Wir leben in einem Kosmos, den wir nicht verstehen, nicht erfassen, nicht begreifen können. Das zeigen uns auf neue Weise und in nie gekannter Schärfe die Bilder des Webb-Teleskops, die in den letzten Tagen um die Welt gehen. Mitten in eine krisengeschüttelte Zeit mit dem Krieg in der Ukraine, der Hitze als Zeichen des Klimawandels, einer drohenden Verarmung öffnet sich uns ein winziges Fenster in ein unendliches Universum.
Das Deep Field, das Wissenschaftler aus Infrarot-Aufnahmen so bearbeitet haben, dass es für uns sichtbar ist, zeigt nur einen Bereich des Kosmos, der so groß ist wie ein Sandkorn, das man mit ausgestrecktem Arm in der Hand hält. Und doch sehen wir darauf eine unerschöpfliche Vielzahl von Welten. Etwa 100 Galaxien, deren Licht 5 bis 13 Milliarden Jahre brauchte, um uns zu erreichen. So unvorstellbar groß ist der Kosmos. Es ist also auch ein Blick zurück in die kosmische Zeit und zeigt Bereiche, in denen Sternen geboren werden oder sterben. Ein Foto zeigt eine Konstellation namens „Stephan‘s Quintett“, eine Gruppe von fünf Galaxien, deren Gravitationskräfte vier von ihnen in einen „kosmischen Tanz“ bewegen, wie es die Astronomin bei der Europäischen Weltraumorganisation Giovanna Giardino nennt.
Jede Galaxie, von denen es nach Schätzungen der Forscher im Kosmos 100 Milliarden geben soll, enthalten ihrerseits Millionen von Sternen und Planeten. Einige der Galaxien enthalten so viel Masse, dass ihre Schwerkraft die Lichtwellen krümmt. Durch diesen sogenannten Gravitationslinseneffekt kann man die Masse einiger Galaxien nutzen, um hinter ihnen noch weiter entfernte Objekte aus einer noch früheren Zeit des Universums zu erblicken.
Dabei macht dieser unvorstellbar große sichtbare Kosmos mit den Objekten, die Licht und Wärme abgeben nur 4 % des Universums aus, der Rest ist dunkle Materie und Energie, von denen wir noch weniger wissen.
Die Schönheit des Kosmos
Das sind Zahlen und Dimensionen, die unser Gehirn überfordern und Zeichen einer überbordenden Fülle von Kreativität. Die häufig gestellte Frage, ob es in diesem unvorstellbar weiten Raum weiteres Leben gibt, scheint naiv. Wie könnte es nicht, bei dieser schöpferischen Explosion, in der wir uns befinden?
Aber jenseits der Fakten und Daten, den unermesslichen Dimensionen, die uns in diesem Bild begegnen, berührt mich ganz unmittelbar die Schönheit darin. Das funkelnde, spielende Licht, die organisch erscheinenden Formen, die verborgene Harmonie in diesem zufälligen Blick ins All, das Flimmern der Farben, die Dynamik der Beziehungen zwischen den strahlenden, vielgestaltigen Objekten. Auch in vielen Berichten über die Vorstellung der ersten Bilder des Webb-Teleskop verglichen Wissenschaftler und Journalisten den Anblick mit einem Kunstwerk. Und mir scheint, nicht nur deshalb, weil es ein angenehmer Anblick ist, sondern weil es uns innerlich berührt. So erklärte etwa Michelle Thaller, Astronomin und stellvertretende Leiterin für Wissenschaftskommunikation am NASA’s Goddard Space Flight Center: „Lassen Sie mich nur sagen, dass ich, als ich dieses besondere Bild des Universums zum ersten Mal sah, einfach von der Schönheit beeindruckt war. Ich weiß, wonach wir suchen, ich kenne die wissenschaftlichen Fragen, die wir mit diesem Bild zu stellen versuchen. Aber jetzt lehnen Sie sich einfach zurück und sehen Sie sich das an. Diese Erhabenheit, diese Schönheit in einem Ausmaß, die unser Verstand nicht erfassen kann.“
Wenn ich mich zurücklehne und dieses Bild betrachte, dann regt sich in mir, im Herzen, eine Ahnung, die kaum in Worte zu fassen ist. Es berührt mich das Geheimnis unseres Seins in diesem unendlichen, schönen, lebendigen, schöpferischen Universum. Es ist ein Staunen, das mich still werden lässt und eine kosmische Demut in mir wachruft. Darüber, wie klein wir in diesem unermesslichen Kosmos sind. Darüber, wie wenig ich weiß, wie wenig wir als Menschheit wissen. Auch ein Staunen darüber, wie der menschliche Drang nach Erkenntnis ebenso grenzenlose Anstrengungen unternimmt, um eines Tages so ein komplexes Gerät wie das Webb-Teleskop zu bauen, es in den Weltraum zu schicken, um das Universum, in dem wir leben, ein klein bisschen besser zu sehen und zu verstehen. Es ist eine Ehrfurcht vor diesem Wunder, in dem wir jeden Moment leben, ob wir es wahrnehmen oder nicht.
Ein kosmischer Blick nach innen
Aber der Blick in dieses Sternenbild ist nicht nur ein Blick nach außen, sondern auch ein Blick nach innen. Wenn ich es länger betrachte, dann spüre ich, dass ich in meinem Bewusstsein nach innen geweitet werde in eine Unendlichkeit, in der dieses ganze große Universum und ich, der es jetzt betrachtet, in einem ewigen Moment nicht getrennt sind. Diese Unendlichkeit, diese Schönheit ist auch in mir, ist auch in uns Menschen.
Und in dieser Erfahrung lebt eine tiefe Verbundenheit. Wenn ich das Webb-Deep Field anschaue, spüre ich, dass wir alle Wesen dieses einen Kosmos sind. Ein Kosmos, der aus komplexen Bewegungen von Licht, Energie und Materie zahllose Galaxien hervorbringt, in denen so buntes, fruchtbares, fragiles Leben entstehen kann, wie auf unserem Planeten. Darin lebt eine schöpferische, vereinigende Kraft, die auch in uns lebt und keine Trennung kennt.
Deshalb ist der Blick auf dieses neue Porträt des Kosmos auch nicht nur ein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn, sondern vielleicht ruft darin auch der Kosmos uns zu, spricht uns an. Wenn wir in unserem eigenen Leben und den Krisen und Herausforderungen unserer Welt, das, was uns in diesem Bild begegnet, aufnehmen würden, wie würden wir dann leben? Wenn wir verstehen, dass unsere Existenz nur so ein kleines Flackern im Weltenlauf ist, aber dennoch Ausdruck eines wunderbaren, wunderschönen Kosmos?
Wir im Universum
Wenn wir diesen Blick, diesen poetischen Blick wieder lernen, in dem neben Erkenntnisgewinn auch Geheimnis, Staunen und Ehrfurcht vibrieren, dann finden wir vielleicht nicht nur ein tiefes Gefühl der Heimat und Zugehörigkeit in einem schöpferischen Universum, sondern auch Antworten auf unsere gegenwärtigen Herausforderungen, die wir jetzt noch nicht denken können.
In den Bildern des Webb-Teleskops, die uns nun weiter erreichen werden, könnten wir auf diese Weise zu einer Demut, Lebensliebe und Verbundenheit finden, die unsere Welt so dringend braucht.
Voraussetzung dafür ist ein poetischer, einfühlender Blick, der über das äußere Messen und Registrieren hinausgeht. Etwas humorvoll spricht der US-amerikanische Walt Whitman in seinem Gedicht „Als ich den gelehrten Astronomen hörte“ von einer solchen Erweiterung unseres Blicks, die wir mit jedem neuen kosmischen Foto neu lernen können – denn jedes davon ist auch ein „Selbstporträt“:
Als ich den gelehrten Astronomen hörte,
Als die Beweise, die Zahlen, in Spalten vor mir aufgereiht waren,
Als man mir die Karten und Diagramme zeigte, um sie zu addieren, zu dividieren und zu messen,
Als ich den Astronomen hörte, wie er dies im Hörsaal mit viel Beifall vortrug,
Fühlte ich mich unerklärlich müde und krank,
Bis ich mich erhob und mich hinausstahl, um allein fortzugehen,
In der mystischen feuchten Nachtluft, und von Zeit zu Zeit
In vollkommener Stille zu den Sternen hinaufblickte.
So wie Whitman sich hier von den Zahlen und Diagrammen abwendet, können auch wir uns immer wieder in die unmittelbare meditative Betrachtung dieser Bilder vertiefen, ohne dabei den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gering zu schätzen, der uns sicher neue Horizonte des Verstehens eröffnen wird. Immerhin müssen sich die Astromonomen heute nicht mehr nur mit trockenen Erklärungen begnügen, sie können uns ein Foto des Webb-Teleskops zeigen, das uns unmittelbar berührt. „Jeder kennt das Klischee, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte“, erklärt Michelle Thaller. „Und in der Astronomie trifft es wirklich zu. Selbst als ausgebildete Astrophysikerin bin ich von den Bildern überwältigt. Ehrlich, ich bekomme buchstäblich Gänsehaut. Plötzlich fühle ich mich als Teil dieses großen, riesigen und wunderschönen Systems, das unser Universum ist. Ich denke, jeder sollte diese Bilder sehen.“ Und sie fügt hinzu: „Das ist nur der Anfang, das Beste wird noch kommen.“