Heimkommen ins Leben
Vor einigen Tagen sprach ich in einem Kreis von Freunden mit einer jungen Frau, die gerade ein Kind erwartet und einem älteren Mann, der gerade Großvater geworden ist. Mein älterer Freund schilderte berührend dieses Glück, mit einem neugeborenen Wesen zusammen zu sein. Das Leuchten zu spüren, das darin liegt, davon ausgeht, dass aus der Unendlichkeit des Lebens ein neues Wesen in die Welt kommt, das Licht der Welt blinzelnd erblickt. Auch im Raum unseres Gesprächs war plötzlich dieses Leuchten, diese geheimnisvolle Kraft der Geburt. Dieser existenzielle Aufbruch, das Leben leben will, komme was wolle, dass Geburt sich unaufhaltbar vollzieht.
Ein ähnlicher Glanz lag im Raum, als ich kürzlich in einem Hofcafé bei uns in der Nähe das Neugeborene der Familie in der Gaststube liegen sah. Dieser Blick, der noch wie aus einer anderen Welt zu schauen scheint. Ein kleines Wesen, das erst noch ankommen muss in einer Welt, in der es leben wird. Es gibt hier im Chiemgau eine schöne Tradition, die Ankunft eines neuen Lebens, mit einem Storch vor dem Haus und Girlanden mit Babykleidern und Spielzeug zu feiern und für alle sichtbar zu machen. Ja, ein neues Leben ist geboren.
Die junge Frau in unserem Kreis steht noch vor der Geburt, aber mit unaufhaltbarer Kraft wächst ein neues Leben in ihr heran, wächst darauf zu, geboren zu werden, entfaltet sich so weit, dass es bereit ist, die Welten zu wechseln. Sie fragte sich, ob es denn verantwortlich sei, in eine unsichere Zeit wie der unseren ein Kind zu gebären. Wie wird die Zukunft dieses Wesens aussehen? Wir wissen es nicht.
Aber der kleine Mensch, der in ihr heranwächst, kennt solche Fragen und Bedenken noch nicht. Er will einfach nur leben. Es strebt unbeirrt aus der Quelle des schöpferischen Lebens selbst in seine Form. Sein Leben wird die Zukunft sein und in der Gegenwart dieses werdenden Kindes stellt sich für uns die Frage: Welche Welt hinterlassen wir ihm?
Die unzerstörbare Kraft des Lebens
Inmitten einer Zeit, die so ungewiss geworden ist und von vielen Krisen geschüttelt wird, wirkt diese aufbrechende Kraft der Geburt wie eine Erinnerung an die unzerstörbare Kraft des Lebens. Auch inmitten von Krieg, Artensterben, Klimakatastrophe, Inflation, Energiekrise, den Sorgen über die Zukunft, wird Leben geboren. Immer wieder ereignet sich dieses Wunder der Neugeburt.
Jetzt, um die Zeit der Wintersonnenwende, erleben wir dieses Geburtskraft auch im Jahreslauf. In der dunkelsten Nacht wendet sich die Sonne und es wächst das Licht des neuen Jahres heran. Nachdem die Natur sich ins Sterben ergeben hat, die Blätter abgefallen sind und die Landschaft ruht, glüht inmitten des stillen Absterbens die Neugeburt auf.
Wir Menschen haben diese Zeit seit Jahrtausenden festlich begangen, weil dieser kosmische Vorgang uns auch seelisch erfüllt. Auch in unserem Inneren kennen wir die Dunkelheit, das Absterben von Lebensbezügen, Beziehungen, Träumen, den Verlust von geliebten Menschen oder der eigenen Hoffnung. Wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Dunkelheit zunimmt, auch die inneren Tage kürzer werden. Und in unserer Welt gibt es grade sehr viel Dunkelheit. Menschen leiden unter Krieg, Hunger, Flucht, Sinnlosigkeit. Viele fühlen sich ohnmächtig, verzweifelt, isoliert, einsam. Wir fragen uns: Was kann uns in solch einer Zeit Hoffnung, Zuversicht, Orientierung geben?
Leben, das leben will
Auch mich bewegt diese Frage immer wieder neu. Und ich finde eine geheimnisvolle Antwort in der Kraft der Geburt. Die Philosophin Hannah Arendt schreibt über diese Kraft: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein …“. Was auch immer in der Welt geschieht, Menschen und andere Wesen werden geboren, neue Ideen, Kunstwerke, Erkenntnisse, Projekte, Gemeinschaften werden geboren, neue Möglichkeiten, die Welt sinnvoll zu erkennen und zu gestalten werden geboren.
Jeder von uns wird jeden Morgen neu geboren. Jeder Lebensschritt öffnet uns den Horizont des Geborenwerdens. Darin wirkt die schöpferische Kraft, die unser Menschsein und den ganzen Kosmos durchdringt, der in einer Explosion aus einem brodelnden Nichts geboren wurde. Wir sind schöpferische Wesen in einem sich entfaltenden Universum, das von einer Lebenskraft durchdrungen ist, die es vermag, aus Materie Leben hervorzubringen und im Leben die bewusste Innerlichkeit von Lebewesen aufzuspannen, aus der heraus wir nun bewusst diese Geburtskraft spüren, erfahren und leben können.
Die „Gebürtlichkeit“, wie es Hannah Arendt nennt, eröffnet unserem Leben immer wieder den neuen Horizont einer nächsten Seinsmöglichkeit. Denn, so Hannah Arendt, „das ‚Wunder‘ besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins“.
Weil wir Geborene sind und uns immer wieder in den Strom der Geburtskraft begeben können, sind wir befähigt, zu Mitgestaltenden unserer Welt zu werden. Dann vermählt sich die schöpferische Kraft in uns mit der sich entfaltenden Lebendigkeit der Welt. Ja, es ist ein Heimkommen, denn eigentlich waren und sind wir nie getrennt vom schöpferischen Lebensstrom. Wir sind „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, wie es Albert Schweitzer in der Ehrfurcht vor dem Leben fasst. Und darin liegt ein Trost, eine Ermutigung, ein Zeichen. Die Welt, die uns manchmal so fremd, grausam und ausweglos erscheint, ist eben immer noch und trotz allem ein werdender Prozess, in dem sich die Geburtskraft des Lebendigen selbst verwirklicht. Und wir sind Teilhabende, Mitgestaltende in diesem Lebensprozess, der wir sind. Diese Welt ist dann nicht mehr fremd, sondern unser Lebensraum, die unserer Fürsorge, Liebe, Zuwendung und Kreativität bedarf.
Vertrauen in das Wunder
Darin liegt die Botschaft der Wintersonnenwende, von Weihnachten, wie es Hannah Arendt ausdrückt: „Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‚die frohe Botschaft‘ verkünden: ‚Uns ist ein Kind geboren‘.“
Uns ist ein Kind geboren, uns ist ein Licht geboren … trotz allem. Im dunkelsten Ort, im Stall, in der Krippe, auf der Flucht, ausgesetzt in eine feindliche Umgebung, dort geschieht die Geburt des Lichts. Und dieses Licht ist unsere Fähigkeit, aus dem Herzen des schöpferischen Lebens in uns auf die Welt zu antworten und sie etwas lichtvoller werden zu lassen.
Das Vertrauen, dass dies möglich ist, erwächst uns von innen als die Kraft der Geburt, in der wir die schöpferische Kraft des Lebens spüren und zum Ausdruck bringen. Damit verwirklichen wir das Leben, werden davon getragen, haben Zugang zur innewohnenden Weisheit des Lebendigen und sehen alle Geborenen als unsere geschwisterlichen Mitwesen in diesem großen Wunder, das wir das geborene, das immer wieder neugeborene Leben nennen.