Über die Verbindung von Poesie und Aktivismus
Ein Interview von Luka Kersting
Wie ist das Poetische zu verstehen, wenn es mehr ist als der dichterische Ausdruck in der Lyrik? Was hat dieses Verständnis von Poesie vielleicht auch mit Aktivismus zu tun? Mike Kauschke zeigt auf, dass wir uns im Leben und im Miteinander unserer tieferen Verbundenheit oft nicht bewusst sind und in einer konditionierten Trennung von der Welt leben, die er als Ursprung unserer multiplen Krisen sieht. Für ihn besteht eine Antwort auf unsere Krisen darin, diese Trennung zu verlernen und uns wieder auf ein lebendiges Gespräch miteinander, aber auch mit der Welt als solcher, aus der wir heraus leben und die wir auch selbst sind, einzulassen – und aus dieser Quelle bewusst zu handeln.
Luka Kersting: Guten Tag, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Interview genommen haben. Wie ist für Sie die Verbindung des Poetischen mit dem Aktivismus?
Mike Kauschke: Das ist natürlich eine große Frage, aber für mich ist das Poetische sehr stark verbunden mit einer tieferen Verbundenheit mit dem Leben, mit dem Lebendigen der Natur, miteinander als Menschen, mit der Welt. Poesie entsteht aus einem Berührt-werden von dem, was uns als Welt begegnet. Poesie ist ein Gespräch mit der Welt, mit dem Leben. So wird überhaupt erfahrbar, was das Leben in seiner Tiefe ist oder sein kann. Wir sind nicht nur getrennte Individuen, die mit Dingen oder Wesen, seien es andere Menschen, Tiere oder Pflanzen, als Objekte oder Gegenstände umgehen, die wir benutzen können oder von denen wir etwas bekommen, was uns gefällt oder gut tut. In einer echten Berührung zeigt sich die Tiefe des Lebens, wenn wir spüren können, dass wir anderen Wesen begegnen.
Wie ich es selbst erfahre aber auch bei anderen Menschen und natürlich bei Dichtenden sehe, intensiviert das Poetische das Spüren der Welt und damit auch das Spüren dessen, was vielleicht leidvoll ist. Ich spüre Schmerz, weil anderen Wesen Schmerz zugefügt wird. Es ist ein Gespür für Ungerechtigkeit, für Dinge, die nicht so sind, wie sie sein könnten. Hier liegt eine direkte Verbindung zum Aktivismus. Auch Aktivismus größer verstanden, nicht unbedingt allein als explizit aktivistisches Handeln im Sinne von Klima-Aktivismus, was natürlich auch möglich ist. Gleichzeitig können wir auch ganz klein angefangen.
In meinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Welt“ spreche ich die verschiedenen Qualitäten des Poetischen an und eine Qualität ist Verantwortlichkeit. Es ist ein Antworten auf diese Erfahrung des Spürens: Wie antworte ich als Mensch darauf. Das fängt ganz klein an, bei dem was ich alltäglich tue, wie ich mit Menschen, mit Tieren, mit Pflanzen bin, was ich kaufe, wie ich arbeite, was ich mit meinem Geld mache. Das ist ja alles schon Aktivismus, weil es ein Handeln ist. Und dann kann ich mir natürlich die Frage stellen: Möchte ich mich für eine bestimmte Sache einsetzen, um in einem bestimmten Bereich besonders Antwort zu geben? So erfahre ich diese Verbindung.
Erfahrungsorientierung in der Dialogarbeit
LK: Sie erachten es als sehr wichtig, dass das Verstehen nicht nur rational bleibt, sondern auch verkörpert wird. Die Erfahrungsorientierung ist in der Dialogarbeit ja auch sehr präsent. Wie ist Ihre Erfahrung in diesen Dialogfeldern und was ist für Sie darin essenziell?
MK: Es gibt eine sehr starke Verbindung des Dialogischen mit der Poesie, die ich in den Dialogräumen, wie wir sie mit evolve oder den Emergent Dialogues anbieten. Wie schon gesagt, für mich hat das Poetische sehr viel damit zu tun, im Gespräch mit der Welt zu sein – mein neues Buch heißt auch „Im Gespräch mit der lebendigen Welt“. Es ist eine Grundhaltung des Poetischen, sich in einem Gespräch zu empfinden. In der Dichtung wird das Medium der Sprache genutzt. Ein Gedicht entsteht als Resonanz auf die Welt. Wenn man es liest, entsteht eine Resonanz im Lesenden und somit ein Gespräch. Gedichte zu lesen erlebe ich wie ein Gespräch, weil man mit dem Dichter in eine Beziehung geht. Im Gedicht drückt sich die Berührtheit eines Menschen aus, die mich dann berührt und mit der ich ins Gespräch gehe. Ein Gedicht ist nie vollständig, in sich abgeschlossen, sondern immer eine Einladung, weiter in den Dialog zu gehen. Das ist ja das Schöne an Gedichten, dass man nicht das Gefühl hat: jetzt weiß ich, um was es geht, und kann es abhaken. Vielmehr gibt es eine Resonanz und man denkt es selbst weiter. Oder eine Dichterin findet Worte für etwas, was man auch schon empfunden hat, aber noch nicht so richtig in Worte bringen konnte. Das sind Erfahrungen, die wahrscheinlich viele Menschen kennen, wenn sie Gedichte lesen.
Dialogräume als Erfahrungsräume bringen diese Erfahrungen, im Gespräch zu sein, ins Zwischenmenschliche. Gute Gespräche sind inspirierend, wenn man wirklich das Gefühl hat, da ist jemand, der hört mir zu, ich werde gesehen, da ist eine Offenheit und man kann zusammen die Erfahrungen des Lebens miteinander teilen und erforschen. Kann sich selber ausdrücken, den anderen hören und dadurch bereichert werden. Im besten Fall oder im schöpferischsten Moment können wir aus diesem Gespräch etwas Neues entdecken, über uns selbst, über das Leben, über den Anderen, über die Welt.
Die Dialogpraxis der Emergent Dialogues haben das Anliegen, diesen Zwischenraum des Gesprächs zunächst ins Bewusstsein zu bringen. Wenn wir im Gespräch sind, wie auch jetzt, sind wir nicht nur als Einzelne in einem Raum, oder jetzt auf verschiedenen Bildschirmen an verschiedenen Orten, sondern im Gespräch bildet sich auch ein Zwischenraum. Er bildet sich daraus, wie wir zuhören, wie wir einander hören, was wir spüren und welche Resonanzen entstehen. In einer Gruppe von Menschen ist es natürlich noch intensiver.
Unsere Dialogarbeit möchte diesen Zwischenraum zugänglich machen. Überhaupt erstmal wahrnehmen, dass der da ist. Und dann auch wahrnehmen, was sich darin zeigt als Lebendigkeit oder Intelligenz. Diese Wahrnehmung ist nicht allein mental zugänglich ist, sondern es ist eine verkörperte Erfahrung. Ich erlebe es wie eine Ganzheitserfahrung, in der die Fähigkeiten, die wir als Menschen haben, wie Denken, Fühlen, Intuition, Inspirationsfähigkeit und die verkörperte Präsenz in eine Einheit oder Ganzheit finden. Dadurch wird die eigene Wahrnehmung differenzierter, vielschichtiger und ganzheitlicher.
Ähnlich geht es mir, wenn ich Gedichte schreibe oder lese. Dann ist das auch ein Hören mit dem ganzen Wesen. Nicht nur im Kopf, sondern auch im Fühlen, in der Intuition und im Körperlichen. Diese Erfahrung, im Gespräch zu sein, spricht uns ganzheitlicher an, lässt uns in dieser Ganzheit da sein. Das ist für mich das Erfüllende und immer wieder Inspirierende an Erfahrungen in solchen Gesprächsräumen oder auch in poetischen Momenten.
Der Zwischenraum
LK: Diesen Zwischenraum, diesen offenen Raum, den Sie als Inspiration oder Intuition beschrieben haben, wo das Leben auch von selbst sprechen kann und man sich nicht immer selbst Gedanken macht, sondern das Leben sich Gedanken macht und wir das Spüren in Worte fassen können, finde ich spannend. Hat das auch mit dem Poetischen zu tun? Können Sie nochmal näher auf das Poetische eingehen?
MK: Für mich ist das Poetische ja sehr weit gefasst. Ich sehe es nicht nur als Ausdruck in der Lyrik, sondern als eine bestimmte Weise in der Welt zu sein. Hier ist dieser Zwischenraum sehr entscheidend für mich, weil es ein unentdecktes Land ist. Dichtende und das Poetische sind in diesem Raum unterwegs und erforschen ihn.
Es ist die Erfahrung, dass es nicht nur uns als Menschen gibt, die die Welt da draußen wahrnehmen, in der es Objekte gibt, mit denen ich etwas machen. Das ist die Trennung von Subjekt und Objekt, in der wir leben. Das Poetische ist der Vollzug, diese Trennung zu überwinden oder zu vergegenwärtigen, dass sie eigentlich nicht besteht oder dass sie konditioniert ist. Eigentlich sind wir immer mit der Welt verbunden, was man auch als Zwischenraum fassen kann, eine schwingende Beziehung zwischen uns und der Welt, den Dingen, den Wesen, anderen Menschen.
Ich empfinde das Poetische wie ein Forschen in diesem Zwischenraum der Beziehung, der Verbundenheit. Hartmut Rosa hat dafür den Begriff der Resonanz geprägt und erklärt, dass eine erfüllende Beziehung mit der Welt in der Resonanz möglich wird, im verbundenen Mitschwingen, im Mitsein, in dem ich angesprochen werde, antworten kann. Wo ich nicht das Gefühl habe, die Welt ist fremd und ich bin hier zufällig unterwegs, ohne Sinn. Vielmehr ist es die Erfahrung, dass uns die Wirklichkeit meint, anspricht, antwortet. Hier ist ein ganz anderes Verständnis von Leben, von Wirklichkeit angesprochen, die über ein naturalistisches, materialistisches Denken hinausgeht und die Welt als etwas wahrnimmt, was uns anspricht und mit der wir verbunden sind, mit der wir im Grunde eins sind, aus der wir entstehen, aus der wir leben, in der wir leben.
Diese Erfahrung wird auch in vielen Weisheitstraditionen angesprochen, sei es in der christlichen Mystik, im Buddhismus oder in der Sufi-Spiritualität: Es gibt eine tiefere Verbundenheit mit dem Leben. Im Dialogischen zeigt sich das noch einmal besonders. In den Emergent Dialogues nennen wir das auch „ Interbeing, ein Begriff, der von dem buddhistischen Lehrer Thích Nhất Hạnh geprägt wurde und auf eine Wahrheit hinweist, die im Buddhismus gelehrt wird: Alles in der Welt ist miteinander verbunden.
Interbeing ist eine Form, um diesen Zwischenraum anzusprechen, der sich auch zeigen kann, wenn man in einem dialogischen Prozess ist. Die Mitte oder der Raum, der zwischen Menschen entstehen kann, der mehr ist als die Summe der Teile. Das ist nicht nur „ich und du“ oder „ich und die anderen Anwesenden“ und wir legen zusammen, was wir wissen und denken. Vielmehr ist es die Erfahrung, die Sie angesprochen haben: da denkt etwas mit. Was ist das? Das ist ein Geheimnis. Es legt nahe, dass das Leben selbst über eine Intelligenz verfügt oder uns, wenn wir zusammen sind, eine Intelligenz erschließt. Sie entsteht aus dem menschlichen Miteinander, umfasst aber noch etwas mehr. Aus diesem Miteinandersein wird eine Intelligenz spürbar und erfahrbar, die dazu führt, dass man plötzlich Einsichten oder Gedanken hat und Erfahrungen macht, die so wirken, als würden sie schöpferisch in diesem Moment entstehen. Das ist eine besondere Erfahrung, die man schwer in Worte fassen kann.
Es ist ein Wissen, das über das eigene Wissen oder das Wissen, das man miteinander als ich und du oder als verschiedene Menschen haben kann, hinausgeht. In solchen Räumen gibt es eine Form von Wissen, das aus diesem gemeinsamen Feld aufsteigt. In der Praxis des Emergent Interbeing erfahre ich, dass aus diesem gemeinsamen Raum der Verbundenheit und schöpferischen Energie sich etwas vom Leben zeigt, was uns berührt und den Horizont öffnet auf das, was Leben sein kann und wie wir mit dem Leben lebensgemäßer oder lebensdienlicher umgehen können.
Hier liegt auch eine Verbindung zum Aktivismus, denn solche Erfahrungen können unser Sein in der Welt verändern. Wir erfahren tiefere Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen, wie die Verbundenheit, die dann auch unser Handeln verändert.
Stiller Aufstand
LK: Vielen Dank, dass Sie das ansprechen!
Sie schreiben, dass in Form des stillen Aufstands versucht wird, im Ansprechen von Verletzlichkeit oder in einer dichterischen Auseinandersetzung mit Geschehnissen auf der Welt nochmal eine ganz andere Bezug-Setzung oder Verbundenheit zwischen Menschen entsteht. Können Sie nochmal näher auf den Begriff eingehen?
MK: Der stille Aufstand ist ein Begriff von Claus Eurich, Kommunikationswissenschaftler und emeritierter Professor für Ethik. Er setzt sich mit ethischen Fragen auseinander und hat diesen Begriff gefunden, um einen inneren Aufstand anzusprechen, der sich nicht darin zeigt, dass man lautstark protestiert oder Demos organisiert, was natürlich auch eine wichtige Form des Aktivismus ist. Ein stiller Aufstand geht mehr in die Richtung, die ich am Anfang angesprochen habe: Wie bin ich eigentlich in der Welt? Wie lebe ich mein Leben, wenn ich die Erfahrung von Verbundenheit ernst nehme? Wie konsumiere ich, wie gehe ich mit meinem Geld um, wie gehe ich mit meiner Zeit um, wie gebe ich meine Arbeitskraft oder wie reise ich? Ich fange bei mir selbst an und verbinde mich mit anderen Menschen, die sich ähnliche Fragen stellen.
In meinem Buch spreche ich auch von einem poetischen Aktivismus. Denn im Poetischen zeigt sich Aktivismus in einer besonderen Form. Es bezieht sich auf Subjekt-Objekt-Trennung, also dass wir uns als Menschen getrennt von der Welt erleben. Ein Symptom davon ist Burnout oder Ausbrennen. Denn wenn ich versuche etwas zu bewegen in der Welt, sei es in der Arbeit oder im Aktivismus, dabei aber in dieser Trennung bleibe, dann erschöpft es mich. Es ist eine Frage an das aktivistische Handeln, ob Aktivismus, wenn er in dieser Trennung von der Welt bleibt, nicht die Probleme, die er zu lösen versucht, eigentlich verstärkt.
Bayo Akomolafe spricht von einem Postaktivismus und fragt: Wie kann man einen Aktivismus, der aus der Denkweise der Trennung lebt, die in der Moderne mit Ausbeutung und kolonialen Machtstrukturen einhergeht, transzendieren? Das heißt noch nicht einmal, dass man etwas anderes tut. Es kommt auf die innere Haltung an, mit der ich handle: Bin ich in dem, was ich aktivistisch tue, was immer das auch ist, schon Ausdruck eines anderen Bewusstseins oder eines anderen Umgangs mit der Welt? Dahinter steht natürlich die Annahme, dass die Veränderung eher im Bewusstsein sattfinden muss, statt allein in technischen oder regulativen Lösungen, so gut diese sein mögen. Den Kohlendioxidausstoß zu begrenzen, ist wichtig, aber gleichzeitig ist damit nicht die Wurzel des Problems angesprochen. Die liegt in dieser Getrenntheit von der lebendigen Welt.
Das Poetische würde da hinein sagen: Solange wir nicht in die Beziehung, in das Gespräch, in den Zwischenraum, in die Resonanz mit der Welt eintreten, werden wir das Problem immer wieder auf anderen Ebenen neu kreieren. Deshalb umfasst ein poetischer Impuls zum Aktivismus natürlich das Handeln und gleichzeitig sind wir eingeladen, immer wieder einen Schritt zurückzugehen und zu fragen: Woraus handele ich eigentlich oder woraus handeln wir jetzt. Bayo Akomolafe hat einen schönen Satz geprägt: „Die Zeiten sind dringlich, wir müssen langsamer werden.“ Neben Angst und Wut und noch mehr Tun – was auch eine gesunde Antwort sein kann –, ist es wichtig, den Raum des Innerhaltens zu finden und zu fragen: Worum geht es eigentlich, woraus lebe ich eigentlich?
Joanna Macy, die Tiefenökologin und Begründerin von „The Work that reconnects“, die auch Poetin ist und sehr stark von Rilke inspiriert ist und seine Gedichte ins Englische übersetzt hat, spricht von drei Ebenen des Aktivismus. Die erste Form ist der Kampf gegen die Zerstörung, zum Beispiel Wälder zu besetzen wie im Hambacher Forst. Die zweite Form des Aktivismus besteht darin, Räume des Möglichen zu kreieren, schon zeigen, was möglich ist, also einen Agroforst anzulegen oder ein regeneratives Projekt oder Ökodörfer zu gründen. Das sind Realutopien, wo man zeigt, wie es anders geht, eine Alternative aufzeigt. Die dritte Ebene ist die Arbeit am Bewusstsein, dass wir die Welt anders verstehen, anders wahrnehmen und deshalb auch anders in der Welt sind. Deshalb würde ich sagen, dass auch Gedichte schreiben, Gedichte lesen eine Form von Aktivismus sein kann.
Es fängt im Bewusstsein an
LK: Vielen Dank fürs Teilen.
In der inneren Arbeit ist es oft so, dass Dinge sich erst dann verändern, wenn sie zuerst angenommen wurden, also auch die Teile, die man vielleicht erstmal nicht haben möchte. In Bezug zur Klimakrise wird die Zerstörung sehr abgelehnt und gegen sie gekämpft wird und gleichzeitig ist sie wie ein kaputter Teil eines lebendigen Systems. Manchmal kommt dann die Frage auf, ob es nicht eigentlich auch darum geht, dem, was man weghaben will, erstmal die Hand zu reichen, um es dann zu wandeln. Haben Sie Gedanken dazu?
MK: Ja, ich glaube das ist wichtig. Das ist damit angesprochen, dass es im Bewusstsein anfängt, dass der Ursprung dieser Zerstörung auch in jedem von uns liegt. Und es ist einfacher zu sagen: Die da draußen sind es. Dabei ist es auch wichtig, Menschen, Organisationen, Unternehmen, Regierungen oder globale Strukturen zu benennen, die Zerstörung systematisch durchführen. Gleichzeitig ist der Kern dieser Zerstörung auch in jedem von uns und dieser Kern ist die Trennung. Deshalb ist es wichtig, diese Trennung auch in sich selbst zu finden und anzunehmen. Es ist ein Teil unserer menschheitlichen Entwicklung, dass wir diese Trennung und das Individuum entwickelt haben. Das hat ja auch eine positive Seite, dass wir uns als Individuum aus den kollektiven Kontexten gelöst haben, seien es religiöse oder autoritäre Herrschaftsformen. Die Freiheit des Individuums und die Menschenrechte sind Errungenschaften, die aus dieser Trennung entstanden ist. Das Individuum macht nicht einfach nur das, was das Kollektiv sagt, sondern hat einen freien Willen: ich kann mich frei entscheiden und entfalten.
Es ist wichtig, sich selbst und den anderen mit einem liebevollen Blick anzuschauen, was nicht heißt, dass ich nicht trotzdem konsequent Widerstand leiste gegen Zerstörung und Ungerechtigkeit. Deshalb gehört zu einem poetischen Aktivismus auch etwas, was Joanna Macy hervorhebt: Wir brauchen Räume, um gemeinsam zu trauern. Sie spricht von der heiligen Trauer, „Sacred Grief“. Das ist ein wichtiger Aspekt von Aktivismus oder eigentlich des Menschseins und ein wichtiges Element im Umgang mit der ganzen Krise, sei es die Klimakatastrophe, das Artensterben oder Kriege wie in Israel/Gaza und in der Ukraine oder wo auch immer: Wir brauchen Räume der Trauer, in denen nicht gleich jeder weiß, wer der Schuldige ist, wo die Antwort liegt oder was zu tun ist, sondern wir uns erst einmal von dem Verlust berühren lassen.
Das ist eine andere Form, die Hand zu reichen und zu sagen: Diese Lebewesen gehen gerade verloren, Leben geht uns verloren. Und das ist ja auch Teil des Lebens, dass wir alle sterben. Es ist eine Gesetzmäßigkeit des Lebens, dass alles vergeht. Gleichzeitig gibt es Tod und Zerstörung, die wir verursachen. Das überhaupt zu spüren, ohne in Schuldgefühle zu gehen, ist eine Form, dem Leben die Hand zu reichen: Verlust auch betrauern zu können. Auch wenn ich in dem Moment vielleicht nichts machen kann, liegt darin liegt eine Kraft, überhaupt ins Spüren zu kommen und Trauer zu fühlen.
Joanna Macy beschreibt sehr intensiv, wie in Räumen der gemeinsamen Trauer zwischen Menschen eine tiefe Verbundenheit zugänglich wird. Vielleicht ähnlich wie in Dialogräumen, wo man merkt, das Leben ist da, spricht und trägt uns auch in all dem, was stirbt. Solche Erfahrungen sind sehr wichtig, wie ich es zum Anfang des Gesprächs angesprochen habe, weil wir dadurch ins Spüren kommen. Spüren heißt ja, nicht nur die schönen Dinge zu spüren, sondern auch Verletzlichkeit, Trauer und Verlust zu spüren. Eine Weise, die Krise unserer westlichen Zivilisation anzusprechen ist, dass wir diese Spürfähigkeit vielleicht nicht ganz verloren haben, aber dass sie wenig Raum hat. Auch in der Form, wie wir kommunizieren, in den sogenannten sozialen Medien ist es sowieso kaum möglich und auch sonst gibt es wenig Raum dafür.
Zum Beispiel im Krieg in Gaza und Israel ist mir aufgefallen, wie schnell Menschen wissen, auf welcher Seite sie sind und wer recht hat und was man tun sollte. Gäbe es den Raum, erst mal zu betrauern, dass so etwas geschieht und dass wir Menschen zu so etwas fähig sind, würde sehr viel Raum öffnen, um einander zu verstehen. Denn in der Trauer sind wir verbunden. Jeder Mensch kennt diese Trauer, egal auf welcher Seite er steht oder wo er ist. Deshalb liegt im spürenden Verbundensein ein Impuls, uns als Menschen neu zu finden oder vielleicht die zu werden, als die wir gemeint sind.
LK: Vielen Dank auch für den Ausdruck der inneren Wildheit der Trauer, den ich in Ihrem Buch gefunden habe und für diesen Bezug zu den Kriegen. Insbesondere die Wichtigkeit des Innehaltens und vor dem Einordnen und Lagerbilden erst mal zu schauen, welche Verletzungen eigentlich auf beiden Seiten entstehen und die Trauer vielleicht auch als etwas Verbindendes wahrzunehmen. Das nehme ich mit.
MK: Ich hatte eine sehr eindrückliche Erfahrung mit meinem Vater. Meine Mutter ist vor ein paar Monaten gestorben. Ich habe meinen Vater in der Trauer begleitet und die war und ist sehr wild, also sehr tief nach 60 Jahren gemeinsamem Leben. In einem Moment hat er mich in diesem Schmerz angeschaut und gesagt: „So müssen sich die Eltern von ukrainischen Soldaten oder russischen Soldaten fühlen.“ Er konnte das aus seiner eigenen Trauer heraus fühlen. Spüren, dass hinter jeder Zahl von Todesopfern Eltern, Partner, Geschwister und Familien stehen, die trauern. Diese Trauer ist auf beiden Seiten genau gleich. Das war für mich so ein existenzieller Moment, in dem wir unter alle Gräben hindurchtauchen und sehen, dass es nur eine Trauer gibt. Es läge so viel darin, wenn man das erst einmal spüren könnte und diese Trauer nicht gleich wieder instrumentalisiert, um den Schuldigen zu finden und die Spirale der Gewalt weiterzudrehen. Solch ein Spüren öffnet einen Raum, wo man innerlich diese Spirale anhält und sagt: Moment mal, warum geht es eigentlich?
LK: Danke für das Gespräch.