Weihnachten ist das Fest der Liebe. Es findet heute statt zu einer Zeit, in der unsere Gesellschaft so gespalten zu sein scheint, wie schon lange nicht. Was bedeutet Liebe in solchen Zeiten? Was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Liebe“ sprechen? Wie kann uns ein Besinnen auf diese existenzielle menschliche Urerfahrung heute stärken, trösten und Hoffnung geben?
Es klang damals wohl so radikal wie heute: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Manche übersetzen es radikaler mit „Liebe deinen Nächsten als dich selbst.“ Mit diesem Ausspruch und einem Leben, das ihn verwirklichen wollte, prägte sich der Mann namens Jesus für immer in die Geschichte der Menschheit ein. Jedes Jahr feiern wir „seine“ Geburt. Die Geburt des Lichtes der Liebe in der Dunkelheit. Im dunkelsten Punkt des Jahres wird zur Wintersonnenwende das Licht geboren. Ein Geheimnis, das den Menschen, seit er sich dem Kosmos staunend ausgesetzt sah, faszinierte. Und Hoffnung gab.
Was kann die Hoffnung sein in der heutigen Zeit? Die Corona-Pandemie hat uns den Wert der Solidarität und des Zusammenhalts gezeigt – und dessen Grenzen aufgezeigt.
Zusammenhalt fällt auseinander
Vor Monaten nahm ein Virus seinen Weg in den Menschheitskörper und vermehrt sich darin. Wir spürten, dass wir als Menschen buchstäblich verbunden, ein Körper sind. Dass wir auch Teil eines größeren Lebendigen sind, aus dem der Virus zu uns „übersprang“. Diese Erfahrung, dass wir alle verletzlich sind und den Virus einander übertragen können, ließ uns zunächst zusammenhalten. Liebe wurde zu einer Notwendigkeit.
Doch je länger diese Krise dauert, desto mehr scheint dieser Zusammenhalt, diese Solidarität – und damit die Liebe – auseinanderzufallen.
Wie so oft in unserer Geschichte zeigte sich, dass wir den ewigen Satz des Jesus so umformuliert haben: “Liebe dich selbst und deine Nächsten.“ Mehr und mehr hat uns diese Zeit bloßgestellt und gezeigt, wie sehr der Individualismus unserer Kultur uns geschadet hat, vor allem dann, wenn er sich von Gemeinwohl und Fürsorge für andere abkoppelt. Natürlich ist diese Individualisierung mit Freiheit und Selbstbestimmung eine riesige menschliche Errungenschaft. Darauf beruht unsere Demokratie, unsere aufgeklärte Gesellschaft, die Menschenrechte. Aber auch unsere Wirtschaft. Eine Wirtschaft, die uns allerdings, unterstützt durch eine neoliberale Politik, zu Konsumentinnen degradiert hat. Ein guter Konsument denkt zunächst an sich selbst: „Me first“ – „Ich zuerst“ – ist denn auch das Motto unserer Zivilisation geworden. Auch Weihnachten wurde im Bann des Konsumismus verstellt und entstellt.
Diese Haltung des „Ich zuerst“ verfolgen wir häufig auch als Gesellschaft, wenn wir uns daran gewöhnen, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder in Lagern menschenunwürdig leben oder wenn unsere profitabel exportierten Waffen Menschen töten. Oder wenn wir nicht wirksam auf den Klimawandel reagieren wollen, weil es unsere Wirtschaftskraft und Bequemlichkeit gefährdet.
Nachdem Wirtschaft und Politik jahrzehntelang eine Agenda des ich-fokussierten Konsumenten unterstützt hat, wundern wir uns nun, dass in dieser Krisensituation manche auf ihre Freiheit pochen und nicht bereit sind, sich selbst für das Gemeinwohl etwas zurückzunehmen.
In einer „Zeit“-Kolumne rief Mely Kiyak verzweifelt: „Wir sind mitten in einer Pandemie. Der Tod hat unter uns Platz genommen. Menschen sterben einsam und isoliert, aber jeder stiefelt mit seinen privaten Scheißangelegenheiten durch die Öffentlichkeit. Einer will unbedingt tanzen. Einer will unbedingt unmaskiert einkaufen. Und wieder ein anderer trägt ein Hakenkreuz durch die Innenstadt.
Man kann sich keinen anderen Reim mehr auf die Sache machen als diesen. Lieblosigkeit ist das. Das sind wir. Eine lieblose Gesellschaft von Wichtigtuern und Schwätzern. … Kann es sein, dass wir uns alle nicht mehr mögen? Und dass wir eine der ältesten Menschheitsweisheiten vergessen haben? Der Hass braucht nur eine Sekunde, um den Weg ins Herz zu finden, aber er braucht Generationen, um diesen Ort wieder zu verlassen.“
Ja, mögen wir uns alle nicht mehr? Warum wollen wir ohne Schutz und Abstand demonstrieren, wenn täglich hunderte Menschen durch die Folgen eines Virus sterben? Auf solchen Demos werden dann Herzluftballons herumgetragen, Lieder über die Kraft der Liebe gesungen und eine liebevolle Haltung praktiziert, die alle umarmen will, egal ob Neo-Nazi oder medialer Fake-News-Generator. Auf der anderen Seite haben wir oft für die Menschen, die aus Sorgen, Verunsicherung und unbeantworteten Fragen auf die Straße gehen, oder die aus vielerlei Bedenken die Corona-Maßnahmen kritisieren, haben wir aber wiederum oft auch nur Verachtung und Häme übrig.
Grenzen der Liebe
Ja, was ist eigentlich los mit uns? Und was kann Liebe sein und bewirken, zu dieser Zeit? Ja, was ist Liebe eigentlich?
Wir alle, auf welcher Seite wir auch stehen mögen, wissen, was Liebe ist. Wir haben sie alle erfahren, mit einem geliebten Menschen, mit Kindern, mit unserer Familie, mit Freunden, mit Tieren, mit Orten dieser Welt, mit Ideen sogar, vielleicht mit unserem Land oder einem Gott. Wir alle wissen, was Liebe ist. Im Innern dieses Gefühls, das mehr ist als ein Gefühl, wollen wir die Welt umarmen, spüren eine allem zugrundeliegende Verbundenheit, ein Wohlwollen, Freude und Dankbarkeit. Und es ist die Tragik unseres Menschseins, dass wir dieses grenzensprengende Gefühl in Grenzen zwängen. Dann lieben wir eben nur noch uns selbst und was wir dazuzählen: unsere Familie oder unser Land oder die Angehörigen unserer Filterblase, die mit der gleichen Meinung.
Und wie gesagt, um Konsumenten und leicht regierbare Bürger zu sein, ist das auch ganz praktisch. Weil die grenzensprengende Liebe so revolutionär ist, hatte es Jesus nicht leicht mit seiner Botschaft. Auch nach tausenden von Jahren stehen wir heute im Grunde immer noch dort, wo er seine alles erschütternde Botschaft verkündet. Das radikalste darin vielleicht die Feindesliebe. Liebe im Menschlichen wird erst dann seiner Natur gerecht, wenn ich auch die lieben kann, die anderer Meinung sind, die vielleicht sogar gegen mich sind, eben „die anderen“: „Liebe deinen Fernsten wie dich selbst.“
Hier berühren sich alle Weisheitstraditionen in ihrem Ruf nach einer Liebe, die im Menschlichen und Mehr-als-Menschlichen die Grenzen sprengt: Nicht nur ich und mein „Stamm“ (meine Religion, meine Weltanschauung/meine Facebookgruppe) gehören in den Raum dieser Liebe, sondern alle Menschen und darüber hinaus alle fühlenden Wesen.
Solch eine Liebe kennt keine Feindbilder, wie immer sie auch lauten mögen: „die Regierung“, „die Medien“, „die Eliten“, „Bill Gates“ aber auch „die Querdenker“, „die Verschwörungstheoretiker“.
Liebe ist aber nicht blind: sie kann verstehen und Verständnis zeigen, ohne in Beliebigkeit zu verflachen. Liebe hat eine tiefe Weisheit in sich, einen ethischen Kompass, der in jeder Situation fragt und spürt: Wie viel des Menschseins kann die Situation, dieser Mensch, dieses Gespräch, diese politische oder ideologische Überzeugung in sich tragen? Wie viel des Menschseins und des Kosmos hat darin Raum? Liebe weitet sich: von der Liebe zu mir und den meinen bis hin zur universellen Liebe, die alle Menschen in sich aufnehmen kann und auch die Erde, zu der wir gehören. Damit diese Liebe in die Welt kommt, braucht es Menschen, die sie leben. Und das ist nicht einfach. Ein lebenslanger Weg, der uns aber zum tiefsten Mysterium unseres Hierseins führen kann. Und wenn man Menschen am Ende ihres Lebens fragt, was das Wichtigste war, dann sind es eben die Momente der geschenkten und erhaltenen Liebe. Nichts anderes zählt dann mehr.
Ein globaler Blick
Vielleicht können wir damit beginnen, einen liebenden Blick einzuüben. Dazu gehört für mich, die menschlichen Schicksale zu sehen und nicht nur die Meinungen, Kommentare und Zahlen. Vielleicht sollten wir mehr über konkrete Erlebnisse erzählen. Unsere eigenen und die der anderen. In jeder Richtung sprechen wir nicht über Zahlen, sondern über Schicksale. Und über Liebe.
Manchmal hilft es auch, den Blick global zu weiten. Wenn das Feindbild der „Eliten“ bemüht wird, denke ich oft daran, dass jeder von uns global zur Elite gehört, einfach dadurch, dass wir in einem der reichsten Länder leben. Dabei können wir so viel den Menschen dieser Welt lernen. Einen lebendigen Eindruck davon hatte ich kürzlich bei dem 24-stündigen globalen Ritual „One World Bearing Witness“. Das Thema dieses Events mit Impulsdialogen, Ritualen und Meditation war unsere Zugehörigkeit zu Erde. Aktivisten und Weisheitshüterinnen aus Indien, den Philippinen, Guatemala, Estland, den indigenen Traditionen Nordamerikas und vielen anderen Orten machten in Vorträgen, Meditationen und Ritualen aus verschiedenen Erfahrungshintergründen die Liebe zur Erde spürbar. Und damit auch die Liebe unter uns Menschen, egal, woher wir kommen. Gemeinsam bezeugten wir unsere Sorge um die Erde, die Dankbarkeit über dieses Leben, die Freude der menschlichen Verbundenheit und die Vision einer liebevollen Menschheit.
Liebe ist politisch
Einander in Liebe zu begegnen, ist nicht nur eine psychologische oder spirituelle Aufgabe, sondern auch eine ökologische, politische und demokratische. Die Demokratie ist der Versuch, Liebe zu leben. Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, diese Grundwerte der Aufklärung leben aus der Liebe und dem Wunsch, mehr Menschen, ja, allen Menschen ein würdiges und würdevolles Leben zu ermöglichen. Deshalb ist es auch eine Notwendigkeit dieser Zeit, dass wir die Liebe wieder in unsere Demokratie bringen. Auch wenn sich das romantisch anhören mag, eine Haltung, die die Bürger als Konsumenten und Vier-Jahres-Wähler herabsetzte, hat auch zu der Zersplitterung und Spaltung geführt, die uns jetzt „um die Ohren fliegt“. Wir brauchen mehr Partizipation, Mitbestimmung, Räume des Dialogs, des Gespräches, Bürgerräte, Wirtschafts- und Geldkonvente, Gemeinwohl-Initiativen, Gemeinschaftsprojekte, globale Solidarität und vieles mehr, was zu Verstehen, Verständigung und Verbundenheit führt – wozu auch konstruktives Streiten und respektvolle Konfrontation gehören kann. Wir brauchen diese Verbundenheit zwischen den Menschen, aber auch mit der Erde. Denn heute wird es überlebenswichtig sein, unsere Liebe auch auf die Mehr-als-Menschliche Welt alles Lebendigen auszudehnen.
In diesem Sinne ist dieses Weihnachten vielleicht auch in neuer Weise eine Zeit der Hoffnung, dass in diesem Dunkel der Krise das Licht einer liebevolleren Gesellschaft geboren wird. Und ein Moment der Besinnung für jeden von uns: Wie viel Liebe bringe ich in die Welt? Wie weit ist der Raum meines Herzens? Und vielleicht auch eine Gelegenheit, damit anzufangen. Das kann so einfach sein, wie der Anruf bei jemandem, mit dem ich mich wegen unterschiedlicher Meinungen zur Corona-Situation zerstritten habe.
Bei unserem globalen Ritual berührten mich und viele andere besonders die Worte von Grandmother Flordemayo, einer Weisheitshüterin der indigenen Traditionen Süd- und Nordamerikas. Sie berichtete uns über eine Vision, in der ihr ein goldenes Baby erschienen sei, das für sie die Geburt einer neuen Menschheit symbolisierte. Und sie empfing ein Mantra, das sie mit uns teilte: „Du bist Liebe. Es gibt nichts als die Liebe. Liebe ist alles, was ist.“ Und sie fügte hinzu: „Wenn wir dieses Mantra in unseren Herzen halten, dann werden wir einen Weg durch diese schwierigen Zeiten finden. Und niemand wird zurückgelassen. Darin sind wir alle zusammen.“ Für mich eine Botschaft, der wir an Weihnachten etwas Raum geben können. Trotz allem.
Diese Text erschien zuerst auf dem Portal Ethik heute.