Die Geschichte einer Sternentaucherin

Dieser Text erschien zuerst auf dem Portal Ethik heute.

Ingrid Leitner (1942 – 2017) erkrankte mit 15 an Kinderlähmung. Doch sie entdeckte die Freiheit des Geistes, des Lernens und der Kreativität. Ihre Autobiografie „Das Leben der Sternentaucherin“, an deren Herausgabe ich mitgearbeitet habe, erzählt die Geschichte einer Frau, die intensiv lebte, niemals aufgab und der das Leben zum unnachgiebigen und beglückenden Lehrer wurde.

Wenn ich an Ingrid Leitner denke, kommt mir immer auch eine Situation in den Sinn: Am Tag vor ihrer Einlieferung auf die Intensivstation und ihrem baldigen Tod, wollte sie Frühlingsblumen pflanzen. Mit dem Beatmungsgerät konnte sie nur noch schwer sprechen, aber gab ihrer Helferin genaue Anweisungen, was zu tun sei. Der Wintergarten ihrer Münchner Wohnung war eine grüne Oase, sie schöpfte tiefe Kraft aus der Natur, der Lebendigkeit, die sie darin wahrnahm und liebte. Denn Leben bedeutete für sie vor allem auch die Konfrontation mit der Enge, den Grenzen, der Unbeweglichkeit, dem Unvollkommenen. Mit 15 Jahren erkrankte Ingrid Leitner an Kinderlähmung und war seitdem fast vollständig gelähmt. Aber in diesem Schicksal entfaltete sie eine Lebenskraft, die trotz allem aufblühen und sich entfalten wollte. Und wie.
Zuerst konnte Ingrid Leitner durch einen unbändigen Willen die Eisernen Tonne verlassen, in der sie beatmet wurde. Sie lernte, selbst zu atmen und konnte in einem Rollstuhl sitzen. Für sie ein erster großer Triumph, dem viele weitere folgen sollten. Schon bald nach der vernichtenden Diagnose entdeckte Ingrid Leitner die Freiheit des Geistes, den freien Flug der Gedanken, der Fantasie, der Kreativität, des Lernens und Verstehens. Sie las und las, schloss ihr Abitur ab, studierte Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte, promovierte in Germanistik und arbeitete jahrelang als Redakteurin im Radio des Bayerischen Rundfunks. Daneben war sie Mitbegründerin des CBF München (Club Behinderter und ihrer Freunde in München).

Leuchten im Dunkel

Ingrid Leitner hinterließ einen autobiografischen Roman, dem wir den Titel „Das Leben der Sternentaucherin“ gaben. Dieses poetische Wort trifft so gut auf diese besondere Frau zu. Aus der Dunkelheit eines Schicksals, das sie früh mit Tod, Verzweiflung und dem Stigma der Behinderung konfrontierte, ließ sie die Sterne ihres Lebens leuchten. In ihrem Buch kann man dieses Leuchten in den Worten spüren, mit denen sie ihren außergewöhnlichen Lebensweg beschreibt. Aber sie schreibt nicht über ihr Leben, sondern aus ihrem Leben, aus der Herzenskraft, die ihr den Mut gab, nie aufzugeben, immer weiterzugehen und nach neuen Horizonten zu suchen. Dabei findet sie eine Sprache, die erschüttert, aufwühlt, die versöhnt und einen neuen Blick auf die Welt eröffnet.
Da ist zunächst der Blick in die Erfahrung eines Menschen mit Behinderung und beim Lesen konnte ich erstmals etwas nachfühlen, was es bedeuten kann, wenn ein Mensch von einem Tag auf den anderen fast völlig gelähmt ist. Wenn ein junges Mädchen ihre Zukunft vom Himmel fallen sieht. Auf sich gestellt ist. Mit Gott und dem Schicksal hadert, verzweifelt ist, abhängig wird von der Pflege anderer.
Aber es ist das Berührende an ihrer Geschichte, wie sie aus diesem Abgrund mit einem Feuer und Lebenswillen hervorgeht, der bis in die Worte hinein Funken sprüht. Ihr Leben und ihr Buch vibrieren mit dieser grenzenlosen, grenzen-sprengenden Kraft. Wenn Ingrid Leitner darüber schreibt, wie sie mit einer Freundin die Philosophie und Literatur entdeckte, sah ich mit ihr wie der Himmel aufreißt und spürte diesen menschlichen Impuls, nach den Sternen zu greifen. Diese Lebensenergie in uns, dieses Vertrauen, diese glühende Liebe und Dankbarkeit, am Leben zu sein.

Jenseits der Grenzen

Mit dem Erforschen des immer erweiternden Landes des Wissens, der Kunst, des Denkens wuchs in Ingrid Leitner ein Selbstvertrauen, das sie trotz ihrer Behinderung oder gerade deswegen, ein reiches, volles Leben gestalten kann. Sie spürte diese Wirkmacht in sich und blieb ihr innigst treu. Sie schreibt: „So ein Leben, das vor lauter Selbstbeschränkung, freiwilliger Einengung, braver Vertrottelung gar keines war, das wollte sie nicht. Wenn sie es nicht schaffte, dass ihr Leben anders verlief, jeden Tag neu, überraschend, erfüllend, jubelnd, niederschmetternd und aufbauend, voll von sie ergreifenden Gefühlen, vernichtenden Niederlagen, blitzenden, alles durchdringenden Gedanken und Erkenntnissen, heiter oder traurig, oder verzweifelt, aber in jedem Fall, in jeder Minute bewegt, dann würde sie nicht leben wollen.“
In dieser Bewegung, diesem Auskosten, Erforschen des Lebens in all seinen Facetten erweiterte sich immer mehr ihr Kosmos der Worte, und das Schreiben war für sie der Ausdruck ihrer inneren Energie. So war es ganz folgerichtig, dass sie nach dem Studium zum Radio ging. Sie liebte es, mit Worten und Sprache die Menschen zu entführen und zu verführen, ihnen innere Welten zu öffnen, und Geschichten zu erzählen. Kollegen von ihr berichten, dass sich der Aufnahmeraum mit Ingrid Leitner in ein kreatives, ideensprühendes Traumhaus verwandelte. Für sie war es eine Erfüllung, so mit Menschen reisen zu können.
Das war auch der Grund, dass sie einen Autorenkreis ins Leben rief, bei dem Freunde einander Texte vorlasen und darüber in den Dialog kamen. Ich hatte das Glück, bei einem dieser Treffen dabei zu sein. Ingrid Leitner saß in der ihr eigenen Würde in ihrem Rollstuhl und las oder hörte aufmerksam zu. Es war eine Menschlichkeit im Raum, in diesem Teilen der inneren Erfahrungen, wie sie in Worte gefasst wurde. Eine große Wertschätzung für das Empfinden der Menschen im Aussprechen des ganz Intimen.
Diese Wertschätzung der Menschen führte sie zu ihrem Engagement im CBF, dem Club der Behinderten und ihrer Freunde, den sie 1972 mitbegründete. Bis zu ihrem Tod war sie dort im Vorstand aktiv. Ihr war es ein Anliegen, dass ein wertschätzendes, kreatives Miteinander zwischen Menschen möglich ist, ob mit oder ohne Behinderung.
Ingrid Leitner ist selbst ist ein Beispiel, wie die Konfrontation mit dem Unperfektem, der Verletzlichkeit, dem scheinbar Einengenden eine besondere Fülle und intensive Lebendigkeit hervorbringen kann. Für mich hat sich dadurch auch aufgezeigt, dass Inklusion mehr sein kann als die Integration von Menschen mit einer Behinderung, sondern vielmehr die Möglichkeit, aus echtem Interesse aus anderen Erfahrungen des Lebens zu lernen. Und dadurch noch intensiver die eigene Lebensstimme zu hören und zu lieben, und ihr rückhaltlos und kompromisslos zu antworten, im Bewusstsein dessen, wie kostbar dieses Leben ist. Oder wie Ingrid Leitner diese Kostbarkeit beschreibt: „Ihr wunderbares, behindertes, mit allen Sinnen genossenes, mit allen Fühlern betastetes, sprudelndes, schmerzhaftes, prunkvolles, zerbrechliches, unbegreifliches Menschenleben!“

Einfach leben

Bei dieser Hingabe an das Leben verzichtete Ingrid Leitner auf religiöse oder spirituelle Begründungen des Sinns unseres Lebens. Sie lernte durch das Leben. „Einfach leben“, sagte sie oft. Und wenn sie das sagt, für die das Leben alles andere als einfach war, hat es einen besonderen Klang, der uns hinweist auf das Geschenk jedes Augenblicks. Sie war im besten Sinne des Wortes eine Humanistin, eine Aufklärerin. Für sie spiegelten sich in Literatur, Philosophie und Kunst die unerschöpflichen Versuche, dem Geheimnis unseres Daseins näherzukommen, ohne dieses Mysterium je lüften zu können. Und in der Begegnung mit den Menschen ging sie mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe unserem Menschsein auf den Grund. Dieser erhellende Blick zieht sich auch durch ihr Buch.
Einige Texte in ihren letzten Jahren zeugen aber auch davon, dass sie dem Erleben einer unerklärlichen, wunderbaren Wirklichkeit offen war, besonders in der Begegnung mit der Natur. Auch diese poetische Sehnsucht zieht sich durch ihr Leben und Schreiben: „Gierig ertrank sie in dem rosigen Licht und dem wehenden Lila und der sanften Bewegung der träge ans Ufer plätschernden Wellen von weicher, gelblicher Durchsichtigkeit. Das war sie also, die Sehnsucht. Nein, keine Sehnsucht. Es war nur ein Moment, dieser eine Moment absoluten Glücks, in dessen wonnigem Bild sie untergegangen war. Doch im Gefolge dieses Glücks war auch die Sehnsucht da, dieses leicht ziehende Wollen, dieses fast schmerzhafte Wünschen, dieses Sehnen nach – ja, nach was, nach was eigentlich?“

Ingrid Leitner, Das Leben der Sternentaucherin. Ein poetisch-autobiografischer Roman, Info 3 Verlag 2019

Das Buch kann auch bestellt werden unter: info@mike-kauschke.de