Poesie als Sprache der Verbundenheit
Die Poesie spricht aus der Verbundenheit mit dem ganzen Leben, in all seinen Widersprüchen. Deshalb kann uns ein poetisches Sprechen und Sein einen Weg eröffnen, um unser Mitgefühl zu vertiefen und schöpferisch auf die Welt zu antworten.
Wir leben in einer wunden Welt. Und in einer wundervollen Welt. Für mich ist es oft schmerzhaft, mir die Krisen unserer Zeit zu vergegenwärtigen, die Kriege, das Artensterben, die Umweltzerstörung, den sozialen Verwerfungen und Spaltungen, einer globalen Ungerechtigkeit, von Armut und Hunger. Häufig sind es nicht die Nachrichten, sondern konkrete Geschichten zum Beispiel von den Menschen in der Ukraine, die mich sprachlos machen. Gleichzeitig spüre ich auch in diesen Geschichten, in der Resilienz, der Solidarität und dem Mut immer wieder das Wunder unseres Menschseins. Dieses Wunder erlebe ich auch, wenn ich in die Erhabenheit der Berge gehe oder wenn sich in einem Gespräch tiefe Verbundenheit zeigt. Oder wenn ich in meiner journalistischen Arbeit für das Magazin evolve mit Menschen spreche, die mit Herz und Zuversicht kreative Ideen und Projekte entwickeln, die Antworten auf unsere Krisen suchen.
Unser Leben atmet in dieser Widersprüchlichkeit und entfaltet sich sowohl im eigenen Sein als auch in der Entwicklung der Menschheit im Raum zwischen den Wunden und den Wundern. In diesem Zwischenraum ist für mich eine poetische Wahrnehmung und Gestaltung unseres Lebens neu bedeutsam geworden. In meinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“ bezeichne ich es als Poetische Lebenskunst.
Die Poesie spricht aus der Verbundenheit mit der Welt, sie entsteht im Gespräch mit allem, was ist. Dem, was uns zutiefst erfüllt und für das Wunder unserer Existenz öffnet. Wie ein Wald im Morgenlicht. Der Blick in das Gesicht eines geliebten Menschen. Ein tröstendes Wort, eine helfende Tat. Ein kreatives Projekt, das mich erfüllt. Aber genauso öffnet sich die Poesie dem Gespräch mit den Wunden der Welt. Mit dem Schrecken des Krieges. Der Trauer über den Verlust von Leben. Dem Schmerz der Schöpfung. Der Ungewissheit in einer unberechenbaren Welt.
Es gibt einige Zeilen aus einem Gedicht des ukrainischen Dichters Serhij Zhadan, die mich seit einigen Wochen begleiten. Zhadan dokumentiert seit 2014 den Konflikt in der Ost-Ukraine mit seinen Texten und engagiert sich in sozialen Projekten. Er schreibt:
Der Wert eines Gedichts steigt im Winter.
Vor allem in einem harten Winter.
Vor allem in einer leisen Sprache.
Vor allem in unberechenbaren Zeiten.
Dichterinnen und Dichter sprachen und sprechen aus dieser Verzauberung durch die Fülle des Lebens ebenso wie aus der Verzweiflung angesichts des Leidens, das wir einander und der Mitwelt zufügen oder dem Sterben, das unserer Vergänglichkeit innewohnt. Dichtung findet Worte für das Unsagbare, wenn wir an die Grenzen unserer Existenz geworfen werden, still werden und lauschen.
Indem sie Worte, wundervolle und wunde Worte findet, bleibt die Poesie im Gespräch auch dort, wo unser rationales Denken, unsere kontrollierende Einordnung der Welt, unser Planen und Tun, vielleicht sogar unser Fühlen an seine Grenzen kommt. Im inneren Wissen, dass wir in allem, was uns geschieht, im Gespräch mit dem Sein bleiben, liegt die Ahnung, dass wir nie allein sind.
Wenn ich spreche, dann erwarte ich, dann hoffe ich, gehört zu werden. Von einem anderen Menschen und dessen offenen Ohr und Herzen. Manchmal vielleicht sogar von einem „ganz Anderen“, wie es der Dichter Paul Celan nannte. Eine liebende Anwesenheit im Herzen der Existenz, wie immer wir sie auch nennen mögen. Celan selbst hat die dichtende Sprache bis weit über die Grenzen des Sagbaren geführt, als er selbst den unnennbaren Schrecken des Holocaust in dichtende Worte fasste.
Ob wir Gedichte schreiben oder nicht, jeder und jede von uns kann eintreten in dieses poetische Gespräch mit dem Leben. Wenn wir im Gespräch sind, dann sind wir verbunden. Die Poesie lebt von dem Wissen, dass dem, was wir sagen jemand oder etwas antwortet. Auch wenn es die Stille ist. Darin liegt der Trost, ja, die Heilkraft der Poesie: dass diese Welt eine sprechende ist, in der wir lauschen, antworten und uns begegnen können.
Und die Bestärkung, dass wir in allem, was uns im Leben begegnet, aus uns heraus wirksam sein können. Wir können antworten. Und das muss keine große Antwort sein. Eine freundliche Geste, ein helfendes Wort, ein Engagement in einem Projekt für Geflüchtete. Was es auch sei. Wenn ich spüre, dass ich antworten kann, dann bin ich nicht nur allein, sondern bin gemeint, bin schöpferisch eingebunden in diese verbunden sprechende Welt mit all ihrem Wunder und ihren Wunden.
Vor kurzen sprach ich mit einigen Menschen, die in einem kleinen Dorf in Norddeutschland Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen haben. Aus einer ganz einfachen Antwort auf die Not, die sie sahen, haben sie Wohnraum freigemacht und Menschen untergebracht, haben sich zusammengetan, um Deutsch zu unterrichten. Natürlich sprechen sie auch über den Krieg. Und gleichzeitig, so sagten sie mir, lenken sie den Blick auf die schönen Seiten des Zusammenlebens. Wenn die Kinder neugierig den neuen Ort erkunden. Sie gemeinsam die Pferde versorgen. Die aufblühende Natur erfahren. Einer der Helfenden beschrieb, wie es ihm über die schrecklichen Bilder und Geschichten aus dem Krieg hinweghilft, wenn er sieht, wie vor seinem Haus ukrainische Kinder spielen und den Krieg vergessen können.
So innig umwoben sind wir von den Wundern und den Wunden der Welt. Und inmitten können wir wach und liebend unsere je eigene Antwort finden. Sie wird nicht perfekt sein, sie wird vielleicht nur eine kleine Geste sein. Aber sie wird ein Wort im großen Gedicht der Schöpfung sein. Oder wie es Serhij Zhadan schreibt:
Seid ihr bereit,
so leidenschaftlich zu rezitieren,
als küsstet ihr den eigenen Atem,
als erklärtet ihr dem Sauerstoff des Landes eure Liebe?
Seid ihr bereit zu sprechen als hinge von euren Worten die Zukunft der Zivilisation ab?