Poesie als schöpferische Schönheit

Auf dem Fensterbrett vor mir steht eine Orchidee. Das Geschenk eines Freundes vor einigen Jahren. Lange Zeit stand sie dort unscheinbar mit ihren flächigen Blättern. Bis vor einigen Tagen lilafarbene Knospen daran erschienen. Sie sind nun aufgeblüht mit großer, weit offener Blüte. Geformt wie ein Schmetterling, auch die Form eines fünfzackigen Sterns kann man darin erkennen. Das Lila an den Blütenblättern, auf die Mitte zulaufend ein zartes Weiß, im Zentrum ein leichtes Gelb und zum Inneren der Blüte hin das gleiche Lila wie an den äußeren Rändern der Blütenblätter. Die Schönheit der Blüten legt einen Zauber in den Raum und ins Gemüt. Plötzlich, überraschend haben sie sich entfaltet. Unverfügbar meinem Wollen. Auch deshalb ist der Anblick so beglückend. Schönheit geschieht uns. Die Blüte hat sich mit der Kraft des Lebens selbst geboren. Gleichzeitig tanzt darin der ganze Kosmos. Die Pflanze zehrt genügsam von der kleinen Menge Erde im Topf. Hat das Licht der Sonne in sich aufgenommen, das Wasser, das ich ihr gegeben habe und sich davon ernährt. Und viele weitere Kräfte und Wechselbeziehungen haben dazu geführt, das jetzt, zum Ende des Winters, der Zeitpunkt richtig war, ins Blühen zu gehen. Als Vorbote des Frühlings, der Zeit des aufbrechenden Lebens.

Den Anblick der Blüten empfinde ich als schön. In blühenden Blüten spüren wir alle den Anhauch des Schönen. Es ist die Form und Farbe, die uns verzaubert. Und gleichzeitig auch der Akt, das Geschehen, das Ereignis des Blühens selbst. Wenn eine Pflanze blüht, ist es so, als würde das Wesen, die Essenz, der einzigartige Ausdruck dieses Lebens sichtbar. Wir spüren darin auch die Urkraft des Lebens selbst, die zur Blüte, zur Vollendung drängt.

Wenn ich die Orchidee vor mir einige Zeit betrachte, trete ich in ein Resonanzfeld ein. Ihr Blühen wird zur zärtlichen und weckenden Erinnerung an die Möglichkeit meines Erblühens. Ich spüre, dass diese aufbrechende Kraft des Lebens auch in mir wirkt. Und damit auch die Schönheit.

Das Blühen dieser Pflanze verwirklicht ein Urgesetz des Lebendigen, ein ewiges Prinzip, das dem Leben selbst eingeschrieben ist: Leben will blühen. Dann ist die Pflanze mir gegenüber kein Gegenstand, den ich von außen betrachte oder sogar bewundere, sondern darin vibriert eine Werdeform, die ich auch in mir spüre. Auch ich als Mensch bin ein werdendes Wesen und strebe auf das Erblühen hin. In einem erblühenden Leben finde ich den Raum, die Umgebung, den Willen, die in mir angelegten Gaben, Talente, Schöpfungsimpulse, die seelischen Knospen erblühen zu lassen. Ein Mensch, der auf diese Weise erblüht, ist ein schöner Mensch, weil das Leben in ihm zu einer Vollendung finden konnte, die kein Abschluss ist, sondern vielmehr eine Öffnung für das Ganze, für das noch Mögliche. Eine Blüte, die sich an alles Leben verschenkt.

Geburt eine

Öffnung von weither

Beschenkt mich nah

Mit dem Wesen der Zeit

Werden zu sein

Spricht deine Stimme

Wandelt mich heim

Das Leben ist eines und blüht

Was immer auch ist

 

Der ewige Atem

In der schönen Blüte berühren wir ein ewiges Lebensprinzip, das unsere beschränkte und zeitliche Existenz übersteigt. Wenn wir etwas als schön empfinden, dann spüren wir darin den Atem umfassender Gesetze und Kräfte. Etwas Ewiges rührt uns an. Deshalb kann uns die Schönheit inmitten einer Welt der Unsicherheit, der Zerstörung, der Konflikte und Verwerfungen eine solche Orientierung sein.

Der Anblick des Schönen in der Natur, in der Kunst, im Menschlichen und Zwischenmenschlichen, im ethischen Tun erinnert uns daran, dass wir in einer Welt leben, die aus sich heraus in ein Erblühen finden will. Das Wunder ist dann eigentlich, dass die Welt schön ist, auch wenn es viel Hässliches und Dunkles darin gibt. Das Schöne ist. Und unsere Seele sehnt sich danach. Wir suchen die Berührung mit dieser transzendenten Kraft und Anwesenheit. Auch wenn uns in unserer Kultur viele oberflächliche Gefälligkeiten vorgesetzt werden, der Drang nach wahrer Schönheit bleibt.

Wahre Schönheit erblüht aus dem Leben selbst, als das Leben selbst. Deshalb kann keine „Schönheits“operation an wahre Schönheit heranreichen. Es sind nur äußere Manipulationen. Keine Glättung oder Gefälligkeit kann die wahre Schönheit ersetzen. Ein alter Mensch, der im Sterben liegt und dessen Antlitz von einem erfüllten Leben durchleuchtet ist, strahlt eine solchen Lebensglanz aus. Geschminkte, geglättete, genormte Körper sind dagegen nur Fassade.

Wahre Schönheit entfaltet sich immer von innen, weil ein Wesen, ein Mensch, ein Leben, ein Kunstwerk, eine Gesellschaft von innen her der Harmonie des Lebendigen folgt und ihr Ausdruck verleiht. Deshalb ist dieser ewige Glanz der Schönheit so verbindend. Die großen Kunstwerke jeder Kultur, die Musik, die Poesie mögen uns in ihrer Formgebung, Sprache oder ihrem Klang fremd sein, aber wir können doch den Atem der Schönheit darin spüren. Schönheit kann uns verbinden. Als Menschen fühlen wir uns alle zu ihr hingezogen, welcher Kultur wir auch angehören. Und in Erfahrungen des Schönen, wie dem Betrachten einer Blüte, die in allen Kulturen als schön wahrgenommen wird, werden wir uns unserer Verwobenheit mit dem Ganzen des Lebens bewusst. Wir blühen immer als Eines, als EIN Leben.

Ganz

Wach

Hineingeboren

Ins bewegende Licht

Schöpfung geschieht

Wenn wir wachsen

Und über uns hinausgehn

In den offenen Blick

Der uns schenkt

Was möglich ist

Schaut uns an

 

Eine große Entfaltung

 Schönheit entspringt aus dem Leben. Ist Atem des Lebendigen. Darin pulsiert die Kraft des Schöpferischen, die auch uns innewohnt. Wir sind verwoben in eine große Entfaltung, die unser Universum von Licht und Energie über Materie zu Leben und zu Bewusstsein geführt hat. Und jede Blüte dieses Lebensstromes ist schön. Die Galaxien, die wir durch unsere Teleskope sehen, die Pflanzen, Tiere, Landschaften, der Mensch in seinem künstlerischen Schaffen, in seinen lebensbejahenden Impulsen von Mitgefühl und Verbundenheit, in seinem Streben nach Erkenntnis der Welt und seines Inneren. Das Schöne durchpulst diesen Prozess von innen. Wenn etwas schön ist, dann kommt diese schöpferische Kraft und Harmonie des Lebendigen darin zum Ausdruck. Wenn etwas hässlich ist, dann ist der Fluss des Lebens unterbrochen, abgetötet, erstarrt.

In unserem schöpferischen Sein vergegenwärtigen wir das Schöne. Wenn wir uns bewusst auf diese erblühende Kraft ausrichten, sie von innen her spüren und in der Welt zum Ausdruck bringen, poetisieren wir unsere Existenz. Die Poesie lebt im Schöpfen aus dem Schönen. Das Poetische, umfassender verstanden als eine Weise in der Welt zu sein, lebt in Resonanz mit dem Schönen. Jedes poetische Werk, jeder poetische Akt will unsere Verbundenheit mit dem umfassenderen Leben in die Erfahrung bringen und verwirklichen. Die Poesie geht dabei den Weg der ästhetischen Einstimmung.

Wenn ich ein Gedicht schreibe, rührt mich etwas in der Welt an. Berührt mich. Ich trete in Resonanz mit dem, was ist. Und spreche es aus. Finde Worte, Bilder, Metaphern, die mein Gestimmtsein in einen Ausdruck bringen. Auch wenn ich über einen Verlust oder einen Schmerz schreibe, wird Schönheit spürbar, allein dadurch, dass eine Berührung ausgesagt wird. Dass sich eine Verbundenheit äußert. Wenn wir eingestimmt sind auf das Leben in all seiner Vielschichtigkeit, mit dem Schönen und Schmerzvollen, findet das Leben einen Ausdruck. Und wir entsprechen unserem wahren Wesen als schöpferische Akteure, als Mitgestaltende eines sich entfaltenden Kosmos, als bewusstwerdende Mitwirkende des Lebens, als Poeten im großen Schöpfungsgedicht.

Atem kommt zu uns

Bewegt mich von innen

Ebbe und Flut deines Seins

Ich bin das Instrument

Deiner Musik

Die Erde und Himmel erfüllt

Und uns das Dazwischen

Schenkt

 

Unser Miteinander verwandeln

Wenn wir dem Schönen folgen, kann sich auch unser Miteinander von innen verwandeln. Schön ist ein Ganzes, in dem die verschiedenen Teile zu einer dynamischen Harmonie finden, die in Bewegung bleibt. In der Gestalt dieses Ganzen verwirklicht sich die innewohnende Verbundenheit des Lebens. Beziehungen werden schön, wenn darin unser je eigenes Erblühen einen Raum findet, und wenn die Beziehung selbst eine Blüte wird, die wir gemeinsam nähren und immer wieder weiterwandeln. Sie nährt uns. Erinnert uns daran, dass wir keine getrennten Inseln in einem leeren Kosmos sind, sondern verwoben mit allem.
Auch eine Gesellschaft, eine menschliche Gemeinschaft kann zum Raum des Erblühens werden. Dann wird jedem Menschen der Raum gegeben, sich in Freiheit zu entfalten. Sich von innen her zu bilden. Bildung an unserem Wesen ist geistiges Blühen. Deshalb sind Lernräume, Orte wahrer Charakterbildung und Herzensschulung die sozialen Energiezentren einer Gemeinschaft und Gesellschaft.

Ein Mensch wird schön, wenn die in ihm angelegten Fähigkeiten, des Denkens, Fühlens und Wollens, der Verkörperung, Imagination und Handlungsfähigkeit zu einer beweglichen Harmonie finden. Zu einem Prozess werden, der sich in der Entfaltung erfüllt. Dann wird das ganze Leben zum schöpferischen Raum des Möglichen. Dass unser Leben selbst zum Horizont des Möglichen offen ist, verleiht unserem Sein die kreative Kraft und eine unbedingte Zuversicht. Eine schönere, gerechtere. lebensdienlichere, regenerative Welt ist möglich. Das, was uns vorschwebt, was wir erahnen, übt einen Herzenszug aus, der uns zu sich ruft. Das ist eine Hoffnung, die sich nicht auf ein bestimmtes Ziel richtet, sondern daraus lebt, dass unser Sein und Tun durchdrungen wird von der Werdeenergie des Lebens, die sich darin zeigt, dass wir einem tiefen Sinn folgen können. Uns ruft die Blüte, die wir sein könnten.

Das ist der schöne Ruf aus der Tiefe des Lebens, in dem auch das Wahre und das Gute umfangen und geborgen sind. Das Wahre, Gute und Schöne eröffnen uns den Raum des Heiligen als des letztendlich Wesentlichen unserer Existenz. Im Heiligen zeigt sich die Ganzheit des Seins, aus der wir nie herausfallen können, und eine absolute Sinntiefe, in der wir erfahren, dass wir eingewoben sind in ein unfassbares Geheimnis des Lebens. Wir staunen. Spüren Ehrfurcht. In Geheimnis, Staunen und Ehrfurcht vibriert und zeigt sich das Schöne. Wir kommen dem unerkennbaren Grund unseres Seins nahe, der uns inniger ist als alle Merkmale, die unsere Individualität bestimmen. Gleichzeitig sind wir ein einzigartiger Ausdruck dieses umfassenden Ganzen. Eine Blüte des großen Lebens. Das ist die schöpferische Schönheit, die wir sind und suchen.

Weil wir das Schöne sehen können, davon ergriffen werden, staunend in die Stille fallen, ehrfurchtsvoll schauen, haben wir teil am Schönen. Der ästhetische Sinn ist in uns und darin sind wir eins mit dem Schönen, das sich uns zeigt. Ein ästhetisches Leben ist berührbar, ist ein empfindungsvolles, ein spürfähiges, ein poetisches Sein. Es verweigert sich der Anästhesie, der Empfindungslosigkeit, der Taubheit einer Kultur, die nicht spüren will, was sie ist und tut. An der Schönheit können wir zu unserem Menschsein erwachen. Und unsere Welt poetisieren.

Mein Blick geht wieder zur Orchidee am Fenster, die an diesem Text mitgeschrieben hat. Sie ruft uns wie jede Blume hinein in das schöpferische Kraftfeld des Blühens, aus dem wir unser Leben, unsere Beziehungen, unser Denken und Fühlen, unser Sein und Tun neu verzaubern können.

Sehen wir einander an

Im Funkeln der Begegnung

Öffnet sich der Horizont

Eine gemeinsame Gegenwart

Frei fühlen wir uns gesandt

Zusammen sind wir getragen

Und schaffen das Land

Zukunft

Es erblüht

Jetzt

 

 Erschienen in Ausgabe 22 der Zeitschrift LOGON.