Die Krise als Realitätsprüfung

Achtsamkeit, Resonanz und Dialog im Dickicht der Informationen

Dieser Text ist in einer kürzeren Version zuerst erschienen auf dem Portal „Ethik heute“

Im Zuge der Diskussion um den Umgang mit der Corona-Krise erreichen Ideen einer geheimen Verschwörung hinter den Ereignissen zunehmend auch die Mitte unserer Gesellschaft. Welche Orientierungspunkte können uns in dieser Situation helfen, Klarheit zu finden und die Dialogbereitschaft zu erhalten?

Die Coronakrise und der damit verbundene Strom an Informationen, Meinungen, echten und nicht ganz so echten News ist eine Herausforderung und eine Realitätsprüfung für uns alle. Ich erlebe es so, dass Verhaltensmuster in mir selbst, die Dynamiken in Beziehungen und auch gesellschaftliche Spannungen klarer hervortreten. Das ist manchmal schmerzhaft und irritierend.
Gerade für Menschen, die sich um ein achtsames, bewusstes, nachhaltiges Leben bemühen, hat diese Realitätsprüfung eine ganz besondere Dimension. In meiner Reflexion dazu bewegen mich vor allem drei Aspekte, die für mich Teil einer Kultur einer Bewusstseinskultur sind: Achtsamkeit, Resonanz und Dialog.
Achtsamkeit im meditativen Sinne bedeutet unter anderem, dass wir in ein Gewahrsein kommen können, in dem wir die auftauchenden Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen wahrnehmen, ohne auf sie zu reagieren, ihnen zu folgen. Sie können kommen und gehen. Daraus eröffnet sich oft eine innere Freiheit und Klarheit des Geistes und ein Raum zwischen Reiz und Reaktion. Aus dieser Freiheit, nicht auf jeden Gedanken sofort reagieren zu müssen, erwächst auch die heilsame Kraft von Achtsamkeit. Eine scherzhafte Formulierung einer solchen Freiheit ist, dass sie darin besteht, nicht allem glauben zu müssen, was wir denken.

Der freie Raum

Achtsamkeit ist dabei eine Praxis, die uns auch in den vielen Reizen, die uns im Leben begegnen, mehr Freiheit geben kann. In diesem Sinne empfinde ich diese Zeit als eine „Achtsamkeitsprüfung“. Bin ich in der Lage, die Vielzahl der Informationen, die oft auch in einer großen Erregtheit oder mit aufklärerischem Gestus daherkommen, wahrzunehmen, ohne sofort darauf zu reagieren? Finde ich in mir den freien Raum, verschiedene Nachrichten auf mich wirken zu lassen? Um dann deren Inhalt und die Absicht, mit der sie verfasst, veröffentlicht und versandt wurden, achtsam wahrzunehmen, zu prüfen und auch zu beurteilen? Achtsames Wahrnehmen wird so zu einer klaren Grundlage auch unseres rationalen Verstandes, damit wir wo nötig auch klar Stellung beziehen oder uns abgrenzen können.
Dazu sind Tugenden notwendig, die mit Achtsamkeit zu tun haben, aber momentan sehr selten ist: Gelassenheit und Besonnenheit. Mir scheint es, dass wir uns in einer Erregungsspirale weiterdrehen, die innere und gesellschaftliche Räume selten werden lässt, wo wir behutsam, forschend, abwägend die Wirklichkeit auf uns wirken lassen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, innerlich so offen zu sein, dass wir verschiedene, sich auch widersprechende Ansichten hören und in uns halten können, um daraus zu unserem eigenen Urteil zu kommen. In dem Wissen, dass es immer nur vorübergehend sein kann bzw. immer wieder überprüft werden muss.
Dabei beunruhigt mich, wie oft dieser innere, achtsame Freiraum kollabiert. Das erlebe ich in mir, wenn mich die Ansichten anderer so verstören, dass ich sie nicht mehr hören will und nicht mehr den Menschen dahinter sehen oder spüren kann. Und ich erlebe es auch bei Freunden und Bekannten und natürlich in den sozialen Medien, die gerade eher asozial zu wirken scheinen. Konträre Meinungen prallen aufeinander und machen eine Resonanz unmöglich. Oder es werden YouTube-Videos verschickt, ohne sich die Mühe zu machen, einen Fakten-Check zu bemühen. Denn auch das ist eine Form von achtsamem Umgang mit Informationen, der erst die Grundlage für Gespräche bildet, in denen die Resonanz gemeinsamen Verstehens möglich wird.

Aggression und Resonanz

Resonanz ist ein schönes Wort, welches der Soziologe Hartmut Rosa populär gemacht hat, und das eine Qualität von Beziehung beschreibt, in der wir uns wirklich berühren und bewegen lassen, in der wir verwandelt werden. Solche Resonanzbeziehungen sind in einer krisenhaften Zeit wie der unseren in Gefahr. Oft scheint es eher, dass Dissonanz das kulturelle Klima bestimmt.
Hartmut Rosa sieht Resonanz als die Grundqualität einer gelingenden Weltbeziehung, die eine Antwort ist auf die sich überdrehende Beschleunigung unserer Zeit. In der nun verordneten Entschleunigung eröffnen sich auch neue Räume der Resonanz. Ich erlebe zum Beispiel die Verbundenheit mit der Natur intensiver und auch in Beziehungen oder Dialogräumen zum Teil auch über Videokonferenz scheint ein Resonanzgefühl verstärkt spürbar zu werden. Es ist eine Hoffnung in dieser Krise, dass wir den Wert einer solchen Entschleunigung wahrnehmen und auch bewahren können. Vielleicht eröffnet sie auch den achtsamen Reflexionsraum, individuell und gesellschaftlich unser Leben und unsere Zukunft mit mehr Freiheit und Weitsicht zu überdenken.
Rosa sieht ein Aggressionsverhältnis zur Welt als eine Folge des Immer-mehr unseres Wachstums- und Steigerungsdenkens. Zu dieser Aggression gehört auch, dass wir die Welt vollkommen verstehbar, kontrollierbar und verfügbar machen wollen. Solch ein Aggressionsverhältnis zeigt sich für mich einerseits in der Metapher vom „Kampf gegen das Virus“ und der Idee einer absoluten Kontrollierbarkeit, andererseits aber auch in vielen Äußerungen zurzeit, sowohl in privaten Gesprächen als auch in den Medien und vor allem auch in vielen sogenannten „alternativen Medien“. Häufig zeigt sich eine Überzeugtheit von der eigenen Meinung, die keinen Raum zum Atmen, Reflektieren und zum Dialog lässt. Gewissheiten treten an die Stelle von tastendem Forschen, Nichtwissen und Ungewissheit können wir offensichtlich kaum aushalten.
Dialog ist ein Resonanzphänomen. Der Dichter David Whyte sagt: „Niemand überlebt ein echtes Gespräch.“ Ich will den anderen spürend verstehen, will ihn erreichen und erreicht werden und gehe verwandelt aus einem Dialog hervor. In unserer aktuellen Ausgabe von evolve beschreibt der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen drei Dimensionen der Kommunikation: Verstehen, Verständnis, Einverständnis. Verständnis bedeutet nicht, dass ich mit allem, was der andere sagt, einverstanden bin, aber die Resonanzbeziehung des Verstehenwollens und des Verständnisses für die Beweggründe des anderen kann trotzdem lebendig bleiben. Pörksen erklärt auch, dass Kommunikation und Dialog dann misslingen, wenn ich den anderen herabsetze, wenn ich ihn gar nicht hören will, ihn übertöne. Dabei möchte ich nicht sagen, dass Dialog eine Art Allheilmittel ist. Manchmal gelingt ein Gespräch nicht, weil nicht die Bereitschaft besteht, die eigenen Ansichten einer kritischen Prüfung an Fakten zu unterziehen oder sich an verbindliche Werte wie die Wahrung der Würde jedes Menschen zu halten. In diesem Sinne erklärt Pörksen, dass es auch rote Linien braucht, die nicht überschritten werden dürfen. Dabei plädiert er für eine „Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, dazu gehört das Gespräch, die respektvolle Konfrontation und manchmal eben auch die Intoleranz gegenüber der Intoleranz.“

Orientierungswege

Achtsamkeit, Resonanzfähigkeit und Dialogoffenheit sind für mich Prüfinstrumente, Orientierungswege, mit denen ich versuche, mich in der Auseinandersetzung mit Informationen oder anderen Meinungen zu orientieren. Das erlaubt für mich auch einen klareren Blick auf die zunehmenden verschwörungsgeladenen „alternativen“ Nachrichten. Darin spüre ich oft eine Erregtheit, Aggression und Herabsetzung anderer, die mich misstrauisch macht. Auf Webseiten wie „Rubikon“ begegnet mir dieses Gemisch, das für mich ein Zeichen dafür ist, dass die Intention meist nicht in einem Gesprächsangebot oder der Wahrheitssuche besteht, sondern häufig auch in Meinungsmache und Manipulation.
Nun positionieren sich viele Vertreter „alternativer Medien“ oder „alternativer Meinungen“ wie „KenFM“ als Verfechter der Freiheit und der Wahrheit. Dabei beanspruchen einige die für mich absurde Verbindung zur Bürgerbewegung in der ehemaligen DDR. Als jemand, der selbst in der DDR aufgewachsen ist, würde ich sagen, dass sie nicht erfahren haben, wie es ist, wirklich in einer Diktatur zu leben. Mich besorgt es, wenn jetzt das Bild einer Corona-Diktatur an die Wand gemalt wird, in einem Ton, der mich deutlich eher an die Propaganda meiner Jugend erinnert, als das, was ich in den angeblich so gleichgeschalteten offiziellen Medien lese. So entsteht ein merkwürdiger und zunehmend beängstigender Zusammenschluss von Menschen, die berechtigte Fragen zum Umgang mit der Corona-Krise haben, mit rechtspopulistischen, esoterischen oder verschwörungstheoretischen Bestrebungen, wie aktuell in der Partei „Widerstand2020“ von Bodo Schiffmann oder bei den sogenannten „Hygiene-Demos“.
Weil diese Propaganda das Vertrauen in unsere Demokratie unterminiert und deshalb auch gern von rechtspopulistischen Kräften geteilt wird, wird mir zunehmend bewusst, wie kostbar und auch fragil eine offene Gesellschaft ist.
Bei solchen kritischen Überlegungen merke ich selbst, dass ich nicht aus einer ähnlichen Haltung der Abwertung sprechen möchte, und das erfordert auch Achtsamkeit. Gleichzeitig bedeutet Achtsamkeit natürlich nicht, nur ruhig und gelassen über allem zu schweben. Es ist ein Zeichen der Anteilnahme, wenn uns etwas aufregt und empört – das ist besser als passiver Verdruss. Und ich verstehe, dass uns die Folgen der Lockdown-Maßnahmen oder einen möglichen Impfpass Sorgen machen, oder uns fragen, warum wir bei anderen brennenden Krisen nicht so heftig reagieren wie bei dieser Pandemie, oder ob die Freiheitseinschränkungen überzogen oder unwirksam sind. Und ich glaube auch, dass unsere Systeme der Politik und Wirtschaft dieser Zeit nicht gewachsen sind und einer grundlegenden Transformation bedürfen. Aber wir sind ein Teil dieser Systeme, auch wenn wir uns als ihr alternativer Rand empfinden. Politkern, Wissenschaftlern oder geheimen Mächten die Schuld zu geben, fördert die Spaltung in das „Wir gegen die Anderen“. Einen Weg durch oder aus der Krise, der demokratisch gelingen kann, finden wir aber nur zusammen.

Dialogoffensive?

Viele „alternative Stimmen“ fühlen sich als Bewahrer von Wahrheit und Freiheit und beziehen diese Werte vor allem auf sich: Meine Wahrheit und meine Freiheit. Aber Demokratie ist ein achtsames, resonantes, dialogisches Geschehen, in dem ich meine Freiheit oder Wahrheit immer in Beziehung, in Resonanz zur Freiheit und Wahrheit anderer verstehen muss. Es führt nirgendwo hin, die Freiheit oder gar die Leben z. B. der älteren Risikogruppen gegen das der jüngeren Menschen zu stellen, die unter den Ausgangsbeschränkungen leiden. Eine demokratische Gesellschaft will allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen, egal wie lang dieses Leben noch ist. Und eine Pandemie wie diese bringt Leid mit sich und ein Diskurs darüber, durch welche Antwort darauf weniger Leid verursacht wird, ist wichtig. Genauso wichtig ist aber eine Antwort, die zutiefst mit Achtsamkeit zusammenhängt: Mitgefühl. Diese Krise ruft für mich auch nach einer gesellschaftlichen Revolution des Mitgefühls für alle, die durch diese Krise körperliches, psychisches Leid erfahren oder deren Existenzgrundlage wegbricht.
Und eigentlich ist der wichtigere Dialog, in den uns diese Krise vielleicht führt oder gar zwingt, die Frage nach einem guten Leben: Was ist eigentlich ein gutes Leben? Welche Werte wollen wir als Gesellschaft zum Ausdruck bringen? Wie gehen wir mit Kranken und Sterbenden um? Wie können wir die Erfahrung der Entschleunigung und des wirksamen Reagierens auf eine Gefahr für Herausforderungen wie den Klimawandel, das Artensterben, die globale Ungerechtigkeit, die Flüchtlingskrise oder Sinnkrise nutzen? In welcher Welt wollen wir leben?
Das sind Fragen, die wir gemeinsam bewegen müssen. Die Polarisierung, die wir jetzt erleben, ist möglicherweise auch die Folge einer systemischen Nachlässigkeit in der Entwicklung unserer politischen Kultur: dass wir als Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend einbezogen sind, dass die politische Entscheidungsfindung zu sehr auf einer häufig durch wirtschaftliche Interessen geleiteten Parteipolitik basiert und zu wenig auf einem zivilgesellschaftlichen Diskurs, dessen Zerrbild wir gerade in den sozialen Medien erleben.
In diesem Sinne bräuchte es vielleicht eine Dialogoffensive in der Post-Corona-Zeit: Bundesweite Bürgerräte, in denen wir uns als dialogbereite Menschen begegnen können, ohne die „Masken“ von WhatsApp, Facebook oder YouTube, jenseits der „physischen Distanz“ von Meinungsblasen und Echokammern. Um Angesicht zu Angesicht nicht die Meinungen oder Schuldzuweisungen sprechen zu lassen, sondern unsere Ängste, Hoffnungen und Visionen eines guten Lebens für uns, für unsere Gesellschaft und den Planeten. Dabei wird es aber auch nötig sein, uns neu der gemeinsamen Grundlage eines demokratischen Diskurses zu vergewissern und klare Grenzen zu Falschbehauptungen, Verschwörungsfantasien und extremistischer Manipulation zu ziehen.

Video vom Webinar zum Thema „Mit Achtsamkeit und Dialog durch den Meinungsdschungel“