Verstehen aus Verbundenheit

Unsere Sprache ist ein Ausdruck unseres Bewusstseins. Wie wir die Dinge und Wesen der Welt ansprechen, sie in unser Sprechen aufnehmen und darin bewegen, sagt viel darüber aus, wie wir die Welt wahrnehmen und mit ihr umgehen. Wir leben heute in einer Zeit, in der wir die Sprache durch die wissenschaftliche Erweiterung unseres Wissens über die Welt stark ausdifferenziert haben. Aber die wissenschaftliche Sprache bleibt für viele von uns abstrakt, weil wir keinen direkten Bezug zu dem haben, was darin angesprochen wird. Die gegenständliche rationale Sprache arbeitet genau mit dieser Abstraktion, um die Gegen-stände der Welt, zu denen auch die lebendigen Wesen zählen, in ihren äußeren Merkmalen zu verstehen, zu benennen, zu messen, zu zählen, zu vergleichen, in Kategorien einzuordnen und dadurch nutzbar, gebrauchbar zu machen.
Wir haben also ein Sprechen gelernt, das die anderen Wesen und die Dinge zu Objekten macht, die getrennt von uns existieren, die wir manipulieren, kontrollieren und benutzen können. Von denen wir uns etwas für unser eigenes Wohlergehen erhoffen, oder vor denen wir Angst haben und die wir deshalb bekämpfen wollen.
Diese Form eines vergegenständlichen Denkens und Sprechens findet durch technologische Algorithmen in den digitalen, sozialen Medien eine besonders starke Ausdrucksform. In diesen virtuellen Räumen ohne unmittelbaren Kontakt wird die Vergegenständlichung des anderen noch einfacher. In Kommentaren kann sich Frustration und Hass entladen, weil ich nicht mehr spüre, dass es sich um einen anderen Menschen handelt. So schreibe ich in einer Sprache, die ich in direktem Augenkontakt nicht äußern würde, weil die Präsenz des anderen zu stark wäre.
Hier wird eine Verrohung der Sprache auch zu einer gesellschaftlichen, einer demokratischen Frage. Denn sie kommt aus einer Verrohung des Denkens, des Bewusstseins. Der andere Mensch mit der von mir abweichenden Einstellung wird dann nicht als mögliche Bereicherung eines auch kontroversen Gesprächs verstanden, sondern als Gegner, der zum Schweigen gebracht werden muss.
Eine weitere sprachliche Herausforderung besteht darin, dass sich auch die künstliche Intelligenz unserer Sprache bedient. Sprachprogramme wir ChatGPT geben uns den Eindruck, als würden wir mit jemandem sprechen, wobei wir nur mit einem maschinellen, selbstlernenden Algorithmus interagieren. Hier wird die menschliche Fähigkeit des Sprechens maschinell simuliert. Denn eigentlich ist es kein Sprechen, denn es gibt kein Gegenüber, niemanden, den wir ansprechen, von dem wir angesprochen werden. ChatGPT kann alle Sprachformen simulieren, bis hin zur Lyrik, aber es ist keine gelebte Erfahrung darin, und deshalb ist es tote, entleerte, benutzte Sprache. Die ins Extrem getriebene Sprache der Getrenntheit. Auch ich nutze ChatGPT manchmal für eine Recherche, es kann uns auch unterstützen, aber wir laufen Gefahr, dass sich unser menschliches Sprechen zunehmend nach der technologischen Sprachnutzung formt: Dann nehmen wir nicht mehr wahr, dass wir in unserer sozialen und lebendigen Sphäre immer jemanden oder etwas ansprechen. Wenn wir das nicht mehr spüren, wird unsere Sprache weiter verrohen und vergegenständlichen. Und wir laufen Gefahr, uns als Menschen nicht mehr zu verstehen, weil wir gar nicht wissen, wie man ein Gespräch mit einem lebendigen, anwesenden, spürfähigen Gesprächspartner führt. Sich dadurch berühren, infrage stellen, verwandeln lässt. Dann verhärten wir und die gesellschaftlichen Fronten.
Vor diesem Hintergrund wird mir das poetische Sprechen zu einer unerschöpflichen Inspiration, wie ich es in meinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“ aufschlüssle. Ich verstehe hier Poesie nicht allein als eine Literaturform, was sie natürlich auch ist, sondern als eine Form des Sprechens, der bestimmte Qualitäten innewohnen. Es sind zutiefst menschliche Qualitäten, die gerade heute, in Zeiten der verrohenden Sprache, Impulse geben können, wie uns ein anderes Sprechen einen neuen Zugang zu Welt und zueinander eröffnen kann.
Der französische Autor Jacques Lusseyran bringt es auf den Punkt: »Poesie war keine Literatur, nicht nur Literatur.« Seit seinem achten Lebensjahr blind, engagierte er sich in der Résistance, wurde von den Nazis verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, das er vor allem auch durch die Kraft der Poesie überlebte. Er beschreibt, wie alle still wurden, wenn er oder andere in der Baracke der Häftlinge einige dichterische Verse vortrugen, die wie ein »Mantel der Menschlichkeit« alle miteinander verbanden: »Ich machte die Erfahrung, dass die Poesie eine Handlung ist, eine Beschwörung, ein Friedenskuss, eine Medizin. Ich machte die Erfahrung, dass die Poesie eines der wenigen, sehr wenigen Dinge ist, die über Kälte und Hass siegen können.«

Poetisches Sprechen

Was Lusseyran hier anspricht, ist unter anderem die Kraft der Poesie, uns an die innewohnende Güte des Menschlichen zu erinnern, auch dann, wenn es um uns und in uns ganz dunkel ist. Mir kommt hier eine Erfahrung beim Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald in den Sinn, wo es im Lager die „Goetheeiche“ gab. Einen alten Baum, von dem heute nur noch ein Baumstumpf geblieben ist, an dem sich Goethe mit seiner Freundin und vielleicht auch geliebten Frau von Stein getroffen haben soll. Aus zynischem Hohn wurde der Baum inmitten des Lagers stehen gelassen, aber für viele der Häftlinge wurde er zum Symbol der Hoffnung, in der sich das Lebendige des Baumes mit der Aura des Dichterischen verband, für das Goethe steht.
Poetische Sprache kann diese Hoffnung in uns wecken, weil sie uns verbindet. In der der Poesie werden grundmenschliche Erfahrungen, Fragen, Erlebnisse, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen an- und ausgesprochen, die uns über die Entfernung von Zeiten, Räumen und Kulturen hinweg berühren. Poesie ist eine verbundene, eine verbindende Sprache. Wir spüren darin, dass wir alle Menschen sind, dass wir alle Wesen einer Menschheit sind. Jenseits der trennenden Kategorien um Geschlecht, Ethnie, Klasse, Herkunft wird das in uns angesprochen, das uns allen gemeinsam ist. Der Urgrund des Menschseins, in dem uns alle die gleichen Fragen bewegen, wenn wir in der Tiefe des Lebens ankommen: Geburt und Tod, Liebe und Verlust, Hoffnung und Verzweiflung, Trauer und Glückseligkeit, Leiden und Heilung.
Ein poetisches Sprechen als verbundenes Sprechen wieder zu erlernen, bedeutet für mich, mir im Sprechen bewusst zu sein, dass ich mit einem anderen Menschen spreche, mit dem ich sehr viel mehr gemeinsam habe, als mich von ihm trennt.
Es gibt ja diese interessante Erfahrung, dass ich alle möglichen Vorurteile über Menschen aus einer anderen Kultur haben kann, aber wenn ich einen Menschen dann unmittelbar begegne, seine oder ihre Geschichte, die Verletzungen und Wünsche höre, merke, dass uns im Herzen doch viel mehr verbindet als trennt.
In diesem Sinne kommt das poetische Sprechen einem „Friedenskuss“ gleich. So kann Ingeborg Bachmann sagen. „Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“ In einer verbundenen Sprache kann Krieg keine Wurzel finden. Wobei natürlich auch gesagt werden muss, dass auch die Poesie dafür genutzt wurde und wird, Menschen zum Krieg aufzufordern. Aber darin wurde die Dichtung ihres innersten Kerns beraubt und für ideologische Zwecke instrumentalisiert.
Heute ist es aber auch so, dass die Sprache selbst zu einer Art Schachtfeld ideologischer Kämpfe geworden ist. Eine Bewegung der letzten Jahrzehnte ist die Sensibilisierung in der Verwendung von Sprache dahingehend, inwieweit dadurch bestimmte Gruppen ausgeschlossen oder herabgesetzt werden. Ganz besonders zeigt sich diese Sensibilisierung im Gendern und der Verwendung von Formulierungen, die sich nicht nur auf das männliche Geschlecht beziehen. Um Sinn und Unsinn des Genderns ist mittlerweile ein Kulturkampf entbrannt, in dem das Sprechen selber Trennungen schafft. Auf der einen Seite haben sensibilisierte Menschen kein Verständnis dafür, dass Konservative an alten Sprachformen festhalten wollen. Die hingegen haben das Gefühl, dass traditionell gewachsene Formen des Sprechens verlorengehen oder zerstört werden. Sie verstehen die Welt nicht mehr.
Gerade hier wäre ein sensibler Umgang mit solchen Prozessen des Wandels nötig, in dem man das Anliegen einer inklusiveren Sprache vorbringt, gleichzeitig aber auch versteht, dass eine Sprache ein gewachsenes Gebilde ist, das in sich Werte und Traditionen birgt, die für Menschen Identität stiften, die man ihnen nicht ohne Weiteres nehmen kann. Denn das Entscheidende ist ein Wandel des Bewusstseins hin zu mehr Inklusion und weniger Ausgrenzung. Wenn man jedoch nur auf die „richtige“ Sprache achtet, kann das zur neuen Regel werden, die Menschen politisch korrekt befolgen, ohne aber den eigentlich dahinter liegenden Bewusstseinswandel zu durchlaufen.
Sprache ist Ausdruck unseres Bewusstseins, aber nicht damit identisch. Wir können durch unser Sprechen auch uns selbst und andere täuschen. Deshalb wäre auch hier ein ehrliches Gespräch über die jeweiligen Anliegen und Ängste vonnöten, in dem der oder die Andere als gleichwertiges Gegenüber wahr- und ernstgenommen wird.

Heimat im Leben finden

In ihrem innersten Kern ist die Poesie eine lauschende, eine hörende Sprache, die daraus erwächst, dass ich die Welt nicht als tot und eine Ansammlung von Objekten erfahre, mit denen ich machen kann, was ich will, sondern als etwas Wesenhaftes, das mich anruft, mich anspricht. Daraus erwächst die tiefe Zugehörigkeit zur Welt. Ich finde Heimat im Leben. Es ist gut, dass ich da bin, mit allem da bin. Und lauschen und daraus sprechen kann. Das umfasst auch, dass ich den anderen Menschen anhöre, mich ansprechen lasse von dem, was den anderen bewegt. Mich vielleicht sogar von dem Sprechen eines anderen verwandeln lasse.
Das gilt nicht nur für den anderen Menschen, sondern für den großen Kreis der Wesen, mit denen wir zusammen auf dieser Erde leben. Auch mit dem Lebendigen sprechen wir, wenn auch vielleicht nicht mit Worten. Wir können darin unsere umfassende Geschwisterlichkeit im Prozess des Lebens vergegenwärtigen, in dem alle Wesen ein je eigener Ausdruck der evolutionären Entfaltung eines Kosmos sind. Wir alle sind Kinder dieses Lebensprozesses, der uns erst ermöglicht. Unser Körper wird aus den Elementen gebildet, die in Sternen geschmiedet wurden. Im Atmen und im Stoffwechsel sind wir zu-innerst mit dem Lebendigen verwoben. Unser Körper könnte nicht überleben, wären wir nicht durchdrungen von anderen Mikroorganismen, mit denen wir in Symbiose unser Sein erhalten und ständig erneuern. Es ist ein endloser, grenzenloser Dialog, aus dem die Dichterin Rose Ausländer spricht:

Endlos
der Dialog

Du und die Blume
du und der Stern
du und dein Mitmensch

Ununterbrochene
Zwiesprache
Funke an Funke

Der König in dir
der Bettler in dir

Deine Verzweiflung
deine Hoffnung

Endloser Dialog
Mit dem Leben

Es ist heute eine Überlebensfrage unserer Zivilisation, ob wir wieder lernen können, in diesen endlosen Dialog mit dem Leben einzutreten, um auf die lebendige Mitwelt zu hören und gemeinsam mit ihr Wege in die Zukunft finden, statt gegen sie zu kämpfen, in dem wir die Natur zerstören. Weil wir selbst Natur sind, zerstören wir damit auch uns selbst.
In diesem Sinne ist die Dichtung auch heilende Sprache. Weil sie die Urwunde heilt, die, so könnte man sagen, allen Krisen unserer Zeit zugrunde liegt: unsere Trennung von der Intelligenz, Fülle und schöpferischen Kraft des Lebens. Für den frühromantischen Dichter, Philosophen und Wissenschaftler Novalis ist der Poet der „transzendentale Arzt“, weil er diese Trennung heilen kann, in dem er ein verbindendes, ein lauschendes Sprechen lernt.
Aber wir alle können es lernen. Es setzt ein Bewusstsein voraus, in dem ich die Welt in all ihrer Fülle zu mir kommen lasse, mich berühren lasse, verletzlich werde, hörend. Ich kann in mir diesen offenen, freien Raum wertschätzen, in dem ich noch nicht weiß, wer oder was der oder die andere ist. Ein Nichtwissen, in dem auch Staunen und das Mysterium jedes Wesens atmet. Ein inneres Stillwerden, in dem ich das, was mir begegnet, erst einmal für mich gewahre, wahr werden lasse, wahrnehme, bevor ich antwortend spreche. Dann schöpfe ich nicht nur aus meinen Ideen, Konzepten, Vorstellungen über das, was ist, sondern bin unmittelbar verbunden mit dem, was sich mir zeigt, was sich ereignet.
In diesem Freiraum lebt eine Offenheit, in der echte Begegnung, Beziehung atmen kann. Um eine solche offene Mitte herum kann sich auch ein Gespräch formen, das den anderen nicht von meiner Sichtweise überzeugen will, in dem ich Recht haben oder Macht ausüben möchte. Ein Gespräch kann zum Dialog werden, zum Raum, in dem ich dem anderen wirklich begegne, indem ich ihn oder sie höre, und mit Bezug zu ihm oder ihr spreche.
Dann wird dieser lebendige Zwischenraum auch zum Ort, in dem sich mir und uns das Leben neu, in gebürtlicher Frische zeigen kann. In dem uns das Dasein mehr von sich selbst offenbart. Nicht als Idee, Konzept oder Abstraktion, sondern unmittelbar als lebendiges Wahrnehmen und Erkennen, das uns zutiefst verbindet, weil wir zusammen darin sind. Und weil es sich nur zeigen kann, weil wir in unserem Miteinandersein diesen Weltraum eröffnen, als Geburtsschoß weiterer und neuer Möglichkeiten des Lebendigen.

Poetisierung des Sprechens

Die Zukunft unserer Kultur wird auch davon abhängen, dass wir wieder ein Hören und Sprechen, ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen lernen, einüben und ausleben. Darin kann die Verschiedenheit, die wir als individuelle Wesen ausgebildet haben, in einem tragenden Ganzen zum Ausdruck kommen. Ohne dass es in Konflikt, Fragmentierung, Hass und Krieg auseinanderbricht. Es gibt schon Praxisformen wie Dialog oder auch partizipative Prozesse wie Bürgerräte, in denen solch ein verbundenes Bewusstsein in Anfängen gelebt wird.
Einstimmen auf eine solche Haltung in und mit der Welt, können wir uns in einer tieferen Begegnung mit der Dichtung und dem dichtenden Gewahren der Welt. Aber auch Meditation, Naturerfahrung, Dialogpraktiken, künstlerischer Ausdruck, Übungen einer intensiveren Verkörperung, bewusste Sexualität, respektvoller Gebrauch psychoaktiver Substanzen, liebevoller Dienst an der Welt sind einige der Wege, durch die wir unser Sein in diesem Sinne poetisch stimmen können.
So gestimmt, werden wir selbst zum Instrument einer Verwandlung, einer Poetisierung der Welt, wie es Novalis als letztendliches Ziel allen Dichtens ausrief. Wir werden uns unserer eigenen schöpferischen Kraft und Qualitäten bewusst und erfahren uns als Mitwirkende an der Gestaltung einer verbundenen, lauschenden, heilsamen, friedlichen, offenen Gesellschaft. Wir werden zu den Ko-Poeten und Ko-Poetinnen einer Zukunft, in der unser Zusammenleben Ausdruck unserer tiefsten gemeinsamen Menschlichkeit wird. In jedem von uns, in dem diese Sehnsucht erwacht, und in jeder Begegnung, in der sie Ausdruck findet und wirksam wird, ist diese Zukunft schon Gegenwart. Eine Zukunft, die Novalis so beschreibt: „Die Poesie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen […], die Poesie bildet die schöne Gesellschaft – Weltfamilie – die schöne Haushaltung des Universums. […] Das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum. Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft.“