profil anlegt. Mein Portal wirbt mit ganzheitlicher Partnersuche, also bestanden die Kategorein neben den üblichen persönlichen Angaben auch aus Fragen zu spirituellen Interessen. Dazu musste ich mich selbst in Kategorien einordnen, indem ich bestimme Merkmale ankreuzte, ich musste mich also als Menschen etwas objektivieren. Mit diesen Angaben kann dann der Algorithmus der Seite sein magisches Werk beginnen und sehr bald saß ich vor mehreren Hundert »Angeboten«, die ich dann »prüfen« konnte. Nach einer Weile hielt ich inne und war erstaunt über die Faszination dieser Fülle, der Möglichkeit, so schnell und leicht so viele potenzielle Bekanntschaften vor mir zu haben, aber auch etwas verstört darüber, dass ich nun nach Frauen suchte, wie sonst vielleicht auf Amazon nach einem passenden Buch oder einer CD. Einer Ware.
Die israelische Soziologin Eva Illouz, die sich intensiv mit der Wirkung des Internets auf Liebesbeziehungen beschäftigt hat, sagt dazu: »Viele Menschen nutzen das Internet auf der Suche nach Sex, Romantik, Ehe und so weiter. Man sucht dort nach jemandem, als wäre man auf einem Markt. Man hat alle Möglichkeiten vor Augen. Und man kauft sozusagen ein, indem man jemandem einen gewissen Wert zuordnet. Man hat einige sehr klare Kriterien und nach denen wird die Person, die man quasi erwerben will, beurteilt, bewertet. … Hier sind die Menschen wie Waren auf einem Tisch ausgelegt, es ist ein bisschen wie ein Buffet.«
Was macht diese Vielfalt des »Angebots« mit unserer Liebe? Zunächst fällt es uns schwerer, uns auf eine Beziehung einzulassen – und leichter, bei Problemen eine Beziehung zu beenden –, denn wir wissen ja, dass es noch Hunderte, Tausende weiterer Angebote auf dem Partnermarkt gibt. Dafür gibt es auch schon eine Diagnose: »Bindungsangst«.

Gefühlsunternehmer

Die einschneidendere Veränderung ist aber wohl, wie sich das Verständnis unserer selbst und unserer Mitmenschen wandelt, um im Internet auf Partnersuche zu gehen. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker erforscht die Internetsexualität und erklärt: »Es konkurrieren alle mit allen und man muss sowohl seine Persönlichkeit als auch seine Sexualität in einer bestimmten warenförmigen Weise darstellen, weil man ja Interesse hervorrufen muss. … Wir werden zu Gefühlsunternehmern … .« So werden die eigenen Empfindungen, Bedürftigkeiten, der eigene Körper, die Sehnsüchte, Scham und Scheu Teil des eigenen »Gefühlsunternehmens«, das wir möglichst gut vermarkten müssen. Auf diese Weise hält die ökonomische Logik Einzug in unsere Liebesbeziehungen. Und die Wirtschaft nutzt im Gegenzug die Verheißung romantischer Gefühle, um ihre Produkte zu vermarkten. Auch auf diesen Zusammenhang weist Eva Illouz hin und beschreibt, dass heute Waren von Kosmetik bis Versicherungspolicen mit dem Bild romantischer Liebe verbunden werden, um sie attraktiver zu machen. Und gleichzeitig leben ganze Branchen auch vom Ideal romantischer Liebe, wie beispielsweise die Freizeitindustrie.
Durch die maßgeschneiderte Suche, die Partnersuche im Internet ermöglicht, können wir uns zudem den idealen Partner nicht nur vorstellen, sondern die vielen Angebote nach dem Partner durchsuchen, der perfekt in das Leben passt, das wir schon leben. Einem Menschen, der unseren Vorstellungen entspricht. Auch dies ist ein Prozess der Objektivierung, in dem wir einen Menschen suchen, der mit unserem Suchschema übereinstimmt. Die Überraschung, die dem »unordentlichen Gefühl« wie Richard David Precht die Liebe nennt, eigentlich innewohnt, verliert an Bedeutung. Wir wollen die Kontrolle über das behalten, was uns in einer Beziehung erwartet.

Unsere Entzauberung

Illouz erklärt, dass diese Verbindung von Liebe und Konsum heute nahezu unumgehbar ist und unserer Liebe auch viele neue Ausdrucksmöglichkeiten und eine Freiheit von traditionellen Rollen schenkt. Und das Internet bietet auch einen großen Freiraum, um verschiedene Formen von Liebe und Sexualität ausleben zu können. Und natürlich kann auch mit einem Partner, den wir auf dem Dating-Markt im Internet kennenlernen, eine tiefe Liebe entstehen, können sich in der direkten Begegnung wieder Überraschung und Zauber entfalten. In meinem Bekanntenkreis gibt es einige Beispiele dafür. Zudem gibt es auch große Unterschiede zwischen den Dating-Seiten und -Apps, von Seiten wie Parship oder dem alternativen Portal Gleichklang, in denen vor allem feste Beziehungen gesucht werden, bis hin zu Tinder, wo es unverbindlicher zugeht oder Lovoo, mit dem »Flirtradar«, der einem das direkte Ansprechen von Leuten in einer Bar abnimmt, indem man Flirtwillige einfach per App kontaktieren kann.
Diese heutige Freiheit und Vielzahl der Möglichkeiten vergleicht Illouz in ihren Büchern auch mit dem Umgang mit Liebe und Paarbeziehung in vergangenen Jahrhunderten. Und sie kommt zu dem Schluss: »Die Klugheit verbietet, dem nachzutrauern, was einmal gewesen ist. Doch kann ich mir die Frage einfach nicht verkneifen, ob wir nicht das, was wir an Freiheit und Lust gewonnen gaben, an Potenzial für das Erhabene verloren haben.« In diesem Sinne merkt sie auch an, dass die »einzige ernsthafte Konkurrenz zu einem konsumorientierten Bild der romantischen Liebe eine religiöse Lebensart« sei: »In religiösen Bevölkerungsschichten existiert eine ganz eigene, abgegrenzte Vorstellung von Liebe. Streng religiöse Menschen teilen andere Werte, wie etwa die gemeinsame spirituelle Erfahrung Gottes.«
Die Soziologin spricht hiermit das Dilemma unserer säkularen Kultur an, die Freiheit und Pluralität und individuellen Lebensformen – und die Entzauberung der Welt und damit auch der Liebe. Und den Ansturm auf die Online-Dating-Seiten könnte man auch als die mannigfaltige Sehnsucht nach dem Erhabenen deuten. Denn die persönliche Liebesbeziehung ist fast der einzige Ort, an dem der säkulare Mensch noch auf dieses Erhabene zu hoffen wagt – und sei es nur in der Entrückung sexueller Erlebnisse.
In der psychologischen und spirituellen Ratgeberliteratur wird versucht, ein tieferes Gefühl der Erhabenheit wieder in die Liebe zurückzubringen. Es ist dann die Rede von »Soulmates«, den Seelenpartnern. Die Zweierbeziehung wird so unter spirituellen Vorzeichen zu einem heiligen Rückzugsgebiet. Dabei sind wir uns aber meist nicht bewusst, dass auch dies nur eine Variante der Vermählung zwischen Romantik und Konsum sein kann. Und oft ist auch diese persönliche Erhabenheit nicht von langer Dauer und ein nächster, vielleicht noch passenderer Seelenpartner könnte irgendwo da draußen sein, in den Weiten des World Wide Web.
Es scheint, dass wir in diesem Dilemma von Verlust des Erhabenen und der verzweifelten Suche danach uns selbst und unsere Beziehungen aufreiben. Aber vielleicht haben wir verlernt, uns vom Erhabenen finden zu lassen.

Im Angesicht des Erhabenen

Eva Illouz spricht darüber, dass eine »gemeinsame spirituelle Erfahrung Gottes« religiösen Menschen einen Bezugspunkt gibt, durch den sie nicht so leicht auf das Konsum-Romantik-Karussell aufsteigen. Sicher können und wollen wir nicht in den Hafen enger religiöser Normen zurück; die Freiheit des Ausdrucks partnerschaftlicher Liebe hat uns individuell wachsen lassen. Aber in Verbindung mit dem Internet wurde unser Umgang mit der Liebe auch von den Merkmalen dieses Mediums geprägt. Das Internet ermöglicht die globale Vernetzung, aber es ist flach und wertfrei. Die Aktivisten des Arabischen Frühlings, die sich nach Freiheit sehnten, können sich darin genauso vernetzen, wie die Terroristen des IS, um ihre Anschläge zu planen. Diese moralische Einebnung ist ein Merkmal des Internets und sie macht auch andere Menschen leicht zu einem eindimensionalen Objekt. Der große Markt der Möglichkeiten, den Dating-Seiten suggerieren, lässt das Bild einer unerschöpflichen Masse von möglichen Partnern entstehen, die aber auch beliebig werden. Illouz spricht von einem Zynismus, der sich dadurch in unserer Liebe breitmacht. Wir nehmen unseren Partner nicht mehr ernst, lassen uns nicht mehr auf eine tiefe Begegnung ein, denn im Web wartet schon der oder die nächste. Die Erhabenheit, der die Soziologin etwas nachtrauert, ist vielleicht tatsächlich die Erfahrung und Qualität, die der menschlichen und moralischen Einebnung des Internets etwas entgegensetzen kann.
Der Philosoph Byung-Chul Han spricht im Zusammenhang mit dem Internet oft von einer Kultur des Gleichen und der Oberflächen. Dadurch, dass uns Algorithmen mit Informationen zu Themen und Meinungen versorgen, die wir schon mögen, begegnen wir immer mehr nur uns selbst. Und wir tasten uns an der glatten Oberfläche der vielen Möglichkeiten entlang, und finden die Tiefe nicht mehr. In dieser »Austreibung des Anderen«, so der Titel von Hans neuem Buch, geht aber auch der Eros verloren, der sich in der Begegnung mit dem ganz Anderen entfaltet. Diese Qualität des Anderen wohnt auch der Erhabenheit inne. Erhaben nennen wir eine Erfahrung, die über das Gewöhnliche hinausgeht, in der eine Schönheit, eine Größe und etwas Heiliges uns berühren. Es ist verwandt mit dem Begriff des Numinosen, den der Religionswissenschaftler Rudolf Otto einführte, um die Qualität des Heiligen zu umschreiben. Für ihn hatte diese Begegnung mit dem Heiligen zwei Dimensionen: das Mysterium fascinans, die tiefe Anziehung einer beglückenden Erfahrung des Seins, und das Mysterium tremendum, die Ehrfurcht vor dem ganz Anderen, das in unserer Leben einbrechen kann. Auch der Psychologe und Zen-Meister Karlfried Graf Dürckheim sprach viel über diese Qualitäten des Numinosen als Tore, die sich in das Geheimnis des Lebens öffnen. Graf Dürckheim bezeichnete die Begegnung mit diesem Heiligen als Seinserfahrung, und sprach davon, dass eine Dimension, in der wir sie erfahren können, die menschliche, auch sexuelle Liebe ist. Für ihn waren solche Seinserfahrungen erhebende und erschütternde Einblicke in die Tiefe unserer Existenz, in denen wir auch erleben, dass Liebe der erhabene Grund allen Seins ist. Solche Erfahrungen sind verbunden mit dem Auftrag, dieses Geheime, dieses innerste Wesen nun im Leben und in der Welt zu bezeugen und zum Ausdruck zu bringen. Dieser Vision der Begegnung mit einer Tiefe der Existenz scheint das Internet diametral entgegengesetzt zu sein. Auf der Oberfläche unseres Bildschirms erscheint alles gleich-wertig. In einem Facebook-Feed wechseln sich Tiervideos mit Aussagen spiritueller Lehrer und Urlaubsfotos von Freunden mit Bildern aus dem bombardierten Aleppo ab.

Ein neues Wahrnehmungsorgan

Das World Wide Web hat uns eine nie da gewesene Vernetzung gebracht, die unser Bewusstsein geweitet und erweitert hat. Sie hat uns unerschöpfliche Möglichkeiten geschenkt, nun liegt es an uns, auch die Tiefe, zu der wir als Menschen fähig und gemeint sind, in dieses immer noch neue Medium einzuführen. Aber wie kommt Erhabenheit, ein Sinn für das Heilige, das uns übersteigt, wieder zurück in unser – auch virtuelles – Leben und Lieben? Vielleicht müssen wir lernen, unser Wahrnehmungsorgan für das Erhabene wieder zu üben und so zu erweitern, dass wir der flachen Vernetzung mit einer existenziellen Unterscheidungskraft begegnen können.
Fast jeden Morgen habe ich ein Art Ritual. Zuerst die gemeinsame Meditation mit Freunden, bei der wir über Telefon mit anderen Freunden verbunden sind, die zur gleichen Zeit meditieren. Diese virtuelle Verbindung hilft uns, einen Ausdruck für das gemeinsame Feld zu setzen, das wir in der Meditation erfahren. Nach der Meditation sprechen wir oft noch einige Zeit miteinander, über aktuelle Ereignisse oder gemeinsame Erfahrungen, oder verweilen einfach schweigend in dem meditativen Feld. Einem Feld, das unserer Freundschaft den Geschmack des Erhabenen gibt. Wenn ich dann zuhause bin, gehe ich nach dem Frühstück für einige Zeit auf Facebook, für mich auch eine Art, mich mit der Welt zu verbinden, mit Freunden, spirituellen Mentoren, inspirierenden Menschen und dem, was gerade in der Welt geschieht. Natürlich kann man an sozialen Medien viel kritisieren, zum Beispiel die Filterblasen, in denen wir nur noch Meinungen begegnen, die unseren eigenen gleichen. Aber die Ursache liegt wohl nicht nur in der Technologie, sondern auch darin, wie wir sie nutzen. Für mich kann Facebook durchaus zum Medium der Empathie werden – und dann ist es gut, den Zeitpunkt zu bemerken, wo es oberflächliche Ablenkung wird. Und selbst ein Chat auf WhatsApp kann über weite Entfernung eine Verbindung mit einem geliebten Menschen aufechterhalten und so den Alltag als Erinnerung an eine geteilte Verbundenheit bereichern.

Den Menschen freilegen

Liebe in den Zeiten des Internets stellt uns vor die Herausforderung, die Verflachung, die Abstumpfung, die Möglichkeitswüste, den moralischen Relativismus zu durchbrechen und der Dimension des Erhabenen wieder in unserem Leben, auch in unserem virtuellen Leben, Raum zu geben. Es ist eine Haltung, in der wir in den Geschehnissen in der Welt, dem Leid Anderer und in der Liebe und Freundschaft zu Nahestehenden die Stimme des großen Geheimnisses spüren, die uns umfängt und ruft. Dazu aufruft, Liebende zu werden in einer vernetzten Welt. Diese Liebe hat die Kraft, den Menschen in seiner Größe, seiner Erhabenheit, seinem Anderssein zu begegnen.
Dann sind auch Partnerportale im Internet eine der Möglichkeiten für einen ersten Kontakt. Für mich stellte sich schnell heraus, dass das nicht meine Methode der Partnersuche ist. Aber es liegt an uns, wie wir sie nutzen, ob wir uns zu konkurrierenden »Gefühlsunternehmern« machen lassen, oder durch die Objektivierung hindurch immer wieder den Menschen »freilegen«, der wie wir eine Begegnung und vielleicht auch das Erhabene sucht. Ja, es könnte eine der großen Aufgaben der heutigen Zeit sein, das Internet und die digitale Vernetzung als eine Herausforderung der Liebe zu sehen. Es liegt an uns, das kalte Medium zu erwärmen und als Raum zu sehen, der von uns mit der Bewusstheit und Verantwortlichkeit für die heilige Tiefe des Lebens erfüllt werden kann.

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Erschienen in Ausgabe 13 / 2017: LIEBE in Zeiten von Trump – Die radikale Kraft der Verbundenheit

Die Neugier des Lebens nach sich selbst

 

Bildungsimpulse aus der Mystik

Wie wir Bildung verstehen, hängt davon ab, wie wir den Menschen verstehen. Eine mystische Spiritualität versteht unter Bildung die Entfaltung unserer Seele und ihrer Fähigkeiten und Qualitäten zum Wohle des Ganzen. Wie kann ein Anerkennen dieser existenziellen Tiefe unser Verständnis und unsere Praxis der Bildung bereichern? Eine Spurensuche bei Sri Aurobindo, Jiddu Krishnamurti und Arthur Zajonc.

Wenn wir heute über Bildung nachdenken, betrachten wir meist Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen und welche Missstände und Entwicklungsmöglichkeiten es hier gibt. Bildung ist zu einem eigenen Gesellschaftsbereich geworden, mit einer Vielzahl von Institutionen, Organisationen und Regularien. Aber es mehren sich auch Stimmen, die auf einen Aspekt der Bildung hinweisen, der heute manchmal vergessen wird. Was Humanisten wie Humboldt oder Goethe unter Bildung verstanden, die Ausformung des einzigartigen Menschen und seiner Fähigkeiten, wird in neuer Form unter dem Begriff Potenzialentfaltung von Menschen wie Gerald Hüther oder Richard David Precht in die Bildungsdebatte eingebracht. Sie gehen davon aus, dass Bildungseinrichtungen Orte sein sollten, wo Menschen Räume vorfinden, damit ihre ureigensten Potenziale erblühen können. Denn »jedes Kind ist hochbegabt«, so bringt es der Hirnforscher Gerald Hüther auf den Punkt.
Wie tief wir hierbei die Quelle unserer Potenziale ansetzen, hängt auch davon ab, wie tief oder wie weit für uns der Mensch reicht. Die Bildungsdebatte bewegt sich hier meistens auf dem Boden aufgeklärten Denkens mit ihrem Ideal des selbstbestimmten Individuums. In unserer materialistisch geprägten Zeit wurde der Individualismus aber auch zu einem Zustand der Getrenntheit von Welt und Leben, einer Entfremdung, Vereinzelung und Isolation, unter der wir zunehmend leiden. Die Diagnosen heißen heute Burn-out, Depression oder schlichtweg Überforderung. Auch Kinder und Heranwachsende sind davon zunehmend betroffen.
Das Leiden an der Getrenntheit von der Wirklichkeit des Lebens und unserem eigenen inneren Seelenpotenzial war aber immer auch ein Beweggrund für eine besondere Form der Bildung. Die spirituellen Wege der mystischen Weisheitstraditionen kann man als Bildungswege verstehen, die im Gegensatz zu religiösen Doktrinen das Hauptaugenmerk auf die direkte Erfahrung einer innerlichen Wirklichkeit der Verbundenheit legen, die durch Übungen wie Meditation, Herzensgebet oder Mantren kultiviert werden können. Ein Ziel dieser Übungen ist es, den Menschen mit dem bildenden Impuls seiner eigenen Seele vertraut zu machen, und ihn in die Erfahrung zu führen, dass wir auf dieser seelischen Ebene mit der Welt und anderen Menschen aufs Tiefste verbunden sind. Begleitet wird diese Erkenntnis von Qualitäten wie Weisheit und Mitgefühl, deren Ausbildung das Ideal mystischer Spiritualität ist.
Mich bewegt die Frage, ob uns diese Wege seelischer Bildung heute Hinweise zu einem tieferen Verständnis und einer potenzialorientierten Praxis der Bildung geben können – sowohl für die pädagogische Begleitung von Kindern und Heranwachsenden als auch für jeden von uns. Dazu möchte ich exemplarisch drei moderne spirituelle Denker heranziehen, die sich explizit mit den Fragen der Bildung beschäftigt haben: den indischen Meister des Integralen Yoga Sri Aurobindo (1872 – 1950), den spirituellen Freigeist Jiddu Krishnamurti (1895 – 1986) und den Universitätsprofessor und Kontemplationslehrer Arthur Zajonc (geb. 1949). Meines Erachtens zeigen sich in ihren Anregungen zur Bildung drei Aspekte, die viel zu einem erweiterten Bildungsbegriff beitragen könnten: Sri Aurobindo hat sich wie nur wenige mit der seelischen, schöpferischen Entwicklung des Menschen beschäftigt, Krishnamurti legte sein Hauptaugenmerk auf die geistige Freiheit und Unabhängigkeit des Menschen und Arthur Zajonc entwickelt in seiner kontemplativen Pädagogik eine Epistemologie der Liebe, die Bildung als transformativen Prozess der Verbundenheit versteht. Diese drei Tiefenqualitäten – Seelenentwicklung, innere Freiheit und liebevolle Zugewandtheit – können uns vielleicht Hinweise auf verborgene Möglichkeiten der Bildung geben.

Die Entwicklung der Seele

Sri Aurobindo verband als spiritueller Lehrer die alte vedische Tradition Indiens mit der Idee der Evolution der Seele. Dieser Entwicklungsweg führt für ihn zu einer immer subtileren Wahrnehmung und Verbundenheit mit einer geistigen oder »supramentalen« Wirklichkeit, die unsere wahre Natur ist. Er sah diese innere Entfaltung des Menschen bewegt vom »psychic being«, dem »seelischen Wesen«. Vor diesem Hintergrund war für ihn eine der wichtigsten Aufgaben jedes Bildungsweges, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Seelenwesen des Menschen wachsen kann: »Es ist die Seele in uns, die sich immer der Wahrheit zuwendet, dem Guten und dem Schönen, denn durch diese Dinge wächst sie selbst an Statur … Die zugrunde liegende seelische Wesenheit in uns hat Anteil an der Freude des Lebens und aller Erfahrungen, welche die fortschreitende Offenbarung des Spirits ausdrücken, doch die eigentliche Grundlage ihrer Lebensfreude besteht darin, aus allen Kontakten und Geschehnissen deren geheimen göttlichen Sinn und Kern, einen göttlichen Nutzen und Zweck zu sammeln, sodass unser Mental und Leben aus der Unbewusstheit einem höchsten Bewusstsein, aus den Trennungen der Unwissenheit einem umfassenden Bewusstsein und Wissen entgegenwachsen mögen.«
Aurobindos Ideen zur Pädagogik, die er als »Integral Education« bezeichnete, dienten als Vorbild für mehrere Schulen in Indien, wie beispielsweise der Sri Aurobindo International School in Hyderabad. Deren Motto »Wo das innere Wesen die äußere Persönlichkeit formt« beschreibt, wie hier gemäß Aurobindos integralem Menschenbild ein Raum geschaffen werden soll, in dem sich die körperlichen, emotionalen, mentalen und spirituellen Fähigkeiten des Menschen entfalten können. Diese Bereiche des Menschen werden im Curriculum berücksichtigt, wobei die Quelle und Triebkraft die Entfaltung der einzigartigen Seele des Menschen ist.
Neben vielen anderen Hinweisen beschrieb Aurobindo zwei Grundlagen der Bildung. Der erste Grundsatz ist, dass nichts gelehrt werden kann. Aurobindo selbst war ein unermüdlicher Lehrer, was also meint er damit? »Man kann … nichts lehren, was nicht bereits als potenzielles Wissen in der sich entfaltenden Seele des Geschöpfes enthalten ist. … Wir erkennen das Göttliche Wesen und werden zum Göttlichen Wesen, weil wir dieses bereits in unserer geheimen Natur sind. Alles Belehren ist ein Enthüllen, alles Werden ist ein Entfalten.« Wie alle spirituellen Traditionen ging Aurobindo von der Einheit des Lebens aus und davon, dass in jedem Menschen ein Seelensame vorhanden ist, der sich von innen heraus entfalten möchte. Deshalb kann einem Menschen nichts von außen gelehrt werden, was nicht schon in ihm vorhanden und angelegt ist. Dieses innewohnende Wissen kann hervorgebracht werden, kann aus ihm erblühen. Das Lernen ist eine Bewegung aus dem Inneren, das kein Außen hat. Die Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist hier also, die Bedingungen zu schaffen, die diese Entfaltung begünstigen. Wie tief und subtil dieser Grundsatz Aurobindos ist, wird deutlich, wenn wir eine weitere seiner Grundlagen des Lernens betrachten: dass wir am besten von Vorbildern lernen. Vor-bilder in diesem Sinne sind Menschen, die tiefe Qualitäten des Menschseins in ihrem Leben verwirklicht haben. Indem sie die Potenziale ihrer Seele sichtbar machen, berühren sie die Seele anderer Menschen und wirken wie ein Sog, wie das Sonnenlicht auf den schlummernden Seelensamen im Menschen. Damit wird dem Lehrer oder Pädagogen – und eigentlich jedem von uns – eine Aufgabe, ein Bildungsauftrag, gegeben: Vor-Bild zu sein für die Bildung anderer. In einem Lehren aus dem Sein, statt nur aus dem Wissen.

Freiheit des Geistes

Neben dieser Verbundenheit mit Vorbildern ist eine andere Grundvoraussetzung seelischer Bildung die Freiheit. Für den indischen Weisen Jiddu Krishnamurti stand die Entwicklung der geistigen Freiheit des Menschen im Mittelpunkt – die Freiheit von den Konditionierungen des eigenen Verstandes, von den Konditionierungen der Gesellschaft und von hierarchischer Unterordnung unter Autoritäten. Für ihn kann echte Bildung nur in einem Raum stattfinden, in dem es kein Autoritätsgefälle gibt. Die Idee, dass es jemanden gibt, der etwas weiß, und jemanden, der dies nicht weiß und dem es per Autorität gelehrt werden muss, schien ihm absurd. Krishnamurti sah den Prozess der Bildung als ein dialogisches Fragen zwischen Lehrer und Schüler, bei dem sich die Tiefen einer Sache oder eines Problems eröffnen und beide verwandeln und bereichern. Denn was es vom Leben in seiner Ganzheit zu lernen gibt, entfaltet sich aus dem Inneren der aufrichtig und rigoros fragenden, freien Seele: »Wir wiederholen gern, was andere Menschen sagen, was andere Menschen tun, weil es sich so am leichtesten lebt – wir sind mit einem alten oder einem neuen Muster konform. Wir müssen herausfinden, was es bedeutet, niemals in Konformismus zu verfallen und was es bedeutet, ohne Angst zu leben. Das ist dein Leben und niemand wird dich lehren, kein Buch, kein Guru. Du musst es selbst erlangen, nicht aus Büchern. Du kannst viel über dich selbst lernen. Das ist endlos, faszinierend – und aus dem, was du in dir über dich selbst lernst, daraus entsteht Weisheit.«
Jede Bildung muss für ihn nicht nur Wissen vermitteln, sondern vor allem auch Intelligenz, eine Klarheit des Geistes, die in sich aus der innewohnenden Verbundenheit mit dem Leben aus anderen Motivationen handelt. Ein Geist, der Mitgefühl, Freiheit und Großzügigkeit lebt. Dadurch lag für Krishnamurti der Schlüssel zu einer Transformation unserer Kultur in dieser Bildung, die eine Rückbindung des Menschen an seinen inneren religiösen Impuls ist. Hier sah er die revolutionäre Sprengkraft wahrer Bildung. Weil sie uns gegen den Strom der Gesellschaft und seiner Triebkräfte wie Materialismus, Gier, Angst, Bevormundung und Gewalt widerständig macht und den Impuls zur Schaffung einer neuen Kultur gibt, die auf den Qualitäten beruht, die sich aus einer freien, schöpferischen, liebenden Seele bilden: »Sein Anliegen war, den Menschen aus den Fesseln der persönlichen Weltsicht und Ich-Vorstellung zu befreien und ihm so die ganze Dimension des Lebens zu eröffnen. In einem so gearteten freien, ungeteilten und ungetrennten Bewusstsein wirken urprüngliches Mitempfinden, Fürsorge und Verantwortlichkeit für das ganze Leben und alle seine Wesen, die alle weder erworben werden können noch müssen«, schreibt der Krishnamurti-Kenner Bernd Hollstein.
Krishnamurti gründete in England, den USA und Indien gemäß seinen Anregungen Schulen, wie die Brookwood Park School unweit von London. Hier wird gemäß Krishnamurtis Betonung des kritischen Geistes ein Bildungsweg angelegt, den der Schüler nach eigenen Fragen und Interessen selbst mitbestimmen kann. Zudem wird auf eine ganzheitliche, interdisziplinäre und gesellschaftlich verantwortungsvolle ethische Bildung Wert gelegt. Ein Grund dafür, dass Krishnamurtis Impuls zur Bildung keine breitere Wirkung entfalten konnte, ist vielleicht das Paradox, das seinen Hinweisen zugrunde liegt: Er lehnte Systeme, Ideologien und Autoritäten ab, aber eine Schule oder andere Bildungseinrichtung muss sich in irgendeiner Weise organisieren und strukturieren.

Eine Epistemologie der Liebe

Einen anderen pädagogischen Ansatz, der aus einer tiefen seelischen Quelle schöpft, hat der Physiker und Hochschullehrer Arthur Zajonc mitentwickelt. Er bezeichnet ihn als kontemplative Pädagogik und schöpft dabei aus der Waldorfpädagogik Rudolf Steiners (die im Interview mit Jost Schieren thematisiert wird, s. S. 34) und den kontemplativen Traditionen, insbesondere dem Buddhismus. Zajonc war unter anderem Leiter des Mind and Life Institute, das unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama den Dialog zwischen Wissenschaft und kontemplativen Traditionen fördert.
Für Zajonc eröffnen die kontemplativen Übungen wie die Meditation einen Zugang zur Wirklichkeit von innen her. Das konzentrierte Aufmerksamsein, die wertfreie Bewusstheit der Meditation, die stille Weite des ruhenden Geistes bietet den Raum, in dem die Wirklichkeit erscheinen kann, wie sie ist. In solch einem Geist weicht die heute in der Bildung vorherrschende »Epistemologie der Distanz, Kontrolle und Manipulation« einer »Epistemologie der Liebe«, die sich in »Respekt, Zärtlichkeit, Intimität, Verletzlichkeit, Teilhabe, Transformation des Selbst, der Bildung neuer Fähigkeiten und Potenziale und klarer Einsicht« zeigt. In dieser inneren Gestimmtheit wird die Liebe zum Leben, zur Wirklichkeit, zur Bewegkraft der Bildung: »Liebe als die tiefste Form des Wissens, in dem Wissen und Liebe sich vereinen durch eine Identifikation, in der das Objekt zum Subjekt wird.« Wenn sich Wissen und Liebe vereinen, dann lernen wir etwas über das Leben, indem wir immer mehr mit ihm eins werden. Kontemplative, aufmerksame, bewusste Hinwendung zur Welt führt zu einer Ganzwerdung mit dem Leben. Daraus entsteht dann auch eine ethische Haltung, die aus dieser liebenden Durchdringung mit der Welt handelt.
Die kontemplative Pädagogik, die Zajonc hier anspricht, meint eine integrative Form des Wissens, wobei Erkenntnis zur transformierenden, liebebildenden Kraft wird. In diesem Zusammenhang zitiert Zajonc gern seinen Lieblingssatz von Goethe: »Jeder Gegenstand wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.« Zajonc erklärt diesen Satz so: »Wenn wir wiederholt unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt richten, dann wirkt dies in erstaunlicher und kraftvoller Weise auf unseren menschlichen Organismus zurück. Durch die kontemplative Praxis entwickelt sich der Mensch, oder man könnte sagen, er wird geformt. … Was durch dieses neue Organ, das durch den wiederholten Akt des Aufmerksamseins geformt wird, verstand Goethe als Einsicht.« (In wissenschaftlichen Studien der Veränderung im Gehirn durch kontemplative Übungen konnte eine Formung des Gehirns, Neuroplastizität genannt, auch ganz physisch festgestellt werden.)
In Zajonc‘ Arbeit mit einer kontemplativen oder integrativen Pädagogik führt er das kontemplative und meditative Element ganz praktisch in die Lehre an Universitäten ein. Er war Leiter des Center for Contemplative Mind in Society, das heute mit über 2500 Mitarbeitern in Universitäten in den USA und darüber hinaus zusammenarbeitet, die kontemplative Übungen in ihren Unterricht aufnehmen. Und er ist Mitbegründer der Association for Contemplative Mind in Higher Education, die konkrete Impulse für eine kontemplative Bildung an den Hochschulen gibt. Und auch in Deutschland gibt es eine zunehmende Bewegung, meditative Übungen und Achtsamkeit in die Pädagogik zu integrieren.
Zajonc‘ Vision einer Epistemologie der Liebe geht hierbei aber wohl weiter als viele der Ansätze, Achtsamkeitsübungen oder Yoga in den Unterricht aufzunehmen. Der Sinn einer kontemplativen Pädagogik ist für ihn: lieben lernen. Oder wie es Krishnamurti ausdrückt: »Bildung bedeutet nicht nur, Prüfungen zu bestehen …, sondern in der Lage zu sein, den Vögeln zuzuhören, den Himmel zu sehen, die unglaubliche Schönheit eines Baumes zu sehen und die Form der Hügel. Und mit ihnen zu fühlen und wirklich, unmittelbar mit ihnen in Berührung zu sein.«

Bildung von innen

Bildung ist Entwicklung der Seele, in Freiheit und Liebe. Jeder von uns ist ein einzigartiges seelisches Wesen, das aus der innewohnenden Freiheit schöpfend der Welt in Liebe begegnet und durch diese Begegnung verwandelt wird, sodass immer mehr Qualitäten einer umfassenden Wirklichkeit – Wahrheit, Güte und Schönheit – durch uns hindurchscheinen können. Dieses Bild von Bildung, das sich hier aus einer mystisch inspirierten Perspektive zeigt, ist sicher für alle von uns individuell und für eine wie auch immer organisierte Bildung eine Zukunftsaufgabe, eine Vision des Möglichen. Sie deutet auf eine Bildung hin, die heute weit verbreitete kulturelle Werte wie Egoismus, Wirtschaftlichkeit und Konformität aufbrechen kann und ihnen die Vision einer Kultur der ko-kreativen Verbundenheit, seelischen Entfaltung und Freiheit entgegensetzt. Hier zeigt Bildung ihr revolutionäres kulturelles Potenzial.
Der Impuls des Lernens in uns kommt aus der Tiefe unseres Wesens und ist, so könnte man sagen, die Neugier des Lebens nach sich selbst. Dieser tiefinnerste Impuls kann nicht instrumentalisiert, ökonomisiert und konform gemacht werden, er ist der freie Ort in uns, in dem das Leben durch uns wachsen kann. Dann können wir ein Bewusstseinsraum sein, in dem sich das Leben seiner selbst bewusst wird und sich schöpferisch lernend der Zukunft öffnet.

 

Info zum Thema:

www.sriaurobindointernationalschool.org
www.brockwood.org.uk
www.arthurzajonc.org

 

Erschienen in Ausgabe 14 / 2017: LEBEN LERNEN – Bildung und die Entwicklung unserer Seele

Von der Trennung zur Umarmung

Über Stadt-Land-Nomaden, Ausheimische und lebendige Beziehungskörper

Wir alle haben unsere Ideen darüber, was das Leben in der Stadt und auf dem Land bedeutet. Es ist vielleicht Zeit, diese Annahmen radikaler zu hinterfragen, als wir es gewohnt sind und uns lieb ist. Dafür lohnt ein Blick auf innovative Projekte, die überraschend, einfühlsam und ko-kreativ mit neuen Lebensorten experimentieren, die nicht mehr in unsere bisherigen Schubladen passen.

Vor einiger Zeit war ich im Prinzessinnengarten in Berlin, einer grünen Oase mitten in Kreuzberg. Ich war beeindruckt von der Ausstrahlung dieses Ortes, der mehr ist als ein Areal für Urban Gardening, das ja schon seit einiger Zeit ein Trend ist. Natürlich gibt es hier ausgedehnte Gartenflächen, die mit ihrem lebendigen Grün, den Blüten und Früchten eine Erholung und Belebung nach einem Weg durch die Stadt ist. Aber darüber hinaus ist es auch ein Bildungs- und Begegnungsort für den umliegenden Kiez. Die Bewohner können hier Seminare zu Permakultur besuchen, es gibt viele Angebote für Kinder, um z. B. das Leben der Bienen kennenzulernen, ein Café lädt zum Verweilen oder Arbeiten unterm Blätterdach ein. Es hatte etwas von einem Dorf, in dem jeder willkommen ist, der nach Natur in der Stadt sucht. Sei es als Besucher, Seminarteilnehmer, Käufer von Obst, Gemüse und Selbstgemachtem oder als GärtnerIn, die sich um ein Stück des Gartens kümmert.
An diesen Besuch erinnerte ich mich, als wir für diese Ausgabe über Stadt und Land sprachen. Und darüber, welche Ansätze es gibt, um diese beiden Lebensbereiche zu verstehen und zu einer zukunftsfähigen Durchdringung zu bringen. Deshalb sprach ich mit Menschen, von denen ich wusste, dass sie in unterschiedlicher Weise an einer solchen Integration arbeiten. Dabei habe ich viele Ideen, die ich über das, was Leben in der Stadt und auf dem Land ist und sein könnte, über Bord geworfen. Und wir wurde zunehmend klar, dass wir als Einzelne und als Gesellschaft diese Annahmen heute neu hinterfragen müssen, denn die ökologischen, sozialen, politischen und spirituellen Herausforderungen, vor denen wir stehen, rufen nach Antworten, die über ein trennendes Denken hinausgehen. Gerade auch junge Menschen leben zunehmend nicht mehr in diesen binären Kategorien von Stadt und Land, sonden gestalten Lebensorte, an denen sich die Grundqualitäten von Stadt und Land integrativ verbinden. Es sind Experimente und Prototypen, die unser Verständnis und unsere Erfahrung von Lebensräumen grundlegend transformieren können. In diesem Artikel möchte einige dieser kulturellen Biotope besuchen, um den Zukünften nachzuspüren, die sich darin zeigen könnten.

Die Stadt als mentaler Raum

Städte sind immer auch ein Ort für kreative soziale Experimente. Berlin ist heute bekannt für eine solche Aura der Kreativität, die Künstler, innovative Denker und Start-up-Unternehmer aus aller Welt anzieht. Für den Transformationsgestalter Matthias Ruff ist Berlin dadurch besonders in der Lage, neue Denk- und Lebensansätze für eine krisengeschüttelte globale Welt zu generieren. Das ist das Ziel seines Projekts »House of Transformation Berlin«, das die in der Stadt gebündelte schöpferische Kraft intensivieren, nutzen und weiterführen will. Der Schwerpunkt liegt auf einer neuen Kultur des Lernens und der Wissensfindung auf Augenhöhe, die von Achtsamkeit, Empathie, künstlerischer Freiheit und Ko-Kreativität geprägt ist. Die Stadt könne so zu einem »mentalen Raum« werden, »einem Raum, in dem sich die Gegenwart aus der Zukunft denkt«.
Für Ruff ist Berlin prädestiniert für solch ein Transformations-Biotop, weil es in seiner Geschichte schon oft diese Rolle übernommen hat: »Vom Berlin der Aufklärung Friedrichs des Großen über die >goldenen< 1920er Jahre bis ins gegenwärtige Nachwende-Berlin mussten in der Stadt stets lokale Lösungen für globale Probleme gefunden werden«, erklärt er. Und gegenwärtig hat sich hier durch die vielen Netzwerke, kreativen Labore und Hubs ein »Humus prozessualer Grundbedingungen« gebildet, aus dem heraus neue Impulse erwachsen können. Deshalb sollen bei den geplanten Veranstaltungen, Projektwochen und Zukunftswerkstätten des House of Transformation auch Methoden genutzt werden, die eine kollektive Intelligenz zugänglich machen, wie die Theorie U von Otto Scharmer, das World-Café oder der bohmsche Dialog.
Mit dieser Initiative möchte Ruff die Fragmentierung, die er zwischen verschiedenen Forschungsbereichen, zwischen Philosophie, Kunst, Spiritualität und sozialer Transformation sieht, in eine Integration bringen, aus der in einem offenen künstlerischen Begegnungsprozess neue Antworten auftauchen können. So kann die Vielzahl der verschiedenen Perspektiven nicht nur nebeneinanderstehen, sondern in wechselseitiger Durchdringung unbekannte Horizonte öffnen. Diese Prozesse sollen an Berliner Orten stattfinden, die dieses integrative Credo anklingen lassen, wie das Silent Green Kulturquartier, das Kunstschaffende verschiedener Disziplinen zusammenführt, oder das Kunst- und Kulturzentrum Reinbeckhallen.

Dorf in der Stadt

Interessant am Beispiel Berlin ist auch, dass sich die Lebenswelten dieser kreativen Szenen in Kiezen organisiert, die vielfach quasi dörfliche Strukturen entwickeln. Ruff beschreibt, wie ein brasilianisches Bistro um die Ecke, in dem sich Berliner aus aller Welt treffen, für ihn zum zweiten Wohn- und Arbeitszimmer und Knotenpunkt der Kommunikation und Begegnung geworden ist. Etwas organisierter zeigt sich dieser Trend in den vielen Co-Working-Projekten und Hubs, aber auch in den Initiativen zum Urban Gardening, wie die »Stadtfarm« oder der »Prinzessinnengarten«. Hier kann man nicht nur Gemüse kaufen, sondern man kann die Lebendigkeit und Rhythmen der Natur erfahren und sich in einem natürlichen Lebensraum begegnen. Die Natur wird nicht mehr als etwas wahrgenommen, was vor den Toren der Stadt beginnt, sondern als eine Grundwirklichkeit unseres Daseins, für die es auch in urbanen Lebensstilen Entfaltungsmöglichkeiten gibt.
Was für Möglichkeiten das sein können, untersucht das Forschungsdorf »Floating University«, das vom Architektur-Kollektiv »Raumlabor Berlin« geschaffen wurde. Auf einem Regensammelbecken des Tempelhofer Feldes ist in Zusammenarbeit mit 20 Universitäten ein temporärer Forschungscampus entstanden, mit Gemüsegarten, Bar, Studienräumen, einer Kinderuniversität, einem Laborturm und einer selbst gebauten Wasserfilteranlage. Bis September soll es ein Ort für Studierende aus aller Welt sein, aber vor allem auch für die Kiezbewohner, an dem die Zukunft der Stadt neu gedacht und gelebt werden kann. Im Zentrum dieses Projekts steht der interdisziplinäre Austausch, weil Stadtentwicklung für die Initiatoren ein »Polylemma« ist: Wir haben es mit einer Komplexität zu tun, die eine Disziplin nicht erfassen kann. Deshalb steht auch hier der Dialog im Mittelpunkt und es arbeiten beispielsweise Stadtentwickler mit Tänzern und Musikern zusammen.
Es scheint, dass in diesen Projekten im »Labor Stadt« das Erleben und Erforschen natürlicher Lebendigkeit und ökologischer Regenerationsprozesse mit der Schaffung kultureller Zukunftsbiotope zusammenfindet. Hier deutet sich eine organische Integration von Kultur und Natur an, die uns vielleicht den dialogischen Raum eröffnet, aus dem heraus sich unser Bewusstsein und unsere Lebensweise transformieren können. Damit auch wir als Individuen und als Gesellschaft zu einer neuen Synthese von kultureller Kreativität und ökologischer Nachhaltigkeit finden.

Stadt im Dorf

Ein anderer Ausdruck dieser integrativen Bewegung ist, dass solche kreativen Stadt-Communites oft auch eine rege Beziehung mit dem Umland entwickeln. Denn sie suchen nach neuen Wegen, um in der Begegnung mit der Natur Inspiration, inneren Ausgleich, Lebensverbundenheit und auch Sinnräume zu finden. »Stadt-Land-Nomaden« nennt sie Janosch Dietrich, der Mitgründer von »Coconat – community and concentrated work in nature« in der Nähe von Berlin. Hier kann man sich für eine bestimmte Zeit einmieten, um in naturnaher Umgebung, in einer kreativen Community an eigenen oder gemeinsamen Projekten zu arbeiten: Workation, eine Mischung aus Work und Vacation.
Franziska Kohler (S. 69) lebt seit Kurzem fest im Coconat, auf dem Gelände entsteht gerade ihr Tiny House. Vorher hat sie in der Nähe von Wien das Projekt »Dorfplatz« mit aufgebaut, ein sozio-ökonomisches Zentrum für kooperatives Arbeiten, Lernen und Leben mit Werkstätten für KunsthandwerkerInnen, einem Gemeinschaftsbüro, einem Repair-Café, einem Foodcoop (eine Lebensmitteleinkaufsgemeinschaft) und einer gemeinschaftlich genutzten Infrastruktur. In Zukunft möchte sie als Beraterin für ländliche Innovation noch einen Schritt weitergehen. Ihre Vision ist es, dass junge, kreative Menschen sich gemeinsam in einem ländlichen Raum ansiedeln, neue Gemeinschafts- und Arbeitsstrukturen entwickeln und damit neu gestalten, was Landleben heute sein kann. »Gründen im Grünen« heißt ihr Projekt, für das sie in der Nähe des Coconat ein Pilotprojekt starten möchte, das dann in anderen Regionen übernommen werden kann. Ein Aspekt des Projekts ist auch, die Teilnehmer bei der Verwirklichung von unternehmerischen Ideen und Start-ups auf dem Land zu begleiten. Diese Initiative ist Teil eines Smart-Village-Förderprogramms in der Region um Bad Belzig, bei dem die neuen Möglichkeiten digitaler Vernetzung für den ländlichen Raum erprobt werden.
Für Franziska Kohler ist dieses Projekt ein weiterer Schritt, ländliche und natürliche Räume nicht nur zum Aufatmen vom Stadtstress oder als konzentriertere Arbeitsumgebung zu nutzen, sondern auch Verantwortung für einen Ort und seine Natur und Kultur zu übernehmen. »Was braucht es, um in eine vertiefte Naturerfahrung zu kommen?«, fragt sie, und antwortet: »Für mich gehört beispielsweise dazu, Verantwortung für den Garten zu übernehmen, oder wenn ich jeden Tag im Wald spazieren gehe und sehe, wie er sich verändert, und welche Tiere und Pflanzen dort leben.« Für sie gehört dazu aber auch, die Verödung und Vereinsamung vieler Dörfer wirklich zu spüren und daraus den Handlungsimpuls zu finden, ländliche Räume neu zu gestalten. Und sie erhofft sich von solch neuen Lebensorten auf dem Land einen heilsamen Einfluss auf das Leben in der Stadt, wenn Menschen bemerken, dass sich das Leben nicht an Konsum, Leistung und Unterhaltung orientieren muss, sondern tiefere Quellen der Zufriedenheit spürbar werden. Denn, so Kohler, »auch in der Stadt ist es möglich, Dorfstrukturen und Naturbezug zu etablieren und aus der Anonymität herauszutreten. Und auch wenn man auf dem Land lebt, kann man in einem urbanen Mindset bleiben, Innovationen voranbringen und sich mit spannenden Leuten vernetzen.«
Ähnliche Erfahrung hat den Prozessbegleiter und »intellektuellen Schamanen« Adrian Wagner dazu bewogen, in das Projekt »Waldraum« in der Nähe von Freiburg zu ziehen. Auch hier haben sich Menschen zusammengefunden, um in der Natur zu leben, zu arbeiten und kreative Entwicklungsräume zu gestalten. Wagner beschreibt, wie sich sein Lebensgefühl durch diesen Umzug verändert hat: »Ich spüre, dass ich viel elementarer mit der Natur verbunden bin. Ich sehe, wie sich die Bäume und Pflanzen im Laufe der Zeit verwandeln und erlebe mich selbst als tiefer und voller verkörpert.« Wagner sieht den Ort auch als einen »Landeplatz« für Digitale Nomaden, zu denen er sich selbst zählt. Als jemand, der für seine Doktorarbeit und verschiedene Projekte viel auf Reisen ist, bietet dieser Ort in der Natur eine Verwurzelung. Der Community im Schwarzwald ist es dabei auch wichtig, einen guten Kontakt zu den Einheimischen zu entwickeln, damit solch ein Projekt nicht wie ein Fremdkörper in einem dörflichen Gefüge wird, sondern zu einem belebenden integralen Organ.

Potenzialentfaltungsgemeinschaften

Solche belebenden Orte im ländlichen Raum wie der Waldraum, das Coconat oder der Dorfplatz können vielleicht die wichtige Rolle von Lebensimpulsen übernehmen, um neue Kreativität und Innovation in dörfliche Strukturen zu bringen. Die Dokumentarfilmerin Teresa Distelberger arbeitet gerade an einem Film zu »Dorfsterben und Dorfleben« in Österreich und muss feststellen, dass viele Dörfer durch Abwanderung, Industrialisierung und demografischen Wandel ihr Leben verlieren: Handwerker und Kleingewerbe können sich kaum mehr halten, Schulen und Gemeinden werden zusammengelegt, die Ortszentren veröden, die Arbeitsmöglichkeiten schwinden, die Menschen fühlen sich abgehängt. Distelberger ist der Ansicht, dass wir eine neue Solidargemeinschaft zwischen Stadt und Land entwickeln müssen und dafür braucht es kreative Ideen.
Wie etwa die Initiative »Ausheimische« des Architekten Roland Gruber, mit der versucht wird, die Beziehung zwischen Menschen, die ländliche Gebiete verlassen, und ihrer Heimat nicht abreißen zu lassen, sondern kreativ zu nutzen. Für beide Seiten: Die Dörfer erhalten Zugang zur Innovationskraft dieser »Ausheimischen« und diese wiederum können die Verbindung mit ihren Wurzeln pflegen. Denn, so Distelberger, »Dörfer sind im Grunde Beziehungskörper«. Und wir müssen wohl wieder lernen, wie wir sie pflegen können, und etwas entwickeln, was der Neurowissenschaftler Gerald Hüther »Kommunale Intelligenz« nennt. In seinem Buch mit diesem Titel schreibt er: »Was Kommunen also brauchen, um zukunftsfähig zu sein, wäre eine andere, eine für die Entfaltung der in ihren Bürgern angelegten Potenziale und der in der Kommune vorhandenen Möglichkeiten günstigere Beziehungskultur. Eine Kultur, in der jeder Einzelne spürt, dass er gebraucht wird, dass alle miteinander verbunden sind, voneinander lernen und miteinander wachsen können.« Auf dieser Grundlage können Kommunen zu »Potenzialentfaltungsgemeinschaften« werden.

Sehnsucht und Zugehörigkeit

Der irische Philosoph John O’Donohue wies darauf hin, dass Sehnsucht und Zugehörigkeit – longing and belonging – Grundbedürfnisse unseres Herzens sind. In meinen Gesprächen mit Menschen, die nach neuen Umarmungen zwischen Stadt und Land suchen, hatte ich den Eindruck, dass sie in sich auf dem Weg sind zu einer Integration dieser beiden Lebensimpulse: die Sehnsucht nach freier Entfaltung der eigenen Person und Potenziale und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft; die Sehnsucht nach globaler Vernetzung und die Zugehörigkeit zu einem Ort bzw. Orten; die Sehnsucht nach der unbekannten Zukunft und die Zugehörigkeit zu einem gewachsenen Lebensraum.
Solch eine Integration hat auch eine politische, soziale und letztlich bewusstseinsmäßige Dimension. Franziska Kohler spricht darüber, wie sie ihre Vorurteile gegenüber den Dorfbewohnern abbauen musste, um den Menschen dort wirklich zu begegnen, sie wertzuschätzen und ihre Sicht der Welt als Bereicherung zu erfahren. In Zeiten, wo das Thema »Heimat« wieder neu diskutiert wird, ist es wichtig, dass es auf die Frage nach der Zugehörigkeit nicht nur regressive und angstbestimmte Antworten gibt, wie sie Rechtspopulisten geben. Und in einer Welt, die von materialistischen Werten, der Suggestivkraft digitaler Medien und einem Sinnvakuum geprägt ist, stellt sich auch die Frage unserer Sehnsucht neu. Wer können wir als Menschen sein? Und wofür? Als Ausdruck eines Lebens, das sich in der elementaren Lebendigkeit der Natur genauso offenbart, wie in der schöpferischen Lebendigkeit unserer kulturellen Kreativität.
Deshalb werden solche Initiativen zur Vernetzung und Umarmung von Stadt und Land dringend gebraucht, damit wir gemeinsam neue Ausdrucksformen von Sehnsucht und Zugehörigkeit finden, die dem Potenzial unseres Menschseins auf diesem Planeten wirklich gerecht werden. Um mehr und mehr zu erfahren, was John O’Donohue in poetische Worte fasst: »Wir sehnen uns danach, zu erkennen, wer wir sind, um zu freien und mitfühlenden Menschen zu werden. Leben bedeutet, von Sehnsucht erfüllt zu sein. Es ist tröstlich, dass wir alle in der allumfassenden Umarmung der Erde leben und handeln. Wir können nie aus dem Schutz dieser Zugehörigkeit herausfallen.«

 

Webseiten zum Thema: www.silent-green.net www.reinbeckhallen.de www.stadtfarm.de www.prinzessinnengarten.net www.floatinguniversity.org www.coconat-space.com www.dorfplatz-staw.net www.waldraum-freiamt.de www.ausheimische.at

Erschienen in Ausgabe 19 / 2018: Stadt & Land – Lebendige Lebensräume

Von der DDR in die Freiheit und weiter

Erfahrungen zwischen Individualität und Gemeinschaft

In einer biografischen Kontemplation folgt evolve-Redakteur Mike Kauschke der Dynamik zwischen der Verwirklichung des eigenen Selbst und der Verbundenheit in Gemeinschaft.

 Mein Weg begann in einem Land, in dem Gemeinschaft und Kollektiv einen großen Wert hatten und im Grunde alle Lebensbereiche formten. Ich bin in der DDR aufgewachsen, dem Land des „real existierenden Sozialismus“. Zu Beginn hier kurz zur Erinnerung, mit welchen vielversprechenden Worten Marx und Engels ihr Ideal von individueller Entwicklung und Gemeinschaft beschrieben: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Denn in „der wirklichen Gemeinschaft [erlangen] die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit“.
Wenn uns in der Schule damals die Vision des Sozialismus und des Kommunismus erklärt wurde, ging mir das Herz auf: Eine Gesellschaft, in der die Menschen freiwillig ihre Bedürfnisse reduzieren, damit alle genug haben. Wo Solidarität über brutalen Eigeninteressen steht. Wo man schließlich kein Geld mehr braucht, weil jeder nur das nimmt, was er braucht. In einer Welt, wo mir die Angst vor einem Atomkrieg manchmal schlaflose Nächte bereitete, schien das wirklich wie der Himmel auf Erden. Solche Ideale waren es doch wert, die eigenen Interessen, Wünsche, Sehnsüchte etwas zurückzustellen. Warum so egoistisch sein, wenn doch die Zukunft der Erde auf dem Spiel steht!

Raus aus dem Wir

Bei mir ging das solange einigermaßen gut, bis in der inneren Revolution namens Pubertät etwas immer nachdrücklicher auf sich aufmerksam machte: das Aufdämmern des Ich. Wie wohl jeder junge Mensch erlebte ich den krassen Konflikt zwischen dieser aufkeimenden Individualität und den Grenzen der Gesellschaft. Nur waren im Arbeiter- und Bauernstaat diese Grenzen so eng, dass jeder individuelle Impuls sofort an Wände lief. An äußere Wände, wie die extrem eingeschränkten Möglichkeiten, frei eigenen Interessen zu folgen. Musik, Literatur, Filme, Ideen: alles gefiltert durch den Blick der „Linientreue“. Und an innere Wände: die Angst, anzuecken oder von Autoritäten missbilligt zu werden. Und ja, auch Angst, die doch eigentlich gute Sache des Sozialismus zu verraten.
Gerade als dieser Drang zu individueller Entfaltung den Zweifel an einem Wir wachsen ließ, das scheinbar seine Kraft daraus zog, dass der Einzelne sich unterordnet und zurücknimmt, brach es auch schon zusammen. Der Konflikt, der da in meiner jungen Psyche aufbrach, hatte in einem weitaus reiferen Stadium auf den Straßen von Leipzig und Berlin die Übermacht des gesellschaftlichen Wir zu Fall gebracht – mit einem Ruf, der diesem Wir klarmachte, wer es eigentlich ist: „Wir sind das Volk“. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach der Würde des Einzelnen, hatte die Mauer zu Fall gebracht. Meine erste Amtshandlung war eine Fahrt nach West-Berlin, um von den 100 D-Mark Begrüßungsgeld die subversive Musik zu kaufen, die in der DDR unerhört gewesen war.

Verloren im Ich

Aber was macht ein Ich, das die Grenzen des Wir gewohnt war, erlitten und bekämpft hat, mit der neu gewonnenen Freiheit? Wie schwer es sein kann, ein Ich zu sein, wenn man in einer Wir-Gesellschaft aufgewachsen ist, führte mir vor Kurzem wieder der Kinofilm „Als wir träumten“ von Andreas Dresen vor Augen, in dem es um Jugendliche in Leipzig geht, die zur Wende etwa in meinem Alter waren, so um die siebzehn. Der plötzliche Zusammenbruch der Strukturen und Werte wirft sie in die neue Freiheit und den Rausch von Technosound, Drogen, Sex und Gewalt, aber auch schon sehr bald in die innere Leere. Am Ende des Films erscheinen sie alle ausgebrannt von zu viel Freiheit, die ihren Sinn noch nicht gefunden hat. In seinem Buch „Vom Gebrauch der Freiheit“ schreibt der Theologe, Philosoph und Politiker der Wendezeit Richard Schröder über diese Erfahrung: „Die Sehnsucht nach der Freiheit kann hinter Mauern so unermesslich anwachsen, dass die Wirklichkeit der Freiheit nicht halten kann, was man in sie gesetzt hatte. Die ersehnte Freiheit ist noch nicht die gebrauchte Freiheit.“ Freiheit bedeutet ja auch, dass wir nun selbst herausfinden müssen, wie wir unser Leben leben wollen, welche Werte uns wichtig sind. Für diesen Gebrauch der Freiheit braucht es ein entwickeltes Ich.
Als die DDR zerfiel, spürte ich auch in mir, dass die Entwicklung eines Ich harte Arbeit ist. Wohl umso mehr, wenn man es nie „gelernt“ hat und es eine Art inneren Aufpasser gibt, der davor warnt, sich zu sehr zu exponieren. Wie groß mein „Rückstand“ in dieser Richtung war, erlebte ich ziemlich eindrücklich bei meinem ersten Besuch in Freiburg, der deutschen Hochburg der Postmoderne. Die jungen Menschen, die ich dort traf, waren so individuell, wussten es und waren stolz darauf. Eine Freizeitbeschäftigung erschien für mich damals schillernder als die andere, von Tantra über Tango bis zu Neumondschwitzhütte und Kontaktimprovisation. Aber als ich eine Weile dort lebte, merkte ich auch, wie verloren wir in dieser Individualität sein können. Was verbindet uns noch, wenn jeder seinen eigenen Weg geht und an seinem eigenen Projekt der Selbstverwirklichung arbeitet und andere Menschen nur noch zu Statisten in diesem persönlichen Drama werden?

Spirituelle Gemeinschaft

Eine ganz neue Perspektive auf Ich und Wir erfuhr ich dann in ersten spirituellen Erfahrungen, die ich in der Zen-Meditation machte. Es war die Erfahrung eines tiefen Nach-Hause-Kommens in einen inneren Raum, der weit tiefer liegt als das persönliche Ich. Ja, in der Freiheit von den herkömmlichen Ich-Bezügen wie Biografie und Geschichte dämmert eine befreiende und weitende Bewusstheit auf. Für mich eröffnete diese Erfahrung eine neue Welt. Wer ich als Individuum war, schien plötzlich eingebunden in einen Raum der Unendlichkeit und Freiheit. Und ich spürte eine tiefe Sehnsucht, in diesen Raum tiefer einzudringen. Ich fragte mich, wie wäre es, mit Menschen in einem Wir zu sein, die die gleiche Erfahrung machen und diese Sehnsucht teilen. Dieser Wunsch führte dazu, dass ich zwei Jahre in Zen-Zentren in Deutschland und den USA lebte. Es war eine große Erfüllung, weil ich plötzlich eine für mich ganz neue Form von Gemeinschaft erlebte. Sie basierte nicht auf gesellschaftlichen Konstellationen, Familie oder Freundschaft, sondern auf dem geteilten Anliegen, gemeinsam spirituell zu praktizieren und ein Leben zu leben, das die Tiefe und Freiheit, die wir in der Meditation erfahren können, in die Welt bringt. Eine Zeit lang war dies auch wirklich meine Erfahrung. Das Wir formte sich aber nicht nur aus gemeinsamer Praxis und Arbeit, sondern auch aus dem Eingebundensein in eine Tradition. Obwohl meine Lehrer damit experimentierten, die Zen-Tradition ins 21. Jahrhundert zu übersetzen, war dies immer noch der Rahmen. Langsam kamen mir Zweifel, ob diese traditionelle Form für uns Menschen im Westen wirklich angemessen ist. Bei all der tiefen Freude und Freiheit, die ich in der Meditation erfuhr, spürte ich doch kreative eigenständige Impulse, für die im Rahmen dieser Tradition kein Platz zu sein schien. Als ich dann trotz spiritueller Gemeinschaft merkte, wie es zu ständigen Ego-Konfrontationen kam und wie sich im Zusammensein auch individuelle Schattenaspekte zeigten, wurde klar, dass ich diese Lebensform verlassen musste und wollte.

Geist zwischen Menschen

Durch den Abschied von der spirituellen Gemeinschaft merkte ich schließlich, dass wohl auch ich noch an meinen eigenen individuellen Schatten arbeiten musste. Ich experimentierte mit verschiedenen Therapieformen, machte Selbsterfahrung, begann zu schreiben. Für mich war es die Suche nach meinem eigenen kreativen Ausdruck. Dieses Anliegen wurde auch zum Kontext der meisten meiner Beziehungen. Obwohl ich weiter meditierte, verlor ich doch den Zugang zu der spirituellen Tiefe, die ich so sehr schätzen gelernt hatte. War es nicht möglich, als Mensch kreativ und unabhängig zu sein und trotzdem diese innere Freiheit zu bewahren? Bald schon nahm ich mit dieser Frage meine spirituelle Suche wieder verstärkt auf und landete schließlich bei einem Retreat mit Andrew Cohen. Er setzte die spirituelle Erfahrung in den Kontext der Bewusstseinsevolution und deutete nicht nur auf meditative Einheitserlebnisse, sondern auch auf die Kreativität unseres Menschseins, in der sich ein tieferer schöpferischer Impuls zeigt. Für mich kamen zwei Dimensionen zusammen, die bisher immer gegeneinander standen: die Erfahrungen der Einheit im meditativen Bewusstsein und die einzigartige Individualität mit der eigenen kreativen Energie. Dort machte ich auch Wir-Erfahrungen, die anders waren als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. In spontanen Gesprächen während des Retreats war plötzlich eine lebendige Kreativität und Intimität zwischen Menschen spürbar, die sich kaum kannten. In diesen Gesprächsrunden erlebte ich die Freiheit der Meditation und die brennende freudvolle Kreativität wie in eins gesetzt. Für mich zeigte sich da eine ganz neue Möglichkeit von Wir.

Authentisch werden

Als ich mich mehr auf dieses Wir einließ, wurde bald deutlich, von was es genährt wird: von der eigenen Authentizität. In solch einem spirituell aufgeladenen Wir merkte ich, dass alles, was aus meinem konditionierten Verstand kam, nicht ankam, nicht in diesen Raum passte. Diese Erfahrungen wurden zu einer spirituellen Krise, weil ich ahnte, dass ich innerlich an einen Punkt der Transparenz kommen musste, den ich noch nicht kannte. Statt wirklich in die Tiefe meiner Erfahrung zu gehen, versuchte ich, mich diesem neu gefundenen Wir anzupassen. Doch das funktionierte nicht, weil dieses Wir nur aufscheinen konnte, wenn alle Beteiligten aus innerer Freiheit und eigener Erfahrung sprachen und nicht aus den Konditionierungen des Verstandes. Es wurde klar, dass ich, um in diesem Wir lebendig sein zu können, noch viel tiefer zu mir selbst finden musste, zu meiner eigenen Stimme, meinem eigenen Ausdruck.
Paradoxerweise stellten sich diese befreienden Momente wirklicher Authentizität gerade dann ein, als ich mich in gewisser Weise nicht mehr darum kümmerte, wie meine eigenen Impulse im Wir der Gemeinschaft ankamen. Wahrscheinlich muss man sich einmal wirklich ganz allein, wirklich völlig auf sich selbst gestellt empfinden, um zu einer neuen Tiefe in sich selbst durchzubrechen, aus der dann die eigene Stimme hervorkommt, der es egal ist, wie andere auf sie reagieren. Gerade weil man sich dann nicht mehr durch die Reaktion der anderen definiert, ist man frei. Auch frei, jetzt als einzigartiges Ich das Wir mitzuformen. Als diese authentische Stimme lauter und vernehmbarer wurde, erlebte ich immer intensiver die Erfahrung eines heiligen Wir-Raums, wo man wirklich das Gefühl hat, dass durch die Beteiligten ein Bewusstsein spricht, das von der radikalen Autonomie der Anwesenden abhängt. In diesem Wir-Umfeld zeigte sich aber auch, dass die Unabhängigkeit, die in uns aufbrach, in einer traditionell gefärbten Lehrer-Schüler-Kultur verblieb, die auf starren Strukturen beharrte. Die Lebendigkeit, die sich im Wir entwickelte, rieb sich an dieser Enge. Schließlich wurde klar, dass die Autonomie der Einzelnen nicht mehr in solchen Strukturen leben konnte. Weil die Strukturen die Freiheit und Dynamik des Wir nicht mehr halten konnten, zerfielen sie.

Ein Prozess

Heute sind für mich all diese Erfahrungen der Dynamik zwischen Ich und Wir die Inspiration für den Versuch, Freiheit und Verbundenheit als ein kreatives Wechselspiel zu leben. Denn wenn ich auf meinen Weg durch verschiedene Formen von Gemeinschaft zurückblicke, habe ich den Eindruck, dass er einer Spirale folgt, die immer engere Kreise zieht. Ich und Wir kommen sich immer näher. Ein lebendiges Wir ist nur möglich, wenn sich freie, selbstverantwortliche Persönlichkeiten begegnen. Und je individueller sie sind, desto größer ist das Potenzial für kreative Begegnung. Vielleicht ist ja die Trennung zwischen Ich und Wir auch etwas, über das wir im Laufe unserer Bewusstseinsevolution hinauswachsen werden – beziehungsweise wir erkennen, dass sie eigentlich nie real war.
Denn bin ich, wenn ich diese Zeilen schreibe, nun eigentlich im Ich oder im Wir? Natürlich sitze ich hier und schreibe, es ist mein Anliegen, mein kreativer Impuls. Aber während des Schreibens denke ich auch mit Dankbarkeit an all die Menschen, denen ich auf meinem Weg begegnen durfte, ich habe Sie als Leser in der Aufmerksamkeit oder meine Kollegen von der Redaktion, denen ich die Anregung zu diesem Artikel verdanke. Doch diese Zeilen würden sich nicht schreiben, wenn ich nur an all diese Verbundenheiten denken würde. Ich muss es tun.
Wenn es so etwas wie eine neue Stufe unserer Bewusstwerdung gibt, dann wird sie sich meiner Erfahrung nach als eine wunderbare Integration von Ich und Wir entfalten, in der die Polarität in einer dynamischen Einheit aufgehoben sein wird. Das bedeutet dann gewissermaßen, dass wir als Individuum unsere Eingebundenheit in ein größeres Wir nicht mehr verlassen. Und als Beteiligte in einem Wir unser einzigartiges Ich-Sein nicht mehr aufgeben. Ich und Wir werden zu einer Bewegung, die nur lebendig bleibt, wenn wir nicht an einem dieser beiden Aspekte festhalten. Dann kann man vielleicht von einem erwachten Ich-Wir sprechen: Wir erwachen zu dem einen Prozess, in dem Ich und Wir, Individualität und Gemeinschaft, nur zwei Facetten unseres sich entfaltenden Bewusstseins sind.

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Erschienen in Ausgabe 06 / 2015: WIR-RÄUME – Die Transformation unserer Beziehungen

Alexis Sorbas, entspannte Griechen und der Preis der Voreingenommenheit

Gedanken einer Reise

Die Griechenlandkrise ist wohl nur ein Symptom für die Frage, wie wir in Zukunft in Europa in einem globalen Kontext zusammenleben wollen. Diese Frage hat sich evolve-Redakteur Mike Kauschke während einer Griechenlandreise in diesem Sommer auch gestellt – und gemerkt, wie groß und komplex sie ist.

 

Griechenland bestimmt momentan nur noch am Rande die Schlagzeilen, die Flüchtlingskrise steht im Hauptfokus – und dabei vor allem unsere. Denn gerade Länder wie Griechenland oder Italien erleben diese Krise schon länger hautnah. Der Umgang mit den Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, und der Umgang mit verschuldeten Staaten wie Griechenland hat in Europa zu Konflikten geführt und die Frage nach dem, was uns verbindet, neu gestellt. Im Kontext eines globalen Dialogs sehen wir, dass schon die Begegnung mit unseren kulturellen Nachbarn eine Herausforderung ist. In einer positiven Perspektive bietet diese Auseinandersetzung aber auch den Raum, um neu darüber nachzudenken, wie wir in Europa künftig zusammenleben wollen. Dazu gehört auch, dass wir die Menschen, mit denen wir das tun wollen, besser verstehen lernen. Wie bei jedem Dialog erfordert dies aber auch eine Haltung, in der Stereotypen und Vorurteile zur Seite fallen, um den Blick freizumachen für eine gemeinsame Zukunft. Für mich war deshalb eine Reise in diesem Sommer nach Griechenland auch die Begegnung mit einem Land, das ich bisher vor allem aus den aktuellen Zeitungsberichten kannte.
Ein wichtiger Aspekt dieser Begegnung wurde für mich, mehr über die Geschichte Griechenlands zu erfahren. Dadurch erhielt ein bisher ziemlich flaches Bild des Landes Tiefe, Konturen und Menschlichkeit. Ich konnte gegenwärtige Tendenzen nachvollziehen und verstehen, was nicht heißt, sie einfach gut zu heißen. Ohne solch ein historisches Bewusstsein ist es schwierig, sich in eine andere Kultur tiefer einzufühlen. Ganz im Sinne des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der sich, wie wir später noch sehen werden, gerade viele Gedanken über unsere Zukunft in Europa macht: „Vergangenheit bedeutet für uns [in Europa] nicht nur Kulturgut und Tradition, sondern eine anthropologische Grundbedingung. Wir können zur Gegenwart nur archäologisch vordringen, indem wir mit unserer Geschichte ins Reine kommen.“ Begeben wir uns also auf eine kleine archäologische Reise.

Geschichte mitdenken

In der schnelllebigen Diskussion wird sehr leicht vergessen, dass Griechenland eine substanziell andere Entwicklung genommen hat, als die Staaten Kerneuropas. Während hier die Renaissance und die Aufklärung die Moderne voranbrachten, war Griechenland Teil des Osmanischen Reiches. Heinz Richter, ein profunder Kenner der politischen Kultur Griechenlands, sagt dazu: „Als osmanische Provinzen nahmen diese Teile Europas an folgenden Entwicklungen nicht teil: Renaissance, Reformation, Gegenreformation, Absolutismus, Rationalismus, Aufklärung und bürgerliche Revolution. Für beinahe 400 Jahre stand die Zeit dort fast still.“ Richter weist auch auf den tief in der griechischen Gesellschaft verankerten Klientelismus hin, der die private Bereicherung an staatlichen Geldern erst möglich und ganz selbstverständlich machte. Auch nach der Befreiung von osmanischer Herrschaft war Griechenland größtenteils von Schutzmächten bestimmt wie Deutschland, England oder den USA. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Griechenland zu einem der ersten Schauplätze des Kalten Krieges, wo in einem blutigen Bürgerkrieg die kommunistischen Partisanen gegen konservative Truppen kämpften, die durch die USA und England unterstützt wurden. Als nach einigen Jahren anfänglicher demokratischer Entwicklung eine linke Partei die Wahlen gewann, putschte das Militär und errichtete eine Diktatur. Erst 1976, nach dem Ende der Junta, begann für die Griechen der Weg in die Demokratie, die aber bis heute laut Richter als klientalistische Demokratie wirkt. Die politischen Eliten, die gerade an der Macht waren, bedienten sich freizügig im „Versorgungssystem“ der EU, der Griechenland 1981 beigetreten war. Und diesem Beispiel folgten die Griechen in der Beziehung zu ihrem eigenen Staat. Immer wieder hörte ich auf meiner Reise, dass es in Griechenland eine Art Sport ist, Wege zu finden, um den Staat zu betrügen. Wenn man sich die Geschichte Griechenlands ansieht, wird das auch verständlich, denn ein staatliches System, dem man vertrauen kann, gab es nicht.
Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Fremdbestimmung ist nun Alexis Tsipras der erste Präsident, der sich mit den Westmächten und den Klientelstrukturen „anlegt“. Ich habe viele Griechen getroffen, die bei aller Unzufriedenheit auf ihn zählen, weil er Hoffnung auf einen neuen Typ Politiker macht. Entgegen der Klientelpolitik der letzten Jahrzehnte hoffen viele auf eine Politik, der die nachhaltige Entwicklung des Landes am Herzen liegt.

Philhellenen und Bestien

Berührt war ich auch von dem engen historischen Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland. Nach dem Besuch der Akropolis las ich überrascht vom Phänomen der Philhellenen. Deutsche und andere Mitteleuropäer, die im 19. Jahrhundert inspiriert durch die Romantik die griechische Antike verehrten. Nicht wenige der Philhellenen griffen mittels finanzieller Unterstützung oder direkt in den Befreiungskampf der Griechen gegen das Osmanische Reich ein. Eine eher belustigende Anekdote ist, dass auch König Ludwig von Bayern ein „Fan“ der Philhellenen war, und deshalb sein Land „Baiern“ in Bayern umtaufen ließ, weil das „y“ den Namen griechischer machte. Der Einfluss König Ludwigs führte auch zur Ernennung des ersten Königs von Griechenland nach der Befreiung von den Türken: sein Sohn Otto, der Griechenland 30 Jahre lang regierte. Er war es auch, der Athen zur Hauptstadt machte, womit auch die Wiederentdeckung der Antike begann.
Ein weiteres Kapitel deutsch-griechischer Geschichte, die bis heute nachwirkt, ist die Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Auf einer meiner Touren in der Nähe von Delphi kam ich zufällig durch das kleine Dorf Distomo. Im Reiseführer las ich, das hier eine SS-Einheit aus Rache für einen Angriff von Partisanen über 200 Frauen und Kinder brutal ermordet hatte. Auf dem Marktplatz des Ortes gab es eine Gedenktafel und auf einem Hügel ein Mausoleum. Auf dem Rückweg ließ ich mich von einer Taxifahrerin, die kein Englisch sprach, dorthin fahren. Nach einer Gedenkminute stieg ich wieder ins Auto, die Taxifahrerin schaute mich etwas ungläubig an und lächelte. Der Wald rund um die Gedenkstätte war niedergebrannt, schwarz verkohlte Baumstämme standen herum. Wie eine offene Wunde klaffte der Ort in der Landschaft. Und für viele Griechen wird diese Zeit noch heute so empfunden, auch wegen der unbeschreiblichen Bestialität, mit der die Deutschen dort wüteten.
Einen Eindruck von diesen Wunden gibt der Film „Ein Lied für Argyris“, in dem die Geschichte von Argyris Sfountouris erzählt wird, der beim Massaker von Distomo 30 Familienmitglieder auf schrecklichste Weise verlor. Später kam er als Waisenkind im Rahmen eines Hilfsprogramms des Roten Kreuzes in die Schweiz und konnte schließlich Physik studieren und arbeitete viele Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit. Gleichzeitig versuchte er, den Schrecken seiner Kindheit zu verarbeiten. Mehrere Male hatte er versucht, vom deutschen Staat Schadenersatz zu erhalten, vergeblich. Das Massaker wurde noch in den 2000er Jahren als „Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung“ bezeichnet, für die es keinen Anspruch auf Schadenersatz gibt. Wenn man solch ein beispielhaftes Schicksal mitempfindet, bekommen die Forderungen nach Reparationszahlungen, die kürzlich wieder laut wurden, einen anderen Klang. Vielleicht geht es hier weniger um Geld als um eine echte Geste der Versöhnung. Im Film sagt Sfountouris, dass der Moment, in dem er Hoffnung auf Versöhnung schöpfen konnte, der Kniefall von Willy Brandt in Warschau war. Bis heute vermisst er solch eine Geste für das Verbrechen von Distomo.

Die Faszination am Fremden

Wie in einem Revival der Philhellenen wurde Griechenland in den 70er und 80er Jahren zum Sehnsuchtsort. Mit der Hippiebewegung und dem Traum von einem Leben, frei von gesellschaftlichen Zwängen, wurde der „natürliche, spontane Grieche“ so etwas wie ein Sinnbild des neuen Menschen. Symbol dafür war natürlich „Zorba the Greek“ oder „Alexis Sorbas“, der weise Lebemann aus dem Roman von Niko Kazantzakis. Noch spirituell aufgewertet hat das Bild des sinnlich erleuchteten Griechen Baghwan Shree Raineesh mit seinem Bild von „Zorba the Buddha“. Für Osho müssen wir erst Zorba werden, bevor wir Buddha werden können: „Ich mache mir Sorgen um Menschen, die keine Zorbas sind. Wie wollen sie Buddhas werden? Sie haben keine Basis für einen Buddha. … Der Unterschied zwischen dem Griechen und Buddha ist nicht groß, aber zuerst musst du zum Griechen werden.“ Es war die Vision von der Vermählung von Geist und Sinnlichkeit. Aber auch die Vereinnahmung und Verklärung einer anderen Kultur, die zur Projektionsfläche der eigenen Sehnsucht wird.
Während meiner Zeit in Griechenland verbrachte ich auch einige Tage bei dem Unternehmer Fritz Bläuel, der in den letzten Jahrzehnten eine Olivenölfirma aufbaute. Er lebt in der Mani im Süden von Pelleponnes, unweit des Ortes, wo Kazantzakis einige Zeit mit dem „echten“ Sorbas lebte, dem er später ein literarisches Denkmal setzte. Fritz kam vor fast 40 Jahren mit einer Kommune aus Wien nach Griechenland, die hier ein neues, freies Leben führen wollte. Für sie erschienen die Griechen die Offenheit für das Sinnliche und seine Energien, das Zerbrechen des „Charakterpanzers“, wie es Wilhelm Reich nannte, schon verwirklicht zu haben. Aber als die Kommunarden langsam verstanden, was die Griechen sagten und wie sie sich verhielten, mussten sie sich eingestehen, dass neben der scheinbaren Freiheit auch Frauenfeindlichkeit, Fremdenhass, Tierquälerei und gar Blutrache das Leben prägten. Schon bald wich die Romantik der Kommune der Konfrontation mit der Realität einer anderen Kultur und die Kommune löste sich auf. Allein Fritz blieb.

Ein Tanz mit den Kulturen

In den folgenden Jahren baute Fritz Bläuel gemeinsam mit seiner Frau Burgi das Unternehmen von einer Ein-Mann-Firma zum größten Arbeitgeber der Region mit 70 Angestellten auf. Damit geben sie auch ein Beispiel dafür, wie eine erfolgreiche Integration unterschiedlicher kultureller Lebensformen möglich sein kann. Die Mani ist ein ländliches Gebiet, das sehr von dörflichen, familiären Strukturen und der Landwirtschaft geprägt ist. Beim Aufbau seiner Firma hat Fritz diese Metapher der Familie aufgegriffen und versucht, im Unternehmen eine familiäre Kultur zu entwickeln. In diesem familiären Rahmen hat er aber auch immer wieder Wege gefunden, die Eigeninitiative der Mitarbeiter zu fördern und ihnen durch Weiterbildung neue Perspektiven zu eröffnen. So konnten sie sich entwickeln und die Firma konnte mit loyalen Mitarbeitern wachsen.
An den lauen Abenden haben mir Fritz und Burgi viele Geschichten darüber erzählt, wie es für sie war, in Griechenland Fuß zu fassen. Heute leben sie einen kreativen Dialog der Kulturen. Nicht nur in der Führung ihrer Mitarbeiter, sondern auch wenn zum Beispiel an den Abenden im Sonnenlink, einem Bio-Hotel, das die Bläuels betreiben, Konzerte mit deutscher Klassik stattfinden. Nach einem langen Gespräch über die Geschichte Griechenlands fragte ich Fritz einmal, was wir Deutschen denn von Griechenland lernen könnten. Er lächelte und sagte halb im Scherz: „Die Entspanntheit.“

Nicht nur Ökonomie

Claudio Agamben, mit dem wir unsere Reise begonnen haben, spricht in seiner Analyse der Krise Europas von der „Verdrängung des Politischen durch die Ökonomie“: „Seit mehr als zwei Jahrhunderten konzentriert sich die Energie des Menschen auf die Ökonomie. Vieles deutet darauf hin, dass für den Homo sapiens vielleicht der Moment gekommen ist, die menschlichen Handlungen jenseits dieser einzigen Dimension neu zu organisieren. Das alte Europa kann gerade da einen entscheidenden Beitrag für die Zukunft leisten.“ In der aktuellen Sparpolitik sieht er ein Europa, dass nur noch nach Kriterien des Ökonomischen agiert. Ein Gegenmittel wäre für ihn eine Neubelebung der Kulturen und eine Begegnung im Dialog der unterschiedlichen Lebensformen, die sich in Europa entwickelt haben. Hier besteht natürlich die Gefahr, schnell in alte Stereotypen vom entspannten (bzw. faulen) Griechen und verspannten (und fleißigen) Deutschen zu verfallen.
Aber angesichts der neoliberalen Machtübernahme in weiten Bereichen unserer Gesellschaft ist die Infragestellung der Herrschaft des Ökonomischen und Produktiven über unser Leben, die für Agamben auch aus den Lebensformen der Mittelmeerländer erwächst, der Beachtung wert: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die verschiedenen Arten der Geschäftslosigkeit für eine Gesellschaft ebenso wichtig sind wie die verschiedenen Arten der Produktion.“ Heute macht diese Einsicht bei uns als Work-Life-Balance, Stressprophylaxe und Achtsamkeitsübung die Runde.
Wenn Europa weiter einer neoliberalen, ökonomischen Agenda folgt, sieht Agamben es vor dem Untergang. Europas Zukunft liegt gerade in Zeiten, wo so viele Menschen hier Schutz suchen, vielleicht vielmehr darin, sich als Kulturraum zu verstehen, zu bewahren und zu entwickeln. Mit unterschiedlichen kulturellen Lebensformen, die in einen fruchtbaren Dialog kommen.
Solch einen Dialog will auch die nächste Documenta fördern, die weltweit größte Ausstellung für moderne Kunst findet 2017 unter dem Motto „Von Athen lernen“ gleichzeitig in Kassel und Athen statt. Als ich durch Athen lief, hat es mich etwas an das Berlin nach der Wende erinnert. Damals war ebenso ein altes System zusammengebrochen, aber in den verfallenden Häusern regte sich neues, kreatives Leben – aber niemand wusste, wie diese Zukunft sein würde. Adam Szymczyk, der Kurator der Documenta, beobachtet: „Die Menschen hier versuchen, sich selbst zu organisieren. Es gibt überall leer stehende Gebäude, die von Künstlern, solidarischen Projekten der gegenseitigen Hilfe und Migranten belagert werden. Athen ist in diesem Sinne auch ein Zufluchtsort, weil Menschen solidarisch miteinander umgehen.“
Krisen und Zeiten des Umbruchs, wie wir sie Griechenland und ganz Europa gerade erleben, bieten auch immer kreative Freiräume für das Neue. Damit sich dieses Neue zeigen kann, brauchen wir einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe, ohne zu beschönigen, ohne zu romantisieren und ohne Vorurteile und Ängste. Und vielleicht ist es angemessen, „Alexis Sorbas“ das letzte Wort zu überlassen. Darin lässt Kazantzakis den Freund von Sorbas sagen: „Ich wusste wohl, was niedergerissen werden musste, aber ich wusste nicht, was man dann auf den Trümmern aufbauen könnte. Das weiß niemand, dachte ich. Die alte Welt steht handgreiflich vor dir, fest verankert. Wir leben sie und kämpfen mit ihr jeden Augenblick. Sie existiert. Die zukünftige Welt ist noch ungeboren, nicht zu greifen, im Flusse. Sie besteht aus dem Stoff, aus dem die Träume entstehen.“

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Erschienen in Ausgabe 10 / 2016: EUROPA SUCHT SEINE SEELE – Warum Spiritualität heute wichtig ist

Wenn alle führen

Über Weltmeister, Holakratie und das Einssein mit dem Leben

Laut einer aktuellen Studie sind selbst die Manager weitgehend unzufrieden mit dem Status quo in Unternehmen. Liegt eine Lösung dafür vielleicht auch in einer neuen Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern? Und was können uns die deutsche Fußballnationalmannschaft und alternative Unternehmensmodelle darüber lehren? Ein Streifzug, der von der Führungskultur geradewegs in die Frage mündet, wer wir als Menschen sein wollen.

In den Diskussionen um neue Formen von Leadership geht es – wen wundert es – meist um die Führenden. Aber viele erkennen heute, dass dieser Fokus zu kurz greift. Denn er verliert leicht diejenigen aus den Augen, die geführt werden. In Wirklichkeit stellt sich eine noch grundlegendere Frage: Wie könnte eine fundamental neue Beziehung zwischen Führenden und Geführten – zwischen Menschen, die gemeinsam etwas erreichen möchten – aussehen?

Partnerschaftliche Führung

Eine mögliche Antwort auf diese Frage kommt von „unseren“ Weltmeistern: Schon vor dem Finalsieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Brasilien wurde das Team mit Lob überhäuft. Ein immer wieder auftauchendes Motiv dabei war die Beobachtung, dass mit Deutschland ein Team, ein Wir, gegen die Mannschaften mit den Superstars gewonnen hatte. Der Teamgeist des Wir habe über große Egos triumphiert.
Gerade auch Menschen, die im Bereich der Mitarbeiterführung arbeiten und das Ende von starren Hierarchien herbeisehnen, erkannten im deutschen Team einen neuen Führungsstil, der diesen Zusammenhalt ermöglicht hatte. In Jogi Löw sahen viele einen Trainer, der nicht autoritär durchregiert, sondern vor allem auf die Förderung des Teamgeistes und eine partnerschaftliche Beziehung mit seinen Spielern setzt. In der Tat scheint Löw einen Weg gefunden zu haben, seine Spieler auch an strategischen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Ein Beispiel: Ihm wird nachgesagt, dass er Standardsituationen wie Eckbälle und Freistöße nie besonders trainieren lassen wollte. Aber einige seiner Spieler machten den Vorschlag, mehr Zeit damit zu verbringen, und Löw nahm diese Idee auf, und siehe da, sechs Tore der Mannschaft während der WM fielen nach Standardsituationen.
Diese partnerschaftliche Haltung und der gemeinsame Fokus auf ein Ziel schienen sich dann auch im Spiel der Mannschaft zu zeigen. Nach dem historischen 7:1 Sieg der deutschen Mannschaft gegen Brasilien im Halbfinale beschrieb beispielsweise der Leadership-Visionär Otto Scharmer das Spiel der deutschen Mannschaft so: „Was hat also den Erfolg der deutschen Mannschaft ausgemacht? Es ist eine Philosophie, die voraussetzt, dass alle Spieler aus einem gemeinsamen Gewahrsein des sich entwickelnden Ganzen handeln. Jeder muss sich allem, was auf dem Spielfeld geschieht, gewahr sein – die Veränderung der Positionen der Spieler, die sich öffnenden Räume zwischen den Mitspielern und den gegnerischen Spielern. Dieses gemeinsame Gewahrsein auf das sich entwickelnde Ganze erlaubte ihnen, den Ball schneller abzuspielen als es das gegnerische Team überhaupt vorhersehen oder darauf reagieren konnte.“
Nach der erfolgreichen WM wurde diese offensichtlich neue Führungskultur mit großem Interesse weiter analysiert. Viele Menschen schienen darin einen Hoffnungsschimmer gegenüber dem zermürbenden Alltag in vielen Unternehmen und Organisationen zu sehen. Tatsächlich scheint es eine große Sehnsucht nach neuen Formen der Führung zu geben. Eine kürzlich veröffentlichte Studie unter 400 deutschen Führungskräften bilanziert: „Dass ein Management, das aus der Hierarchie heraus steuert, noch Zukunft hat, daran glauben die allermeisten nicht mehr. Stattdessen betonen die befragten Führungskräfte, dass das Arbeiten in beweglichen Führungsstrukturen immer wichtiger werde. Als favorisiertes Zukunftsmodell sehen die Manager sich selbst organisierende Netzwerke an, mit denen man eine kollektive Intelligenz anzapfen kann, um so Innovationen hervorzubringen.“

Sie haben die Hierarchien abgeschafft!

Anfang des Jahres gab der amerikanische Online-Modeversand Zappos mit immerhin 1500 Mitarbeitern bekannt, das neue Holocracy-Managementmodell zu übernehmen. „Zappos sagt den Chefs Goodbye“ titelte etwa die Washington Post, und renommierte Organe wie Forbes, Fast Company oder Fortune bemühten sich zu verstehen, wie Führung ohne Bosse funktionieren soll. „Holacracy erlaubt es Mitarbeitern, wie Unternehmer zu agieren und ihre Arbeit selbst zu steuern“, erklärt Zappos-CEO Tony Hsieh im Firmenblog.
Der Ansatz der Holakratie, der von dem Unternehmer Brian Johnson konzipiert wurde, leitet sich aus dem Modell der Soziokratie ab, das maßgeblich von dem Reformpädagogen Kees Boeke begründet wurde. Es beruht kurz gesagt weder auf starren Hierarchien noch auf egalitärem Konsens, sondern auf Konsent. Entscheidungen dürfen nur getroffen werden, wenn niemand der Anwesenden einen schwerwiegenden und begründeten Einwand dagegen hat. Ein weiterer Aspekt von Holakratie ist die Organisation in selbstorganisierenden Kreisen statt in einem hierarchisch angeordneten „Organigramm“. Jeder Kreis hat bestimmte Aufgaben und die verschiedenen Kreise sind durch „Repräsentanten“ miteinander verbunden. Zudem hat jeder Mitarbeiter eine bestimmte Rolle in der Organisation, die er weitgehend selbstverantwortlich ausfüllen kann. Dies bedeutet nicht nur eine strukturelle Neuordnung, sondern auch eine vollkommen neue Beziehung zwischen Führenden und Geführten, die im Rahmen der Holakratie als „verteilte Autorität“ beschrieben wird.
„Als Erstes wird die Verantwortlichkeit verteilt“, erläutert John Brun von Zappos. „Dadurch kann jeder Mitarbeiter verstehen, was im Kontext der Organisation von ihr oder ihm erwartet wird. Danach wird die Autorität verteilt, denn jeder Inhaber einer Rolle kann bestimmen, welche Entscheidungen den Verantwortlichkeiten dieser Rolle am besten gerecht werden. Und wenn Verantwortlichkeit und Autorität zusammengenommen werden, dann entsteht etwas sehr Kraftvolles: eine verteilte Führung“, so der Unternehmer. Das bedeutet nicht nur für die Führenden eine große Umstellung, sondern auch für die Mitarbeiter selbst, die so mehr Freiheit, aber auch mehr Verantwortung erhalten.
Neben dem eigenen Selbstverständnis und der Beziehung zwischen Führenden und Geführten verändert sich dabei auch die grundlegende Konzeption dessen, was wir „Führung“ nennen. Wendelin Küpers, Professor für Leadership an der privaten Karlshochschule, beschreibt es so: „Die Führungskraft wird zu einer Kraft, die nicht auf eine Person beschränkt ist, sondern ko-kreiert wird. Ko-Kreation bedeutet das gemeinsame Hervorbringens von dem, was die Situation, das Problem oder die Entscheidung erfordert. Dies geht noch weiter als eine partizipative Führung, wobei der Führende etwas Macht abgibt, sondern es ist von vornherein so angelegt, dass die Beteiligten Entscheidungen gemeinsam hervorbringen.“ Die Führungskraft wird also aus den Händen bestimmter Menschen genommen, die bisher als die Träger der Führung galten, und wird in das Feld einer dynamischen Gruppe gelegt, die die Führung intersubjektiv „hervorbringt“. Darin wird aber auch die Trennung zwischen Führenden und Geführten durchbrochen, die für beide Seiten in den vorherrschenden Führungskulturen zum Selbstbild gehört. Solch eine Veränderung erfordert also ein Loslassen bisheriger Vorstellungen von Führung und Organisation, die radikaler kaum sein könnte. Aber was ist die Voraussetzung für solch einen Umbruch?

Was will die Organisation?

Ein Modell, das die Veränderung der Beziehung zwischen Führenden und Geführten anschaulich beschreibt, sind die vier Stufen auf der „Evolutionsuhr“ der Unternehmensentwicklung „Growth River“, die vom Berater Richard Hawkes entwickelt wurde. Die erste Stufe ist ein „Verbund von Individualisten“ mit flacher und loser Führungsstruktur, gefolgt von der Stufe der „direktiven Führung“, die hierarchisch strukturiert ist. In der dritten Stufe der „ineinandergreifenden Rollen und Strategien“ erhalten Mitarbeiter eine weitgehende Selbstständigkeit und Verantwortung im Bereich ihrer Rolle in der Organisation. Auf der vierten Stufe der „sich selbst entwickelnden Teams“ öffnet sich der Blick über Rollen, Strategien und funktionalen Zielen hinaus auf den Sinn und das Wesen der Organisation. Der oder die Führende beginnt zu spüren, wohin die Organisation sich entwickeln kann und „möchte“. Hier wird also der Führende zum Geführten, er oder sie „folgt den Bedürfnissen und Potenzialen“ der Organisation. Hawkes fasst es so zusammen: „Gute Führende müssen sich auch führen lassen. Und um geführt zu werden, muss man auch führen können.“
Es entsteht eine flexiblere Beziehung zwischen Führenden und Geführten, die es ermöglicht, dass je nach Thema, Bereich oder Entscheidung andere die Führung übernehmen und andere folgen. Wenn z. B. eine Marketingfrage ansteht, übernimmt derjenige, der diese Rolle ausfüllt, die Führung und alle anderen (einschließlich des CEOs) folgen und sind als Beitragende in dem Prozess präsent. Und bei einer anderen Zuständigkeit verändert sich die Beziehung wieder entsprechend. Hawkes beschreibt diese Flexibilität als „die Fähigkeit, mit der Welt zu tanzen“. Diese Flexibilität vermeidet die rigiden Machthierarchien, aber ebenso die zähen Prozesse von Konsensbildung, weil in jeder neuen Frage, Aufgabe oder Entscheidung eine neue natürliche Hierarchie emergiert, je nach Zusammensetzung des Teams und den Zuständigkeiten und Kompetenzen.
Vor diesem Hintergrund besteht die Rolle des CEOs vor allem darin, den Kontext der Führung zu setzen. Das bedeutet, dass Motivationen und Werte eines Unternehmensleiters ganz wesentlich bestimmten, welche Motivationen und Werte im System lebendig sein können. Wenn diese Werte von einer lebendigen Beziehung zum Sinn der Organisation getragen werden, dann ist es für alle Mitarbeiter möglich, ebenfalls eine eigene Beziehung zum Sinn der Organisation zu entwickeln.
Dieser Sinn ist aber nichts Statisches, sondern selbst ein Prozess der Entfaltung. Eine bewusste Beziehung zu diesem Prozess bestimmt dann auch die Entscheidungsfindung. In der Holakratie spricht man beispielsweise von „integrativer Entscheidungsfindung“, bei der versucht wird, alle relevanten Perspektiven auf das betreffende Thema zu integrieren und so zu einer Entscheidung zu kommen. Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob die Beteiligten „für“ oder „gegen“ einen Vorschlag sind, sondern ob es Einwände gibt, dass ein Vorschlag dem Ganzen der Organisation schaden würde. So wird versucht, den Fokus von „egozentrischen“ Motivationen auf einen „transpersonalen“ Raum zu lenken, in dem die Entscheidung getroffen wird, die am ehesten dem gemeinsamen Ziel dient. Brian Robertson beschreibt diesen Prozess so: „Mit integrativer Entscheidungsfindung fühlt es sich oft so an, als ob die Menschen, die in dem Prozess involviert sind, nicht wirklich per se Entscheidungen treffen. Sie halten einen Raum und lauschen der Realität, und erlauben der kreativen Kraft der Evolution selbst die Entscheidungen zu treffen – durch sie, nicht von ihnen.“
Diese Form der Entscheidungsfindung hat natürlich weitgehende Implikationen auf Aspekte wie Strategie und Planung, denn wie Wendelin Küpers beschreibt, ist solch ein „gemeinsames Hervorbringen“ in seiner Dynamik unabsehbar. Das gemeinsame Tun entsteht also aus dem Prozess, und so formt sich auch die Beziehung zwischen Führenden und Geführten flexibel in diesem Prozess.

Keine Trennung

Unternehmensmodelle wie Holakratie und Growth River versuchen Systeme und Strukturen in Organisationen zu etablieren, die solche Erweiterungen der Führungskultur möglich machen. Praxisberichte aus derart arbeitenden Unternehmen zeigen, wie befreiend neue Strukturen sein können, die den Mitarbeitern mehr Verantwortung, Wertschätzung, Freiraum und Zugang zum Sinn des Unternehmens ermöglichen. Aber klar wird auch, dass es bei allen Beteiligten, Führenden und Geführten – oder ko-kreativen Partnern, was vielleicht die angemessenere Bezeichnung ist –, eine Transformation des Bewusstseins erfordert, um diesen Wandel nicht nur systemisch oder instrumentell, sondern auch existenziell zu vollziehen. Sich einem gemeinsamen Prozess mit anderen Menschen zu öffnen und diesen eingebettet in die Entfaltung der Intention einer wesenhaften Organisation zu erleben, erfordert ein Durchbrechen der existenziellen Getrenntheit, die unsere Wirtschaft, unsere Organisationen, ja unsere ganze Kultur kennzeichnet. Wir müssen uns miteinander und dem Leben verbunden erfahren, um uns authentisch auf einen ko-kreativen Prozess einzulassen, in dem neue Potenziale emergieren können. Hier zeigt sich auch, welche Rolle Spiritualität in einer neuen Führungskultur spielen kann: nicht als persönliches Beiwerk oder im Sinne von Achtsamkeit zur Stressprophylaxe, sondern als Raum der Einübung von Einheit mit dem Leben, um die innere Offenheit, Freiheit und Flexibilität zu entwickeln, die uns erst in die Lage versetzen, bewusste ko-kreative Prozesse zu gestalten.
Zu dieser Möglichkeit gibt es zwei Zugänge: Das eine sind die Mitarbeiter in Organisationen, die aus innerer Sehnsucht einen Weg gehen, um ihr Bewusstsein zu entwickeln. Das andere sind die Organisationen und ihre Führungspersonen, die jene Strukturen etablieren, in denen bewusste Prozesse die Grundlage werden, um ein Unternehmen in seine Bestimmung zu entfalten. Wenn sich beides verbindet, entstehen Unternehmen, die nicht nur Ausdruck neuer Formen der Zusammenarbeit und des Wirtschaftens sind, sondern auch eines anderen Menschseins.

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Erschienen in Ausgabe 04 / 2014:
FÜHRUNG NEU DENKEN – Eine Kultur jenseits von Kontrolle und Konsens

Andere Politik

Wie Ideen die Zukunft erproben

„Es gibt keine Alternative!“, mit diesem Argument wollen sich viele heute nicht abfertigen lassen. Immer mehr suchen nach neuen politischen Ansätzen. Unser Redakteur Mike Kauschke hat einige von ihnen etwas genauer betrachtet, um herauszufinden, ob sich darin etwas Gemeinsames, eine Art Signatur der Zukunft, erkennen lässt.

Deutschland hat die GroKo. Die Parteivertreter haben ihre Kompromisse gefunden. Die Medien konzentrieren sich auf all die Pläne zu Betreuungsgeld, Maut, Energiewende, Mindestlohn und Renten. Wichtige Themen, aber spricht auch jemand über einen Gestaltungsentwurf für unsere Gesellschaft? Ein solcher scheint gegenwärtig zu fehlen. Der Koalitionsvertrag zeugt von dem Bemühen, kurzfristige Antworten auf drängende Fragen zu finden, doch was ist mit grundsätzlichen Perspektiven einer gerechten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Politik? Fehlanzeige!

Das Gute an diesem Mangel ist, dass er wahrgenommen wird. Es zeigt sich in der Gesellschaft ein neues Interesse an Ideen und Konzepten, die mehr im Sinn haben als einen Tapetenwechsel und das Umräumen einiger Möbel. Es scheint, dass immer mehr Menschen eine Idee davon entwickeln, wie es sein könnte, in ein neues Stockwerk umzuziehen, die Vorzeichen von Politik auf ganz grundlegende Weise zu verändern.

Einige dieser Ideen reichen weit zurück, zumindest in die bewegten 60er und 70er Jahre, in denen der Ruf nach mehr politischer Partizipation besonders laut war. Andere Ansätze, die vor allem unser wirtschaftliches Handeln hinterfragen, haben mit der Finanzkrise neuen Wind bekommen oder sind eine direkte Reaktion darauf.

Sehen wir Ansätze einer neuen politischen Kultur? Worin unterscheiden sie sich von den Ideen der 70er Jahre? Scheinen hier neue Werte und Bewusstseinshaltungen auf? Vielleicht zeigt sich ja auch so etwas wie eine Signatur der Zukunft, etwas, dass diese Ansätze miteinander verbindet und sie in den umfassenderen Kontext unserer Bewusstseins- und Kulturentwicklung stellt.

Zukunft ist machbar

Der Soziologe Harald Welzer war vor der letzten Bundestagswahl einer der pointiertesten Kritiker der Parteipolitik und begründete seinen Entschluss, nicht zu wählen, damit, dass die etablierte Politik nicht mehr die grundlegende politische Frage stelle: Wie wollen wir leben? Statt wirkliche Gestaltungsentwürfe für die Zukunft zu entwickeln, werde kurzfristig in allen Bereichen herumgebastelt und die Standpunkte der Parteien seien immer beliebiger: Es „finden sich quer durch die Parteien so vollständig austauschbare Positionen, dass es keine Mühe macht, sich in jeder beliebigen Koalition jeden beliebigen Politikdarsteller in jedem beliebigen Ressort zu imaginieren.“ Tatsächlich hat man den Eindruck, dass bei der Vergabe von Ministerposten nicht zuforderst die Kompetenz und Begeisterung für das Thema entscheidet, sondern alle möglichen Machterwägungen.

Welzer selbst hat die gemeinnützige Stiftung FUTURZWEI ins Leben gerufen, die Menschen und Institutionen unterstützt, die in unterschiedlichen Bereichen nach zukunftsfähigen Lösungen suchen: zum Beispiel Möglichkeiten autofreier Mobilität, Regionalwährungen, Recyclingprojekte oder Umweltschutzinitiativen. Im Zukunftsarchiv werden diese Initiativen vorgestellt und können andere inspirieren, ihre eigenen Ideen umzusetzen. Leitsterne dieser Gestaltungsinitiative sind Kompetenz (Was kann ich wirklich gut?), Begeisterung (Was will ich wirklich tun?) und Zukunftsfähigkeit (Wie kann ich zu einer lebenswerteren Welt beitragen?). Hier wird gesellschaftliche Veränderung als zutiefst kreatives Unterfangen gelebt, denn „eine andere, zukunftsfähige Kultur des Lebens und Wirtschaftens entsteht nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse oder moralische Appelle. Sie wird in unterschiedlichen Laboren der Zivilgesellschaft vorgelebt und ausprobiert.“ Es geht nicht um abstrakte Systemveränderung, sondern darum, etwas zu tun. Menschen nehmen konkrete Projekte in die Hand. Sie vernetzen sich und unterstützen einander. Gerade daraus entsteht so etwas wie eine neue Zivilgesellschaft.

Bei dem Begriff Zivigesellschaft lohnt es sich, einen Moment zu verweilen. Er meint einen Bereich zwischen staatlicher, wirtschaftlicher und privater Sphäre. Die Zivilgesellschaft entstand erst durch die Meinungs- und Gestaltungsfreiheit unserer modernen Demokratie. Wenn man auf die autoritären Systeme in vielen Ländern dieser Welt blickt, erkennt man erst, was für eine Errungenschaft der Geschichte die Zivilgesellschaft unserer heutigen Zeit wirklich ist. Und vielleicht macht sie gerade einen neuen Entwicklungssprung.

Jeder Mensch ist ein Politiker

Dass von der Zivilgesellschaft mehr politische Einflussnahme ausgehen sollte, elektrisierte die 70er Jahre. Rufe nach Basisdemokratie wurden laut, Joseph Beuys gründete damals das „Büro für direkte Demokratie“. Fast eine ganze Generation junger Menschen wollte sich damals nicht mehr von Staat und Wirtschaft gängeln lassen. Politisch mündete diese Phase in die Gründung der Grünen Partei. Die bärtigen und strickenden Außenseiter von damals sind mittlerweile zu wichtigen Koalitionspartnern der Sozial- wie Christdemokraten geworden.

Aber auch die Idee der direkten Demokratie lebte weiter und ist heute wieder vermehrt ein Thema. Die SPD testete zum ersten Mal eine Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag, und so unterschiedliche Politiker wie Sigmar Gabriel, Horst Seehofer oder Heiner Geißler denken laut über den Sinn von Volksentscheiden nach.

Der Verein „Mehr Demokratie!“ und das Projekt „Omnibus für direkte Demokratie“ sind heute aktive Visionäre einer solchen Partizipation. Der Verein „Mehr Demokratie!“ mit etwa 7000 Mitgliedern betreibt auf Länder- und Bundesebene Aktionen und Bildungsprogramme, um Bürgerentscheide zu initiieren und durchzuführen. Der „Omnibus für Direkte Demokratie“, der vom Beuys-Schüler Johannes Stüttgen geleitet wird, fährt durch die Lande, um Menschen zu diesem Thema ins Gespräch zu bringen. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen warben beide Vereine aktiv für die Aufnahme bundesweiter Volksentscheide in den Vertrag und sammelten dazu 165.000 Unterschriften dafür. Anstoß dafür war ein öffentlich gewordenes Papier der Arbeitsgruppe „Innen und Justiz“, in dem ein „behutsamer Einstieg“ in die direkte Demokratie empfohlen wurde. Obwohl diese Empfehlung schließlich nicht in den Vertrag aufgenommen wurde, scheint sich doch eine neue Offenheit für dieses Thema abzuzeichnen.

Aber hat sich seit den Zeiten von Beuys und Dutschke etwas verändert? Zunächst einmal ist augenscheinlich, dass sich der gesellschaftliche Mainstream insgesamt bewegt hat, denn eine konservative Regierung, die den Atomausstieg beschließt, und führende Politiker, die erste Schritte in eine direkte Demokratie befürworten, sind deutliche Indizien für einen grundlegenden Wandel. Die aktuellen Ansätze zur direkten Demokratie sind heute scheinbar weniger von einem Aufbegehren gegen einen als entmündigend empfundenen Staat geprägt, sondern vielmehr von einer Vision der Weiterentwicklung unseres Selbstverständnisses als Bürger in einer Bürgergesellschaft. Denn in einer direkten Demokratie wären wir alle eingeladen und aufgefordert, an den gesellschaftlichen Diskussionen mitzuwirken, wodurch wir mehr zu bewussten Mit-Gestaltern werden. Dann würde es aber sozusagen auch zur „Bürgerpflicht“, bewusster zu werden. Mitbestimmung ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verantwortung, sich um wichtige politische Fragen Gedanken zu machen. Wir müssten bereit sein, uns in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs mit komplexen Themen zu konfrontieren und könnten das nicht mehr bequem „den Politkern“ überlassen. Wir alle wären Politiker.

Auch der Kontext unseres Bürgerseins würde so erweitert. Natürlich sind wir zunächst Bürger eines Landes, aber wir sind auch Bürger Europas, der Welt. Politische Ansätze wie die Simultanpolitik (s. S. …) gehen von einer Weltbürgerschaft aus und versuchen Bürger verschiedener Länder in ihren politischen Zielen zu verbinden.

Emergenz der Demokratie

Hierbei wird klar, dass die jetzigen politischen Strukturen mit solch einem Gestaltungsschub gegenwärtig gar nicht fertig werden können. Aus dieser Einsicht heraus gründete der Berater Jascha Rohr die „Bundeswerkstatt“. Die Idee ist simpel, neben Bundestag und Bundesrat wäre die Bundeswerkstatt eine Art dritte parlamentarische Kammer, in der Vertreter von Interessengruppen und „einfache Bürger“ über die relevanten politischen Fragen in einen Dialog kommen könnten. Zentral wäre die Nutzung von Wir-Prozessen wie Otto Scharmers U-Prozess oder World Cafés, um mit „kollektiver Intelligenz“ zu neuen Lösungen zu kommen. Es wäre ein qualitativ neuer Aspekt politischer Entscheidungsfindung, der nicht aus Kollision und Kompromiss von Einzelmeinungen entsteht, sondern aus einem gemeinsamen Erkenntnisprozess als Emergenz, der Handlungsoptionen „sichtbar“ werden lässt. In Unternehmen und NGOs werden solche Prozesse schon angewendet, aber in der Politik sind sie wegen ihrer Unberechenbarkeit noch ungenutzt. 

Jascha Rohr sagt über diesen, seiner Meinung nach nächsten Evolutionsschritt einer „kollaborativen Demokratie“: „Indem man gestaltet, indem man sein äußeres Umfeld verändert, verändert man immer auch sich selbst, es ist ein wechselseitiger Prozess. Man muss das Thema in einem weiteren Umgriff verstehen, andere Sichtweisen in Betracht ziehen, sich innerlich bewegen. Dieser Prozess hat viel mit Bewusstwerdung zu tun.“ Solche Räume des Dialogs würden also auch die daran Beteiligten bilden und das Bewusstsein für das gesellschaftliche Ganze erweitern. So würde es wahrscheinlicher, dass Lösungen entstehen (emergieren), die diesem Ganzen dienen – ein Quantensprung im Vergleich zu den von Partei- und Lobbyinteressen bestimmten Diskussionen gegenwärtiger Politik.

Durch einen solchen Perspektivwechsel würde Demokratie zu einem offenen System, das sich unter Beteiligung aller ständig entwickelt. Vielleicht war das auch die Intuition der Piraten mit ihrer Forderung nach „Liquid Democracy“, durch die sich nicht nur die Inhalte der politischen Diskussion entwickeln, sondern auch die Strukturen der Mitgestaltung selbst. Hier könnte auch eine angemessene Integration unserer technologischen Errungenschaften in den politischen Prozess an der Zeit sein. 

So sieht es jedenfalls einer der wichtigsten Denker Lateinamerikas und Begründer der „Philosophie der Befreiung“ Enrique Dussel, für den die partizipative Demokratie die „Revolution des 21. Jahrhunderts“ ist: „Für mich sind die elektronischen Medien für die Politik, was die Dampfmaschine für die Industrie war. Die industrielle Revolution veränderte den Produktionsprozess. Die elektronischen Medien verändern den politischen Entscheidungsprozess. Es wird ein Moment kommen, da macht der Präsident einen Vorschlag und … wupp … nach zehn Sekunden wird man sagen können: Okay, 70 Prozent sind dagegen, wir müssen das diskutieren.“

Ein Berg Geld auf dem Marktplatz

In Sachen Bürgerbeteiligung sind uns unsere Schweizer Nachbarn einige Schritte voraus, denn dort können Themen zur Abstimmung gebracht werden, für die es 100.000 Unterstützer gibt. So wurde schon über eine Deckelung der Managergehälter abgestimmt und jetzt auch über eine Idee, die gerade mächtig an Fahrt gewinnt: Das bedingungslose Grundeinkommen. Mit einer spektakulären Aktion, einer Mischung aus Performance und politischer Meinungsäußerung, wurde die Gesetzesinitiative eingereicht: Auf dem Bundesplatz in Bern wurden 8 Millionen 5-Rappen-Münzen abgekippt, 15 Tonnen schwer und mit einem Gesamtwert von 400.000 Franken – für jeden Einwohner der Schweiz ein Geldstück. Die Initiatoren Daniel Häni und Enno Schmidt nannten ihre Aktion „Kopf oder Zahl?“, denn genau um diese Frage ginge es beim Grundeinkommen: Sieht man nur die Zahlen oder auch den Menschen?

Auf subtile Weise hebt die Idee des Grundeinkommens die bisherige Trennung von Wirtschaft und Politik, von der Notwendigkeit des Geldverdienens und der Freiheit zur Partizipation auf. Die Frage, was Menschen tun würden, wenn für ihr Einkommen gesorgt wäre, könne, so Daniel Häni, „ganz existenzielle und befreiende Bewusstseinsprozesse auslösen“. Denn wenn wir nicht mehr einen großen Teil unserer Lebenszeit zwangsläufig dafür verwenden müssten, unseren Lebensunterhalt sicherzustellen (und damit einem System zu dienen, an dem wir längst zweifeln), hätten wir Raum, um über die ganz grundsätzlichen Fragen nachzudenken – und uns entsprechend zu engagieren. In gewisser Weise krankt das politische System ja genau an der bestehenden Trennung zwischen institutionalisiertem Berufspolitikertum, das die Verbindung zum Leben als Ganzem längst verloren hat, und der Alltagsrealität der Bürger, die sich in einem wirtschaftlichen System, das nur noch sich selbst zu dienen scheint, verschleißen. Was könnte möglich werden, wenn wir wieder Zeit hätten, uns zu fragen, was wir wirklich wollen? Aus Sicht von Jürgen Greiner vom Center for Human Emergence, der das Grundeinkommen unter den Vorzeichen kultureller Evolution betrachtet, würde diese Frage zu einem positiven „evolutionären Stress“ führen, zu einer geistigen Dynamisierung der Gesellschaft.

Gemeinwohl Welt

Die Erkenntnis, dass politische Gestaltung auch ein gezieltes Hinterfragen der Rahmenbedingungen des Wirtschaftssystems erfordert, findet auch in der Idee der Gemeinwohlökonomie ihren Ausdruck. Christian Felber, Autor und Attac-Aktivist, gehört zu den Vorreitern dieses Ansatzes, der „den Werte-Widerspruch zwischen der Wirtschaft und der Gesellschaft auflöst, indem in der Wirtschaft dieselben Verhaltensweisen und Werte belohnt und gefordert werden sollen, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen.“ Felber weist auf die Verfassung hin, in der das „Wohl der Allgemeinheit“ als Wert formuliert wird: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die Realität wirtschaftlichen Handelns sehe jedoch oft ganz anders aus. Deshalb sollen in der Gemeinwohlökonomie Beiträge für das Gemeinwohl beispielsweise durch niedrige Steuern belohnt werden, sodass schlussendlich ökologisch und ethisch wertigere Produkte am Markt billiger angeboten werden könnten als solche, die das Gemeinwohl gefährden oder gar zerstören. Über 850 Unternehmen haben sich bisher selbst verpflichtet, eine Gemeinwohlbilanz zu erstellen.

Die Frage nach dem Gemeinwohl ist im Hinblick auf politischen Wandel deshalb so zentral, weil die Gründe für unsere heutige Misere vielfach in entfesselten Eigeninteressen liegen. Was wir unter Gemeinwohl verstehen, entwickelt sich und hängt auch davon ab, mit wem und was wir uns als „gemein“ empfinden. Wenn die eigene Familie, Firma, Nation oder Religion unsere Gemeinschaft ist, werden wir anders handeln, als wenn wir uns der Welt als lebendigem System und der Menschheit als kulturellem Wachstumsprozess zugehörig und damit auch dafür verantwortlich fühlen.

Es gibt zwei Aspekte, die in den Ideen politischer und gesellschaftlicher Erneuerung immer wieder anklingen: Wir als Menschen sind die freien, schöpferischen Gestalter unseres eigenen Werdens. Und wir sind ungetrennter Teil eines umfassenderen Prozesses der Weltentwicklung, der unsere bewusste und fürsorgliche Mitwirkung braucht. Diese Erkenntnis selbst ist vielleicht der Entwicklungsschritt, der sich heute andeutet. Eine Signatur der Zukunft, der wir gemeinsam eine politische Gestalt geben können.

Informationen zu den beschriebenen politischen Denkansätzen:

www.futurzwei.org

www.mehr-demokratie.de

www.omnibus.org

de/www.simpol.org

www.bundeswerkstatt.de

www.grundeinkommen.ch

www.grundeinkommen.de

www.gemeinwohl-oekonomie.org 

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Erschienen in Ausgabe 01/ 2014: Das neue Interesse an Politik

Zwei Mal Beuys

Dieser Doppelartikel wirft einen Blick auf die aktuelle Debatte um Joseph Beuys und die Relevanz seines Werkes und Denkens heute.

Vorwurf: Spiritualität

Über die Debatte um die neue Beuys-Biografie

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Joseph Beuys denken? Die fast schon ikonenhaften Bilder eines hageren Mannes mit Hut oder die Verstörung beim Betrachten eines seiner Werke oder vielleicht auch aus dem Kunstunterricht die Einordnung als einer der herausragendsten Künstler des 20. Jahrhunderts oder die abfällige Bezeichnung als Spinner und Scharlatan?

In den letzten Wochen erschien sein Name in den Medien vor allem im Zusammenhang mit einem neuen Buch, das sich nichts weniger vorgenommen hat, als Beuys gründlich zu demontieren. In Beuys: Die Biographie macht sich der Autor Hans Peter Riegel daran, Fakten über Beuys‘ Leben zusammenzutragen, die dessen kreative „Umgestaltung“ seiner Lebensgeschichte „entlarvt“. Dabei stößt er sicher auf ungeklärte Fragen in Bezug zu Beuys’ Zeit als Flieger bei der Wehrmacht oder Bekanntschaften nach dem Krieg mit Menschen, die sich laut Riegels Recherche nie ganz von der Nazi-Ideologie abgewendet haben. Aber aus Tatsachen, Riegels eigenen Interpretationen und Hinweisen von Beuys (nach dem Krieg) auf die geistige Erneuerungskraft des deutschen Volkes konstruiert Riegel eine „reaktionär-völkische“ Gesinnung bei Beuys. Dabei wird die Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Argumentation der Komplexität und umfassenden Wirkung von Werk und Person nicht gerecht. Worauf Riegel auch abzielt, ist Beuys’ Denken, genauer seine Spiritualität. Um Beuys ein für alle Mal zu kompromittieren, beschreibt er ihn im Prinzip als einen Jünger des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner, der einfach dessen Ideen weitergab.

Bei diesem Rundumschlag wird auch die Anthroposophie selbst eben mal zu einer Art völkisch-okkultistischer Sekte. Dabei kombiniert Riegel, der viele Jahre in der Werbung arbeitete, die Tatsachen so, dass sie seinem Kernanliegen entsprechen: Er will Beuys und die Anthroposophie als antidemokratische, rückschrittliche Kräfte „demaskieren“. Seine Aufklärung gerät dabei aber eher zu einer Art Inquisition. Es ist ja nichts dagegen zu sagen, jemanden wie Beuys kritisch zu hinterfragen und die In-Szene-Setzung und Widersprüche seiner Person oder das unzugänglich „Schamanenhafte“ seiner Kunst geben dafür auch viele Ansatzpunkte. Und natürlich muss sich die Anthroposophie zu etwaigen rassistischen Äußerungen Steiners erklären. Was irritiert, ist diese Schwarz-Weiß-Verurteilung, mit der Riegel ein für alle Mal klarstellen will, dass spirituelles Gedankengut wie bei Steiner und Beuys per se irrational, antiaufklärerisch, totalitär und deshalb gefährlich sei. Diese Vehemenz gibt zu denken und reiht sich ein in die wiederholten Aburteilungen, die in der Mainstream-Presse oft für „Spiritualität“ und „Esoterik“ bereitstehen. 

Geist im Mainstream

Was Beuys und Steiner verbindet, ist, dass sie auf je eigene Weise spirituelle Ideen in die Mitte der Gesellschaft gebracht haben. Bei Steiner und der Anthroposophie sind es vor allem die populären Anwendungen, wie Waldorfschulen, Demeter-Landbau oder Firmennamen wie Weleda, Alnatura, die GLS-Bank oder dm, die im Mainstream anerkannt sind. Die Rezeption der Kunst hat auch Beuys in den Mainstream der Kultur aufgenommen und ihm das Prädikat „Deutschlands wichtigster Nachkriegskünstler“ gegeben. Aber obwohl Beuys’ spirituelle Seite nie ein Geheimnis war, scheint Riegel so davon erschrocken zu sein, dass er sie zum Anlass nimmt, den Wert seines Werkes gleich komplett zu hinterfragen (und vor dessen Ausstellung zu warnen).

Dabei scheint ein „Vergehen“ von Beuys darin zu bestehen, dass er sich nicht auf die Kunst beschränken wollte. Denn man hat den Eindruck, dass einer der wenigen Bereiche, in dem der gesellschaftliche Status quo heute unkonventionelle Ausdrucksformen von Spiritualität akzeptiert, die Kunst ist. Ein Beispiel ist die Rezeption von Rudolf Steiner in den letzten Jahren. In regelmäßiger Wiederholung werden in großen Zeitungen seine Ideen als „krude“ bezeichnet (offensichtlich ein Lieblingswort der Feuilletonautoren) oder bestenfalls als „unwissenschaftlich“, wie kürzlich im FAZ-Artikel „Im Lotussitz zum Abschluss“. Gleichzeitig zog die Ausstellung „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“ erfolgreich durch wichtige Museen in Wolfsburg, Stuttgart und das Vitra Design Museum und ist momentan ein Überraschungserfolg in Italien. Und auch auf der aktuellen Biennale in Venedig begegnet man einigen „Wandtafelzeichnungen“ Steiners. Einer der wenigen Mainstream-Intellektuellen, die Steiner einer differenzierteren Betrachtung wert erachten, ist Peter Sloterdijk, der als ehemaliger Bhagwan-Schüler wohl weniger spirituelle Berührungsängste hat als viele seiner Kollegen. Er sagte zur Eröffnung einer der Steiner-Ausstellungen: „Steiner hat die menschliche Subjektivität gewissermaßen nach oben anschlussfähig gemacht. Er hat den Stecker entdeckt, mit dem man höhere Energien anzapfen kann, die normalerweise aus den Konversationen der bürgerlichen Gesellschaft verbannt waren.“ (Ein neuer Hoffnungsschimmer für einen informierten Diskurs über Steiner ist auch die erste wissenschaftliche Gesamtausgabe seiner Hauptwerke, die „Schriften Kritische Ausgabe“, aus dem renommierten philosophischen Fachverlag frommann-holzboog.)

Geist in der Kunst

Ein anderes aktuelles Beispiel ist die groß angelegte Ausstellung von Werken der neu entdeckten schwedischen Künstlerin Hilma af Klint, die sich von Steiner inspirieren ließ und eine, man könnte sagen, esoterische Kunst in Reinkultur entworfen hat. Gefeiert als erste Ausflüge in die abstrakte Kunst, sind ihre Bilder Versuche, geistige Wahrheiten in anschauliche Formen zu bringen. In dieser Ausstellung werden den Bildern von af Klint auch große Werke von Beuys gegenübergestellt und beide werden ausdrücklich in den Kontext ihrer Beziehung zu Steiner und zu spirituellen Ideen gesetzt.

Wie wäre es, wenn wir uns mit diesen Ideen selbst auseinandersetzen würden und die Beschäftigung damit aus dem sicheren Rahmen der Kunst „befreien“ könnten? Beuys selbst hat auf dieses Phänomen hingewiesen: Den Künstlern wird von der Gesellschaft ein Freiraum gewährt, um zu „spinnen“. Weil, so Beuys, ein „Freiraum zur Verfügung gestellt wird als eine Spielwiese, auf der sich sogenannte kreative Individuen eher austoben dürfen und Narrenfreiheit genießen“. Aber es wird nicht so gern gesehen, dass einer dieser „Narren“ es wagt, für seine Ideen eine größere Relevanz zu beanspruchen als im sicheren Hafen des Kunstbetriebs. Beuys selbst hat ganz massiv versucht, diesen engen Bereich der Kunst zu verlassen, oder vielmehr die Kunst selbst ganz neu zu verstehen. Und darin liegt auch heute der Wert seines Werkes. Um diesen Wert zu erschließen, bräuchte es einen wirklich aufgeklärten Dialog über Beuys, jenseits von unkritischer Verehrung und eindimensionaler Dekonstruktion.

 

Befreit Beuys!

Über die Relevanz seines Werkes

In Reaktion auf die Debatte um die Biografie von Hans-Peter Riegel setzte das Kunstmagazin monopol Beuys auf die Titelseite und forderte: „Befreit Beuys! Deutschlands wichtigster Nachkriegskünstler droht vergessen zu werden. Holt sein Werk aus der Mottenkiste!“ Hier ist man der Hoffnung, dass wir heute Beuys‘ Werke vielleicht neu sehen können, weil das ganze „Drumherum“, das der Künstler inszenierte, wegfällt und die Werke nun für sich sprechen. Das ist sicher unterstützenswert, denn Beuys‘ Werke werden weltweit nur noch selten ausgestellt. Aber es verkennt doch auch die Einheit von Leben und Kunst bei Beuys selbst und in seinem oft missverstanden Ausspruch: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“

Dieser Satz hat seine Quelle in der evolutionären Sicht, in der Beuys Welt und Mensch verstand. Denken und Werk von Beuys kreisten immer um das Schöpferische, das Lebendige, Bewegliche, Flüssige, Plastische. Dies hatte ihn schon in seinen naturwissenschaftliche Studien fasziniert, in denen er die Transformationen bei Materialien und biologischen Prozessen untersuchte. Beuys wandte sich vehement gegen die materialistische Wissenschaft, der er bescheinigte, sich nur mit Totem, der Materie, zu befassen, und so eine Weltsicht zu schaffen, die auch den Menschen seiner tieferen Lebendigkeit beraubt. Denn im Zentrum des Schöpferischen stand für ihn der Mensch: „Gedankenformen – Wie wir unsere Gedanken bilden. Sprachformen – Wie wir unsere Gedanken in Worte umgestalten. Soziale Plastik – Wie wir die Welt, in der wir leben, formen und gestalten: Plastik ist ein evolutionärer Prozess, jeder Mensch ist ein Künstler.“

Im Zentrum: der schöpferische Mensch

Beuys‘ Anliegen war es, die schöpferische Freiheit des Einzelnen zu befreien. Im Prinzip setzte Beuys diese schöpferische Freiheit, die ja im Kern jeder Kunst steht, als Kern des Menschseins selbst, der sich in allen Lebensbereichen ausdrücken kann und möchte. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ bedeutet ja nicht, dass jeder ein Maler oder Bildhauer sein kann oder sollte, sondern dass im Kern unseres Erkennens, Lebens und Handelns das Schöpferische lebendig ist und sein kann. Für Beuys ist diese schöpferische Kraft eine spirituelle Dynamik im Innersten unseres Wesens und des Kosmos: „Die Christuskraft, das Evolutionsprinzip kann nur aus dem Menschen quellen, es kann aus dem Menschen hervorbrechen, denn die alte Evolution ist bis heute abgeschlossen. Das ist der Grund der Krise. Alles, was an Neuem sich auf der Erde vollzieht, muss sich durch den Menschen vollziehen … Es ist also das Auferstehungsprinzip: die alte Gestalt, die stirbt und erstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfördernde, seelenfördernde, geistfördernde Gestalt umzugestalten. Das ist der erweiterte Kunstbegriff.“ Das hat natürlich mit dem, wie wir Kunst heute verstehen, nicht mehr (oder noch nicht) viel zu tun. Beuys wirft einen Gesamtblick auf den Menschen im Kontext seiner Bewusstseinsentwicklung. Und vielleicht mangelt es unserer gegenwärtigen Kultur an nichts weniger als diesem großen Blick.

Im Zentrum dieses Blickes stand für Beuys der Mensch als transformationsfähiges Wesen. Den Begriff Evolution wendet er dabei als die uns eingeborene Fähigkeit an, mit unserem Leben auf das Leben der Welt kreativ zu antworten und so die Welt zu gestalten. Diese kreative Fähigkeit des Menschen sah er als das „Kapital“, das wir als Menschen zur Verfügung haben. Dieses Kapital muss für Beuys im Zentrum auch aller wirtschaftlichen Prozesse stehen. Seine Formel „Kapital = Kunst“ deutet auf diesen kreativen Kern aller menschlichen Betätigungen hin. In Zeiten der Wirtschaftskrise, steigenden Burn-out-Zahlen und Arbeitslosigkeit finden sich hier viele Impulse, um neu darüber nachzudenken, was eigentlich die Grundlagen von Wirtschaft und Arbeit sein könnten.

Als Kultur sah uns Beuys auf dem Weg in einen „vierten Zustand“. Ähnlich wie der Bewusstseinsforscher Jean Gebser sah er die Entwicklung des Menschen in vier Stadien: Erstens eine ursprüngliche Einheit des Anfangs, zweitens einer Differenzierung in die Dualität, drittens die Weltbeherrschung mittels Rationalität und viertens der Schritt in eine neu gefundene, integrative Einheit, die, wie Beuys hervorhob, kein Rückschritt sein darf und kann. Die selbstbestimmte Freiheit des einzelnen Menschen ist und bleibt das Zentrum aller Erneuerung. Dieser vierte Zustand wurde mit der „aperspektivischen“ Stufe verglichen, die Gebser beschrieben hat. Hier wird ein Bewusstsein angesprochen, das viele Perspektiven gleichzeitig wahrnehmen und in einer Einheit integrieren kann und dadurch einen größeren Horizont von Wirklichkeit sieht. Diesen Einheitsblick (der die Differenzierung nicht auflöst) hat Beuys versucht konsequent umzusetzen und Kunst, Wissenschaft, Spiritualität, Ökonomie und Rechtsformen in einen Lebenskontext gesetzt, in dessen Mittelpunkt die freie, evolutionäre Entfaltung des Menschen steht.

Menschsein als Gespräch

Beuys hat sich mit ganzer Kraft und bis zur physischen Erschöpfung in die Umsetzung dieser Ideen gewagt (gemäß seinem Motto: „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“). Seine soziale Plastik war die Übertragung des Schöpferischen in den gesellschaftlichen Raum und er hat sie in vielen Aktionen erprobt. Beispielhaft ist seine Aktion „7000 Eichen“, bei der in Kassel 7000 Bäume gepflanzt wurden, die je von einer Basalt-Stele begleitet werden. Diese „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ griff die ökologische Fragestellung in kreativer Weise auf. Mit seinen Aktionen stellte sich Beuys auch persönlich mitten in die Gesellschaft. Sicher zeigen sich hier selbstdarstellerische Züge, aber bei all seinen Aktionen, inklusive seines Engagements in der Anfangszeit der Grünen, ging es ihm auch immer um die Einlösung seines kreativen Menschenbildes.

Dieses Menschenbild war verbunden mit einem Vertrauen in die Kraft des Gesprächs. Beuys war ein unermüdlich Sprechender, Diskutierender, auch mit großem Missionsdrang.

Bekannt sind seine Gespräche mit den Studierenden in seiner Zeit als Professor an der Kunstakademie, in denen er erstarrte universitäre Strukturen aufbrechen wollte. Das Bildende, Schöpferische des Gesprächs hatte für ihn einen „Wärmecharakter“, den er auch mit Liebe gleichsetzte. Einige seiner Werke thematisieren dieses kommunikative Element des sozialen Organismus, etwa die Installation „Richtkräfte“, die aus übereinander geschichteten Wandtafeln besteht, die Beuys während Gesprächen mit Besuchern einer seiner Ausstellungen beschrieben hatte. Und vor allem seine berühmte „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, durch die während der „Documenta 6“ Honig in Röhren durch einen Gesprächsraum gepumpt wurde, in dem Beuys 100 Tage lang seine Vision der ständigen Konferenz erprobte, bei der sich Menschen unterschiedlichster Hintergründe über die wichtigen Fragen der Zeit austauschten. Der Honig symbolisierte den Wärmefluss des Gesprächs, Honig war für Beuys aber auch mit dem gemeinschaftlichen Wesen eines Bienenstocks verbunden, das er auf höherer Ebene sozusagen wiederbeleben wollte. 

Beuys sah Kommunikation im Zentrum des sozialen Prozesses: Durch Gespräch formt sich der soziale Organismus, den jeder von uns plastisch gestalten kann. Es ist eine Begegnung freier Menschen, um an der Gestaltung der Welt mitzuwirken. Und ein Aufruf zu einer verantwortlichen Haltung gegenüber dem Ganzen, die jeden Zynismus oder das, was heute als Politikverdrossenheit bezeichnet wird, aus den Angeln hebt. In diesem Sinne ist Beuys vielleicht heute aktueller denn je und der Aufruf „Befreit Beuys!“ sollte nicht nur für seine Kunst, sondern auch für sein Denken gelten (was eine kritische Annäherung nicht ausschließt).

Dass Beuys immer noch Antworten geben könnte, scheint auch der Kunstbetrieb zu ahnen. Bei der letzten „Documenta“ war Beuys‘ Vermächtnis sehr spürbar, wie Kommentatoren bemerkten und wie in einer Aussage der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev auch anklingt: „Wenn es um etwas geht, dann ist es Heilung. Die Kunst kann etwas verändern, sie kann uns verändern.“ Und auch bei der aktuellen Biennale in Venedig ist er präsent, wie der Kurator Massimiliano Gioni sagt: „Ich wollte Beuys lieber evozieren, als ihn auszustellen.“

Es könnte der Kunst und uns allen guttun, mehr Beuys zu wagen. Mehr Kreativität und Mitgestaltung. Mehr Risiko und Unbequemlichkeit. Mehr Spiritualität und Transformation.

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Der Wert der Erfahrung

 Auf dem Weg zu einer Bewusstseinskultur

Philosophie und Meditation erfreuen sich heute neuer Popularität. Könnte eine kreative Verbindung beider Erkenntnis-Wege eine neue Bewusstseinsforschung begründen?

 Vor zehn Jahren waren führende deutsche Neurowissenschaftler in einem „Manifest der Neurowissenschaft“ überzeugt, dass eine Erklärung des Bewusstseins durch das Verstehen der zugrundeliegenden neurologischen Prozesse nur noch eine Frage der Zeit sei. Heute räumen viele Hirnforscher jedoch ein, dass eine solche Erklärung des Bewusstseins in immer weitere Ferne rückt. Gleichzeitig lässt sich in unserer hochtechnologischen Kultur eine zunehmende Sehnsucht nach tieferen Erfahrungen des eigenen Bewusstseins feststellen, die sich im wachsenden Interesse an Achtsamkeit und Meditation zeigt. Auch die Philosophie findet wieder mehr populären Anklang; Bücher, Magazine und Konferenzen zu philosophischen Themen sind im Aufwind. Und anerkannte Philosophen wie Thomas Nagel oder Ronald Dworkin treten mit Beiträgen an die Öffentlichkeit, in denen sie die Bedeutung unserer eigenen Erfahrung von Bewusstsein zum Thema machen. Vielleicht kündigt sich in der Konvergenz dieser aktuellen Strömungen die Entstehung einer Bewusstseinskultur an, in der die innere Erfahrung, Erforschung und Entwicklung von Bewusstsein neuen Raum bekommt. Dazu müssen wir aber zunächst zulassen, dass innere Erfahrungen uns tatsächlich einen Bereich der Wirklichkeit erschließen, der nicht auf materiell-physikalische Prozesse reduzierbar ist.

Meditation und Äpfel

Achtsamkeitsmeditation und verwandte Übungen eröffnen vielen Menschen einen Weg, um sich ihrem Inneren in bewusster Weise zuzuwenden. Zu diesem Interesse hat auch die Wissenschaft beigetragen, weil gezeigt werden konnte, dass Meditation messbare Veränderungen im Gehirn bewirkt, zum Beispiel in den Hirnströmen, aber auch in der neuronalen Struktur des Gehirns durch Neuroplastizität. Dass Menschen, die Meditation üben, einen positiven Wandel ihrer Stimmung, Lebensqualität oder Kreativität feststellen, wird damit erklärt, dass entsprechende Hirnreale, die für diese Empfindungen zuständig sind, stärker aktiviert werden. Die inneren Zustände, die in der Meditation erfahren werden können, wie Stille, innerer Frieden, Gelassenheit oder Verbundenheit, werden letztendlich auf Veränderungen im Gehirn zurückgeführt. Doch das ist, wie so oft, wohl nur die halbe Wahrheit.

In spirituellen Traditionen war Meditation immer auch ein Weg, um uns mit einer geistigen Dimension der Wirklichkeit in Berührung zu bringen. Der integrale Philosoph Ken Wilber fasst die Fragestellung so: „Wenn wir einen Apfel wahrnehmen und sagen, ‚Ich sehe einen Apfel‘, und das Gehirn in einer bestimmten Weise aktiviert wird, folgern wir üblicherweise daraus nicht, ‚Der Apfel existiert als ein Hirnstrommuster; darüber hinaus hat es keine Realität.‘ Nein, wir folgern daraus, dass der Apfel ein reales Objekt in der realen Welt ist, und wenn das Gehirn ihn wahrnimmt, wird es in bestimmter Weise aktiviert.“

Wenn ein Mönch über Mitgefühl meditiert und dabei bestimmte Hirnareale aktiviert werden, ist ein geistig wahrgenommener Wert wie Mitgefühl, Liebe oder Empathie vielleicht genauso real und damit Teil unserer Wirklichkeit, wie ein Apfel und nicht etwa nur eine subjektive Konstruktion oder eine kulturell erlernte Haltung. Hier stellt sich also die Frage: Wenn wir in spirituellen Erfahrungen, in künstlerischer Inspiration, in der Betrachtung der Natur, im Berührtsein von der Würde eines Menschen den Eindruck haben, mit ewigen Werten und einem tieferen Geheimnis des Lebens verbunden zu sein, werden dann einfach nur bestimmte Hirnströme aktiviert oder kommen wir mit einer geistigen Wirklichkeit des Lebens selbst in Berührung?

Spiritueller Atheismus

Spirituelle Traditionen würden diese Frage natürlich zugunsten des Wirklichkeitsgehalts spiritueller Erfahrungen beantworten. Sie haben in vielen Fällen ein eigenes System entwickelt, wie diese tieferen Dimensionen der Wirklichkeit erfahren werden können – und Kriterien, wie authentische Erfahrungen von Einbildungen unterschieden werden können. In diesem Sinne beschreibt der Wissenschaftstheoretiker Harald Walach Übungen wie Meditation als eine Form der Erkenntnis: „Das, was wir als Meditation bezeichnen, ist eigentlich das Programm der Kultivierung einer Innerlichkeit im Dienste von Erkenntnis, und zwar einer Erkenntnis der Welt von Innen her. Und diese Erkenntnis der Welt von Innen führt uns zur inneren Struktur der Welt, nämlich, unter anderem, der Werte. So ähnlich wie atomare Kräfte oder Strukturen das materielle Gefüge der Welt garantieren, das wir von außen erkennen, so ähnlich sind Werte die inneren Strukturen der Welt, behaupte ich, die wir von innen erkennen.“

Diese Frage nach der Natur unserer inneren Erfahrung hat in jüngster Zeit zu einigen interessanten Beiträgen namhafter Philosophen geführt. Thomas Nagel, einer der bekanntesten analytischen Philosophen der Gegenwart, hinterfragt in seinem kontroversen Buch „Geist und Kosmos“ die materialistisch-neodarwinistische Annahme, dass Bewusstsein, menschliche Erkenntnisfähigkeit und Werte sozusagen Nebenprodukte eines materiellen Universums sind. Für ihn muss die Wirklichkeit von Grund auf mehr umfassen als materielle Prozesse, biologische Funktionen und zufällige Mutationen, damit in diesem Kosmos bewusste Wesen wie wir entstehen – die diesen Prozess betrachten können. Eine angemessenere Sichtweise der Wirklichkeit müsse „Geist und Vernunft als grundlegende Aspekte einer nichtmaterialistischen Naturordnung erkennbar machen“. Der materiellen Außenseite des evolutionären Prozesses wohne also ein Potenzial inne, das Leben und Bewusstsein möglich macht.

Der kürzlich verstorbene Philosoph Ronald Dworkin argumentiert in seinem posthum veröffentlichten Buch „Religion ohne Gott“ in eine ähnliche Richtung. Er geht davon aus, dass wir diese geheimnisvolle Wirkkraft im Universum erleben können: in Erfahrungen der Erhabenheit, des Schönen im Universum und der Würde des Menschen, die auf eine Dimension der Wirklichkeit hinweisen, die sich nicht nur dem wissenschaftlichen Verstehen entzieht, sondern unserem Leben auch Sinn verleiht. Diese Dimension „ist nicht Teil der Natur, sondern etwas jenseits von ihr, das wir selbst dann nicht werden erfahren können, wenn wir noch die Gesetze der Physik endlich verstanden haben. Einstein glaubte fest daran, dass das Universum von einem objektiven Wert durchdrungen ist, der weder ein Naturphänomen noch eine subjektive Reaktion auf ein Naturphänomen ist.“ Diese Erfahrungen unterscheidet Dworkin von den metaphysischen Interpretationen religiöser Traditionen, die solche Urerfahrungen des Erhabenen mit einem bestimmten Gottesbild verbinden. Der „Spiegel“ griff pünktlich zu Pfingsten Dworkins Ideen auf und titelte „Ist da jemand? Die Zukunft der Religion: Glaube ohne Gott“.

Bewusstseinskultur

Für Dworkin  hat die Verständigung über solche Erfahrungen des Erhabenen auch eine kulturelle Bedeutung. Seine Hoffnung war, dass es die Konflikte zwischen Gläubigen und Atheisten und auch zwischen den Religionen entschärfen könnte, wenn wir anerkennen, dass wir alle in je eigener Weise EINE „Macht des Wunderbaren“ erfahren.

Dworkins Argumentation bekommt zusätzliche Relevanz durch einen kulturellen Schatz, den wir gerade erst zu heben beginnen. Spirituelle Traditionen und die darin vermittelten Übungen bieten systematische Wege zur Erfahrung dieser geheimnisvollen Dimension des Erhabenen. Mehr noch, heute sind wir durch die globale Kommunikation in der außerordentlichen Lage, dass sich diese Traditionen untereinander und mit anderen Disziplinen über das Wesen und die Struktur, die Werte und ethischen Implikationen der inneren Dimension des Bewusstseins auf einer ganz neuen Ebene austauschen können. Die Stärke der Philosophie war es immer, uns die Interpretation innerer Erfahrungen zu ermöglichen. Philosophisches Fragen trägt auch dazu bei, innerhalb der spirituellen Traditionen entstandene, vielleicht unzeitgemäße Kontextualisierungen dieser tieferen Erfahrungen unter Einbezug des heutigen Erkenntnisstandes neu zu deuten.

Was damit als Möglichkeit aufscheint, ist eine erweiterte Form der Bewusstseinsforschung im Dialog von Philosophie, Spiritualität, Kunst, Religion, Psychologie, Ethik und anderen Disziplinen, die in Ergänzung zur Außenperspektive der Neurowissenschaft die inneren Räume unserer Erfahrung erhellt. Es sind vor allem auch die Entwicklungen der Technik, die die Notwendigkeit einer solchen integralen Bewusstseinskultur nahelegen. Der Stress, der durch ständige Vernetzung mittels Computern und Smartphones allgegenwärtig ist, dürfte mit ein Grund dafür sein, warum immer mehr Menschen einen Ausgleich in Meditation und Achtsamkeit suchen. Ja, vielleicht noch mehr als einen Ausgleich: Angesichts einer technisierten Welt wollen wir uns unseres Inneren vergewissern und die Qualitäten und Werte entwickeln, die wir darin gewahr werden, wie Freiheit, Mitgefühl oder Verbundenheit mit allem Leben. Spirituelle Wege bieten Übungen, um diese innere Welt zu erkunden. Heute brauchen wir den Erfahrungsraum, den sie uns eröffnen, vielleicht dringender denn je. Denn wir brauchen neben den atemberaubenden Möglichkeiten der Technik, die heute vorangetrieben werden, auch eine Besinnung auf die nicht weniger atemberaubenden Möglichkeiten unseres Bewusstseins.

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Redeverbot

Zur Kontroverse um TED und Rupert Sheldrake

In den letzten Wochen erregte eine Kontroverse die Gemüter, die es zwar nicht bis in die Abendnachrichten schaffte, aber in Blogforen, auf Youtube und Facebook ausgefochten wurde. Das Ende ist noch offen, aber die Heftigkeit und Leidenschaft, mit der hier gestritten wurde, zeigt, dass es dabei um viel geht – vielleicht sogar um unsere Zukunft.

Alles fing ziemlich harmlos an. TED ist eine Non-Profit-Organisation, die weltweit Vortragsveranstaltungen und Konferenzen organisiert und die Videos der Vorträge im Netz publiziert. Mittlerweile ist ein TED-Talk zu einer Art Eintrittskarte der Glaubwürdigkeit geworden: Wer bei TED dabei war, hat etwas (Richtiges) zu sagen. Damit hat TED (mit dem Motto „Ideas worth Spreading“) aber auch eine gewisse Macht im Hoheitsgebiet des Geistes erlangt. Und diese Macht sollten in diesem Frühjahr zwei eher unkonventionelle Sprecher zu spüren bekommen.

Seit einigen Jahren gibt es neben den direkt von TED organisierten Events auch lokale TED-Konferenzen, die in einer Art Franchise organisiert werden: TEDx, genannt, wie TEDx Berlin, TEDx Paris oder TEDx Whitechapel. Bei letzterem Event in einem Ortsteil von London traten zwei Vortragsredner auf, denen von manchen Wissenschaftlern die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird: Der Bestsellerautor Graham Hancock, der sich mit der Frühgeschichte der Menschheit befasst, und der Biologe Rupert Sheldrake, der unter anderem für seine Theorie der morphogenetischen Felder bekannt ist. Hancock sprach in seinem TED-Talk über die vermeintliche Bedeutung halluzinogener Drogen in der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Sheldrake ging in seinem Vortrag auf einige der Thesen seines Buches Der Wissenschaftswahn ein, in dem er Annahmen eines wissenschaftlichen Materialismus hinterfragt. So weit, so unspektakulär.

Was aber auf die Veröffentlichung der TED-Videos von Sheldrake und Hancock folgte, zeigte, dass wir mitten in einer kulturellen Auseinandersetzung stehen, bei der nichts weniger als die Wahrheit auf dem Spiel steht. Um eine lange Geschichte kurz zu fassen: TED nahm mit Berufung auf ein Scientific Board (deren Mitglieder bis heute nicht bekannt sind) die beiden Videos von der TED-Webseite, weil sie „bad science“ enthielten, also pseudowissenschaftliche Aussagen, die dem wissenschaftlichen Standard nicht entsprechen. Aber welchem Standard? Hier sind wir beim Kern der hitzigen Debatte, die darauf folgte, und in der TED der Zensur bezichtigt wurde. Eine Welle von Empörung überflutete TED, mit der dort wohl niemand gerechnet hatte. TED-Chef Chris Anderson reagierte darauf mit einem offenen Brief und einem neuen Versuch: Die Videos wurden wieder freigegeben, mit der Möglichkeit, sie zu diskutieren. Zu diesem Zeitpunkt gehörten die Videos von Hancock und Sheldrake schon zu den populärsten TED-Talks. Sheldrake und Hancock reagierten mit Blogs, in denen sie auf die Kritikpunkte des „Scientific Board“ eingingen, Sheldrake regte gar eine öffentliche Diskussion mit den Kritikern an (und wartet bis heute auf eine Antwort).

Alles Materie?

Aber worum ging es nun bei diesem Geistesgefecht? Vereinfachend kann man vielleicht sagen, dass hier einmal mehr die Verfechter und die Kritiker einer materialistischen Wissenschaft (und Weltsicht) aufeinandertreffen. In seinem Buch Der Wissenschaftswahn stellt Sheldrake zehn Dogmen der heutigen Wissenschaft infrage, die als unumstößlich gelten. „Infrage stellen“ ist hier wörtlich gemeint, Sheldrake gibt nicht vor, die richtigen Antworten zu haben, sondern vielmehr die wichtigen Fragen zu stellen, zum Beispiel: „Ist die Natur mechanisch?“ „Ist Materie ohne Bewusstsein?“ „Gibt es Geist nur im Gehirn?“

Die etablierte Wissenschaft hat auf diese Fragen ihre Antworten gefunden, die, so Sheldrakes Argument, aber nichts mehr mit Wissenschaft zu tun haben. Das wissenschaftliche Entdecken war immer ein kreatives, bahnbrechendes Unterfangen. Das war so, als Kopernikus und Galilei die kirchlichen Dogmen über die Wahrheit herausforderten, das ist heute aber kaum noch so. Es hat sich laut Sheldrake ein Wissenschaftsbetrieb gebildet, der vielerorts nicht mehr die Offenheit hat, wirklich etwas Neues entdecken zu können, bzw. ganze Bereiche, wo dieses Neue zu finden sein könnte, ausschließt. Die Wissenschaft hat sich mit einer Ideologie oder Weltanschauung verbunden: dem Materialismus.

Der Materialismus feierte seinen Aufstieg während der wissenschaftlichen Revolution der Moderne, die in der Aufklärung begann und zu den technologischen Erfolgen führte, von denen wir heute so sehr profitieren. Der Mensch richtete den Blick vom mythischen Götterhimmel auf diese unsere Erde, um mittels eigenen Verstehens deren Gesetze und Beschaffenheit zu erforschen. Und wie weit hat uns das als Menschheit gebracht. Aber das Interessante dabei ist, dass kaum einer die großen Protagonisten dieser Reise als Materialisten bezeichnen würde. Von Newton bis Einstein bewegte die großen Wissenschaftler der Erkenntnisdrang, und immer wieder spielten sich die Dramen des Kampfes des Neuen gegen das Alte ab, der oft mit äußerster Heftigkeit geführt wurde. Und oft gingen (und gehen) die herausragendsten Forscher mit einem Staunen und einer Ehrfurcht zu Werke, die man eigentlich rein materialistisch schwer erklären kann. Denn solche Empfindungen entstammen unserem Bewusstsein. Aber woher stammt (und wohin geht) unser Bewusstsein?

Gott durch die Hintertür

Eine Kernannahme des wissenschaftlichen Materialismus ist, dass das Bewusstsein ein Epiphänomen der Materie, also des Gehirns, sei. In einem leidenschaftlichen Kommentar zur „TED-Affäre“ in der Huffington Post schreibt der spirituelle Bestsellerautor Deepak Chopra zusammen mit einigen Wissenschaftlern, dass die Annahme, es gäbe ein „nonlokales Bewusstsein“, das nicht an einen materiellen Träger gebunden existiert, immer noch ein Tabu der Wissenschaft sei. Denn mit der Möglichkeit solch eines Bewusstseins wäre plötzlich ein alter Bekannter (oder eine alte Bekannte) wieder auf dem Spielfeld unserer Kultur, den eine materialistisch interpretierte Wissenschaft ein für alle Mal vertrieben meinte: „Jahrtausendelang war es ohne Frage, dass solch ein Geist [nonlokales Bewusstsein] existiert; es wurde Gott genannt. Aus Angst davor, dass Gott wieder einen Weg in die Kultur finden könnte … blasen militante Atheisten zum Angriff auf Nahtoderfahrungen, Telepathie, Telekinese und alle Vorstellungen über eine absichtsvolle, zielgerichtete Evolution.“

Der Ausdruck „militanter Atheismus“ kommt vom „Hohepriester“ der Atheisten und Dauergast bei TED, Richard Dawkins. In einem seiner TED-Talks sagt er: „Es hört sich vielleicht so an, als würde ich hier Atheismus predigen. Ich möchte klar sagen, dass ich das nicht tun werde. In einem Publikum, das so gebildet ist wie Sie, wäre das so, als würde ich zur Gemeinde beten. Nein, wozu ich hier auffordern möchte, ist ein militanter Atheismus.“ Viele der Kommentare und Angriffe, die TED dazu bewegten, Hancocks und Sheldrakes Videos von der Webseite zu nehmen, trugen die Handschrift „militanter Atheisten“. Für sie ist die Idee, dass Bewusstsein der Wirklichkeit inhärent sein könnte – eine Sphäre, die nicht auf die Materie reduziert werden kann –, ein rotes Tuch.

Aber die Wissenschaft selbst tut sich schwer zu sagen, was das Bewusstsein ist, es ist als „hard problem“ bekannt. Wie entsteht eigentlich unsere subjektive Erfahrung von Bewusstsein – was ja auch die militanten Atheisten benutzen, um ihre Argumente vorzubringen. Dieses Problem hat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Forschungen über das Bewusstsein angestoßen. Viele dieser Forschungen sind aber lediglich eine Weiterführung eines mechanistischen Paradigmas, wie das kürzlich begonnene Human Brain Project, in dem Forscher aus 80 Forschungszentren in der EU mit einem Etat von einer Milliarde Euro versuchen, die „Schaltkreise“ des Gehirns mittels Computertechnik zu simulieren. Aber die Wissenschaft beginnt, sich in bestimmten Bereichen auch neuen Möglichkeiten zu öffnen, ganz im Sinne der wissenschaftlichen Neugier. Nur einige Beispiele: Die Erforschung meditativer Techniken hat in den letzten Jahren exponentiell zugenommen und namhafte Wissenschaftler stellen sich die Frage, wie hier der subjektive Geist und das Gehirn zusammenwirken. Im Mind and Life Institute diskutieren renommierte Wissenschaftler mit dem Dalai Lama und anderen spirituellen Lehrern und Übenden über die Natur des Bewusstseins. Und mit der Anwendung sind meditative Trainings, die meist vereinfachte Formen guter alter buddhistischer Übungen sind, im Mainstream angekommen. Obwohl in einigen Bereichen dieser Forschung und Anwendung die transformative Weisheit meditativer Wege zu psychologischer Stressminderung reduziert wird und Wissenschaftler nun meditative Zustände einfach mit Veränderungen in der Hirnchemie erklären, ist diese Begegnung von kontemplativer Methodik und Wissenschaft sicher ein vielversprechendes Phänomen. Oder nehmen wir Nahtoderfahrungen. Seit der holländische Kardiologe Pim van Lommel seine Forschungsergebnisse in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte, sind Nahtoderfahrungen zum Thema wissenschaftlicher Forschung geworden. In dem Buch mit dem bezeichnenden Titel Endloses Bewusstsein beschreibt Lommel Nahtoderfahrungen von Patienten während und nach Operationen mit wissenschaftlicher Methodik. An diesen und vielen anderen Beispielen zeigt sich eine Öffnung des wissenschaftlichen Denkens. Der Forschungsdrang des Menschen, der immer die Grundmotivation der Wissenschaft war, scheint heute viele der Annahmen einer materialistischen Wissenschaft aufzubrechen und zu hinterfragen. Gegen diese Öffnung wehren sich leidenschaftliche Anhänger des wissenschaftlichen Status quo. Aber dieser Kampf ist nicht nur ein intellektueller.

Bedürfnis nach Sinn

Was viele Menschen, einschließlich unorthodoxe Wissenschaftler, dazu bewegt, die Türen zu neuen Möglichkeiten zu öffnen, ist auch, dass heute klar wird, dass ein materialistisches Denken in der Anwendung an seine Grenzen stößt. Die Mechanisierung der Welt hat den Menschen zum Fremden in einer Welt von Objekten gemacht, die nichts mit ihm zu tun haben. Und der so seiner innerlichen Orientierung und Verbundenheit beraubte Mensch sucht seinen Sinn meist auf der Ebene, die – wie ihm die Wissenschaft bestätigt – als das einzig Reale gilt: der materiellen Welt. Diese Haltung hat unter anderem zur globalen Umweltzerstörung und zur sich immer weiter hinziehenden aktuellen Finanzkrise geführt. Wie Joachim Galuska in seinem Artikel in dieser Ausgabe beschreibt, sind diese Krisen letztendlich Bewusstseinskrisen und rufen nach neuen Werten.

Viele Menschen spüren heute ein existenzielles Unbehagen und suchen nach neuen Perspektiven auf ihr Leben. Sicher entstehen dabei auch merkwürdige und vereinfachende Ideen, die eher einem Wunschdenken entstammen als ehrlicher Erforschung der Wirklichkeit. Über das Phänomen der Verbreitung des Aberglaubens der Esoterik wunderte sich kürzlich DIE ZEIT (21/2013) in ihrem Titelthema. Und natürlich gibt es die Gefahr, sich vor der Komplexität unserer Welt in vormoderne und irrationale Ideen zurückzuziehen. Oft wird dabei auch Wissenschaft und Spiritualität unreflektiert miteinander verquickt, wie im Trend der „Quantenspiritualität“, wo Erkenntnisse aus der Quantenphysik, die spirituell klingen, als geistiges statt als physikalisches Phänomen verstanden werden.

Insofern hat TED-Leiter Chris Anderson sicher Recht, wenn er schreibt, „Für jeden Galilei gibt es Tausende von Menschen, die einfach nur falschen unwissenschaftlichen Ideen anhängen.” Es ist der Prozess der Emergenz neuen Wissens, dass sich in unserer Erfahrung und im kulturellen Austausch zeigen wird, welche Ideen sich als richtig oder vielmehr als angemessen erweisen. Wofür Sheldrake und Hancock und viele ihrer Unterstützer im Prinzip eintreten, ist, dass dieser Prozess ein offener sein muss, um genuin kreativ zu sein. Wir brauchen eine öffentliche Debatte, nicht nur über Eurokrise und Klimawandel, sondern auch über unsere Bewusstseinskrise und einen Wertewandel. Das wären die Anfänge einer neuen Bewusstseinskultur.

Suche nach Erkenntnis

In einem neuen Essay mit dem Titel „Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit“ fordert der Philosoph Thomas Metzinger, der sich intensiv mit den Erkenntnissen der Hirnforschung beschäftigt, von der Spiritualität eine intellektuelle Integrität, die sich der rationalen Prüfung ihrer Erkenntnisse verpflichtet. Das ist die berechtigte Forderung der Wissenschaft an die Spiritualität: nicht vor die Aufklärung zurückzugehen. Im Gegenzug können wir aber von der Wissenschaft fordern, nicht dogmatisch im Materialismus zu verharren, sondern philosophische und geistige Offenheit zu praktizieren. Alles andere wird einer globalen Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht.

Wir stehen mitten in einem evolutionären Geschehen: Viele Menschen spüren die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Weltsicht. Gerade veröffentlichte Der Spiegel ein Sonderheft zur spirituellen Sehnsucht der Deutschen. Gleichzeitig wurde in einem Titelthema „Der heilende Geist“ (21/2013) über Bewusstseinsmethoden in der Medizin berichtet – nur ein Beispiel, wie Forscher sich in neues Gebiet wagen. Solche Entwicklungen rufen bei vielen etablierten Wissenschaftlern Ängste hervor, sie sehen uns schon beim Abrutschen in eine neue religiöse Diktatur. Aber die Lösung ist keine Diktatur der Wissenschaft, sondern ein kreativer, öffentlicher Diskurs. Getragen von etwas, das vielleicht Wissenschaft und Spiritualität doch letztendlich miteinander verbindet. Metzinger nennt es „das bedingungslose Bekenntnis zum Erkenntnisfortschritt“ oder das „Mehr-Wissen-Wollen“.

Das Anliegen seines Buches Der Wissenschaftswahn (und seines TED-Auftritts) sieht Sheldrake in der Befreiung der Wissenschaft von einer dogmatischen Haltung, die genau diesen Erkenntnisdrang einengt. Aber um einen neuen öffentlichen Diskurs anzustoßen, der über gegenseitige Angriffe hinausgeht, müssen alle Seiten ihre Grundlagen kennen und offenlegen. Sheldrake ist der Ansicht, dass die Wissenschaften (und damit auch die Wissenschaftler) heute oft nicht die Grundlagen ihrer eigenen Weltsicht kennen (geschweige denn hinterfragen), die im Grunde aus den mechanistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts stammen und selbst schon von wissenschaftlichen Revolutionen wie der Quantentheorie widerlegt wurden. Diese Grundlagen müssen öffentlich gemacht werden, um diskussionsfähig und hinterfragbar zu werden. Und genauso sollte die Spiritualität Farbe bekennen und die Annahmen, auf denen sie jeweils beruht, offenlegen und kommunizieren können. Hierbei müssen mythologische und vereinfachend naive Vorstellungen der Prüfung eines wachen Denkens unterzogen werden, damit spirituelle Impulse wirklich kulturell wirksam sein können.

Nur vor diesem Hintergrund kann ein Diskurs möglich sein, dessen Merkmal der Philosoph Jürgen Habermas beschreibt: „der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche.“ Eine Bewusstseinskultur wäre eine Kultur der kooperativen Wahrheitssuche und der Umformung dieser Wahrheiten in unsere Weiterentwicklung als Menschen in einem kreativen Prozess – ob sich in diesem Prozess und in unserem Menschsein nun ein geistiges Prinzip verwirklicht oder ob es einfach die wunderbare Struktur eines materiellen Kosmos ist, den wir nie ganz verstehen werden.

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