Neu erschienen evolve 47: Interbeing – Die Emergenz eines neuen Bewusstseins
Interbeing
Die Emergenz eines neuen Bewusstseins
Wir leben in einer Vielzahl von Krisen, deren Ursachen man im Grunde auf eine Haltung der Getrenntheit von uns selbst, von anderen Menschen und Wesen und der Welt zurückführen kann.Aber, wie Hölderlin dichtete: »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Heute zeigt sich inmitten von Fragmentierung und Polarisierung eine Sehnsucht nach Verbundenheit und Ganzheit. Es ist die Ahnung eines neuen Bewusstseins, das der Erfahrung und Wahrnehmung in und zwischen Menschen – und darüber hinaus – zugänglich wird. Wir bezeichnen es als Interbeing und verstehen uns als Teil einer Bewegung von Menschen und Gruppen, die zu erforschen beginnen, was die Qualitäten dieses neuen Bewusstseins sein könnten und wie wirsie gemeinsam leben können.
EDITORIAL
von Mike Kauschke, Redaktionsleiter evolve
Dies ist eine besondere Ausgabe von evolve. Man könnte sagen, wir machen ein Bewusstsein sichtbar, das uns seit Beginn der Zeitschrift begleitet, das uns Inspirationen gibt, um die verschiedenen Themen miteinander zu bewegen.. Es inspiriert den Prozess der dialogischen Praxis, die wir in Seminaren und Trainings üben, vertiefen und vermitteln. Es gibt uns einen Impuls für die vielen Gespräche mit Vordenkerinnen und Aktivisten, Künstlerinnen und Bewusstseinsforschern, die auf den Seiten unseres Magazins und bei unseren Veranstaltungen zu Wort kommen.
Dieser Kern, diese Mitte, das Herz unserer Arbeit bezeichnen wir als Interbeing. Dieses Wort, das von dem kürzlich verstorbenen buddhistischen Lehrer Thich Nhat Hanh geprägt wurde, bezieht sich auf eine Erfahrung, die in vielen Weisheitstraditionen lebendig ist: Als Menschen sind wir nicht getrennt von der Welt und ihren Wesen, sondern zutiefst darin verwoben.
Mit der Praxis des Emergent Dialogue ist es uns ein Anliegen, diese zeitlose Wahrheit für die Gegenwart neu zu erschließen, als eine Perspektive und Praxis, in der im Zwischenraum der Verbundenheit sich eine Weisheit und Seinsweise zeigen kann, die über uns als Einzelne hinausgeht. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Dieses »Mehr« erforschen wir und darin liegt, so unsere Überzeugung, ein kreativer Möglichkeitsraum des Erkennens und der Transformation, die unser Menschsein von Grund auf verändern kann – und darin eine Antwort auf die vielen Krisen unserer Zeit ist, die alle in gewisser Weise die gleiche Wurzel haben: unsere Getrenntheit oder Entfremdung vom Lebendigen, voneinander, von uns selbst, von der Ganzheit des Lebens.
Seit Langem arbeiten evolve-Herausgeber Thomas Steininger und evolve-Redakteurin Elizabeth Debold, die den Emergent Dialogue begründet haben, daran, die philosophischen und praktischen Grundlagen dieser spirituellen Perspektive und Praxisform zu formulieren. Wir haben deshalb diese Ausgabe genutzt, um Texte zu gestalten, welche die unterschiedlichen Aspekte dieser Interbeing-Arbeit ansprechen. Diese Texte sind Teil von Buchprojekten, an denen Thomas und Elizabeth gerade arbeiten, die aber wegen der Anforderungen einer jeden evolve-Produktion bisher nicht zur Vollendung gekommen sind. Aufgrund von Thomas‘ schwerer Erkrankung, die in evolve auch zur Sprache gekommen ist, hat dies für uns eine besondere Dringlichkeit. Wir planen die Impulse dieser Ausgabe in zwei Büchern weitaus ausführlicher zu behandeln: Elizabeth und Thomas in einem Buch, das sich der Praxis widmet, und Thomas in der Zusammenarbeit mit evolve-Redaktionsleiter Mike Kauschke in einem Buch, das die philosophischen Grundlagen des Emergent Dialoge vertieft. Ein Buch, in dem Thomas die Impulse Martin Heideggers in der Interbeing-Arbeit erforscht, ist vor Kurzem schon im Info3-Verlag erschienen.
In dieser Ausgabe haben wir nun Texte versammelt, die verschiedene Aspekte von Interbeing und der Praxis des Emergent Dialogue, der das Bewusstsein des Interbeing zugänglich macht, ansprechen. In der Einführung »Das Geschenk des Interbeing« gehen wir der Herkunft, Bedeutung und Relevanz des Begriffes Interbeing und des Bewusstseins, das damit angesprochen wird, nach. Und wir erforschen, wie wir ihn heute neu verstehen und anwenden können. Der Text »Eine Krise der Getrenntheit« gibt einen historischen Kontext für die Emergenz von Interbeing in unserer Zeit der Spätmoderne. Ein Kern unseres Verständnisses von Interbeing ist »die Integration von Ich-Kraft und Ganzheit«, die in dem Wort »Transindividuation« benannt wird. Diese Integration unserer Einzigartigkeit in den Zusammenhang eines umfassenden Ganzen kann die Grundlage einer »integralen Bewusstseinskultur« sein.
Wie wir in einer solchen Bewusstseinskultur zu »Mitwirkenden der Emergenz« werden, erforscht ein weiterer Text, der sich der Metapher der Metamorphose des Schmetterlings bedient. Darin sind wir die »ungeformte Masse« zwischen einer Welt, die gerade vergeht, und einer neuen, die geboren werden will. Diese Bewusstseinskultur bezeichnet Thomas Steininger in Anlehnung an Martin Heidegger auch als Ereigniskultur. In den Texten »Lauschen auf das, was entstehen will« und »Im Kraftfeld des Gevierts« führt er die Bedeutung einer Ereignis-Spiritualität weiter aus.
Wenn sich die verschiedenen Perspektiven unserer Einzigartigkeit und unseres Andersseins in einem Interbeing-Feld begegnen, wird eine »synergetische Intelligenz« zugänglich. Die »Sinnfelder«, in denen wir leben, können sich begegnen und darin zur Emergenz neuer Erkenntnisse und Wahrnehmungen führen, die uns neue Seinsweisen ermöglichen. Das hat auch eine Relevanz für unsere offene Gesellschaft, die davon abhängt, dass sich Verschiedenheit in einem Ganzen findet. Deshalb ist für Thomas Steininger der Emergent Dialogue »eine spirituelle Praxis für die offene Gesellschaft«.
Wir hoffen, dass Sie diese Texte als eine Anregung und Inspiration lesen werden, um sich selbst in die Erforschung der Bewusstseinsqualitäten zu begeben, die aus dem Interbeing zugänglich werden. Wir verstehen diese Ausgabe als einen Gesprächsimpuls, einen Anstoß zum Dialog. So wie es jede Ausgabe von evolve ist. Wir haben hier unsere eigenen Begriffe und Formulierungen gefunden, die als Einladung gemeint sind, gemeinsam weiter zu vertiefen, was eine angemessene Antwort auf die Bewusstseinskrise unserer Zeit sein kann.
Die Verbundenheit des Lebens auf allen Ebenen ist eine Beschreibung der Wirklichkeit des Interbeing. In der Kunst der südkoreanischen Künstlerin Minjung Kim kommt dieses Verwobensein wunderbar zum Ausdruck. Ihre Arbeit mit dem fragilen Papier, ihre Praxis des Brennens von Papier, die Neuverbindung geschnittener Formen, bietet poetische Bilder für die Prozesse der Transformation, die mit dem Interbeing angesprochen sind. Deshalb freuen wir uns sehr, dass wir diese Ausgabe mit ihren Bildern gestalten konnten.
Neben der Arbeit an den Büchern und dieser Ausgabe sind wir weiterhin dabei, einen Online-Praxisraum für Interbeing zu gestalten: Das Interbeing Monastery. Es wird verschiedene Praxisformen wie Meditation, Emergent Dialogue, Interbeing Tea Dialogues, Lectio Divina und andere anbieten. Unser Anliegen ist eine Insel der spirituellen Resilienz, einen geistigen Zufluchtsort, einen Begegnungsraum, ein Dialogforum, eine Praxisgemeinschaft zu bilden, die uns stärkt und zur Mitgestaltung unserer Gesellschaft aus der Weisheit des Interbeing anregt.
Nun aber sind wir sehr gespannt, wie diese besondere Ausgabe bei Ihnen Resonanz findet und freuen uns auf Ihre Antworten, Ihr Weiterbewegen, Ihre Dialoge – in welcher Form auch immer.
Herzlichst
Mike Kauschke
Herzlichst
Mike Kauschke
Redaktionsleiter