Verbunden im Leben
Vor einiger Zeit fuhr ich mit dem Zug quer durch Deutschland. In einem Regionalzug in Richtung Leipzig ging ein Schaffner durch den Zug, der in seinem sächsischen Dialekt für jeden einen freundlichen, witzigen Kommentar hatte, den die Angesprochenen mit einem Lächeln, einem Lachen und oft auch mit einer humorvollen Erwiderung beantworteten. Das dumpfe, kalte Abteil des Zuges wurde plötzlich etwas heller, wärmer. Die Menschen, die meist isoliert auf ihren Plätzen saßen, wurden durch die Ansprache des Schaffners in eine Berührung, eine Begegnung geführt. Für einen Augenblick vergaßen sie, was sie tun wollten, was sie in ihrem Handy lasen oder ansahen, wohin sie wollten und welche Sorgen damit womöglich verbunden waren. Für einen Moment war nur die Begegnung in Freundlichkeit wichtig.
Als ich später am Bahnhof Hof einen längeren Aufenthalt hatte, setzte ich mich in die alte, etwas heruntergekommene Bahnhofshalle, der man aber noch ansah, dass sie einmal recht prunkvoll gewesen war. An den Nebentisch setzte sich ein älterer Herr, der von dort die Halle überblickte. Nach einer Weile sprang er auf und lief zu zwei jungen Menschen, die sich mit dem Handy in der Hand umschauten. Sie suchten nach einer Steckdose, die in dieser Bahnhofshalle nicht leicht zu finden waren. Ich selbst hatte gerade eine ganze Welte die Wände nach ihnen abgesucht. Der Mann vom Nebentisch nahm den jungen Leuten diese Suche ab und zeigte ihnen, wo die begehrten Steckdosen zu finden waren. Das wiederholte er mehrmals in der Stunde, die ich dort wartete. Auch in diesem Fall veränderte sich die Atmosphäre der verblichenen Wartehalle, durch die Aufmerksamkeit dieses Mannes wurden kleine Funken der menschlichen Begegnung in den Raum gesetzt. Sie schienen auf, wenn die Umhersuchenden die freundliche Geste bemerkten und voller Genugtuung ihr Handy einsteckten.
Diese zwei Erlebnisse auf der Fahrt berührten mich, weil ich wieder einmal erfahren hatte, wie kleine Gesten doch so viel bewirken können. Und sie erzählten mir von der Kraft der Freundlichkeit, die aus einem inneren Wunsch kommt, dem anderen etwas Gutes zu tun. Wenn ich freundlich bin, dann ist mir der andere nicht egal, ich nehme ihn, sie, es an als ein lebendiges Wesen in der Welt, das mich meint. Mich etwas angeht. Mich anspricht. Angesprochen werden will. Ein Akt der Freundlichkeit schafft eine Verbindung. In den leeren Raum der Interesselosigkeit, Isolation, Fremdheit, zieht sich eine Spur der Nähe, der Beziehung, der Ansprache.
Die Energie der Verbindung
Eine freundliche Welt wäre eine Welt, in der diese Güte der Nähe, die zwischen uns lebendig werden kann, zum Lebensraum wird. Wenn ich auf andere achte, einem Menschen zulächle, jemanden an der Supermarktkasse vorlasse, für jemanden einen schweren Koffer die Treppen nach oben trage, einer trauernden Bekannten zuhöre, mit einem Fremden im Zug ins Gespräch komme. In diesem Moment des Austauschs einer Energie der Verbindung werde ich wieder hineingeholt in den Liebesstrom der Welt. Die Freundlichkeit ist das Tor zur liebevollen Begegnung, zu Wertschätzung, Freude, Respekt. Im Buddhismus gelten die Brahmaviharas, die unermesslichen Geisteszustände als die Ausrichtung und Frucht der inneren Praxis und verweisen auf die Tiefe, die in der Freundlichkeit liegen kann: liebevolle Güte, Mitgefühl, Mitfreude und heitere Gelassenheit.
Ich habe gemerkt, dass ich mich selbst lebendiger und verbundener fühle, wenn ich freundlich aufmerksam bin. Weil ich dem Wesen der Welt näher bin. Ich bin nicht nur bei mir, beschäftigt mit meinen eigenen Gedanken, Vorhaben, Sorgen, sondern weite mein Sein hin zum anderen. Und in dieser Öffnung weitet sich auch mein eigenes Sein, wird lebendiger, mit Fülle beschenkt.
Von Mensch zu Mensch
In unserer Zeit der durch Erregung gesteuerten digitalen Medien und einem gesellschaftlichen Diskurs, der vor allem dadurch gekennzeichnet ist, möglichst schnell zu wissen, wer die anderen, die Feinde, die mit der falschen Sichtweise sind, erstirbt die Freundlichkeit. Die Kommentarspalten und Talkshows sind voll von unfreundlichen Worten, die den Geist der Trennung atmen und bestätigen. Freundlichkeit bedeutet, trotz aller Unterschiede dem anderen das gemeinsame Menschsein zuzugestehen. Nicht theoretisch, sondern in dem, wie ich auf ihn oder sie beziehe, sie anspreche. Wenn unsere Sprache die Freundlichkeit verliert, dann wird sie kalt und trennend. Vereinzelt uns.
Freundlichkeit ist nicht abstrakt, sie lebt in der unmittelbaren Begegnung von Mensch zu Mensch. Ich sehe im Anderen den Menschen, nicht die andere Meinung, die andere Herkunft, das andere Aussehen oder was uns trennen mag. Im Menschsein sind wir immer schon eins.
Die nächste Begegnung
Wenn ich freundlich bin, dann bin ich friedlich. Zu Beginn des erneuten Krieges in Nahost sprach ich mit der israelischen Friedensaktivistin Yael Treidel. Sie engagiert sich unter anderem in einer Organisation, die palästinische Patienten in israelische Krankenhäuser fährt, damit sie dort behandelt werden können. Ein Akt der Freundlichkeit inmitten des Krieges. In den kleinen Momenten, die Yael beschreibt, wenn eine Mutter mit Kind voller Vertrauen während der Fahrt im Auto schlafen kann oder ein Palästinenser sie in seinen Olivenhain einlädt, wenn „der Wahnsinn vorbei ist“ – dort werden die kleinen Samen des Friedens gelegt.
Freundlichkeit widersetzt sich der Logik des Krieges. Den Krieg zu beenden bedeutet, den liebevollen, den freundlichen, den friedlichen Blick einüben, der immer den anderen Menschen, das andere Wesen sieht, mit dem gemeinsam das Leben gelingt. Und sich ihm zugehörig fühlt. Das heißt nicht, unkritisch oder beliebig zu werden. Auch Unterschiede in Lebenseinstellung und Meinung können in einer freundlichen, wertschätzenden Atmosphäre bewegt und gar erstritten werden. Manchmal braucht es auch klare Abgrenzung. Ohne dass ich vergesse, dass uns als Menschen existenziell immer mehr verbindet als trennt.
Wir alle sind im Leben. Sind Leben. Es liegt an uns, es durch Freundlichkeit zu erwärmen, oder durch Interesslosigkeit, Achtlosigkeit, Feindseligkeit verwahrlosen zu lassen. Und das Schöne ist: jeder, jede kann immer und immer wieder neu beginnen, freundlich zu sein. Man muss dazu nichts lernen, lesen oder erdenken – denn wir wissen, wie es ist, freundlich zu sein, Freundlichkeit zu erfahren. Die nächste Begegnung ist die nächste Möglichkeit.