In der andauernden Corona-Krise werden Brüche in unserer Kultur und Lebenswelt sichtbar, die es zu heilen gilt. Welche Bruchstellen sind dies, welche Herausforderungen haben sich in dieser Krise gezeigt, und was können wir daraus lernen, für die weiteren Entscheidungsfragen unserer Zukunft?
In diesem dreiteiligen Essay möchte ich im ersten Teil nochmals einen Blick auf die Polarisierung der Kommunikation und deren Ursachen und Folgen werfen. In einem zweiten Schritt möchte ich aufzeigen, inwieweit diese Dynamik möglicherweise auch durch die Struktur der neuen Medien befördert wird. Aus diesen Herausforderungen, vor die uns neue Technologien stellen, möchte ich auch die Rolle eines technischen Verständnisses des Menschen und von Gesundheit beleuchten. Das führt zu einem Ausblick in die dringenden kulturellen Fragen, vor denen wir stehen und deren Antwort ein neues Bewusstsein erfordert.

Wir leben in einer offenbarenden Zeit. Es scheint, dass in den letzten Wochen vieles, was sich verborgen entwickelt hat, an die Oberfläche gekommen ist. Nach den ersten Wochen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Solidarität angesichts eines neuartigen Virus, über den wenig bekannt war (und immer noch ist), erfuhren viele von uns die zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, die Grenzlinien und Konfliktbrüche schafft, die sich durch Wohnzimmer, Freundeskreise, Teams und aktivistische oder spirituelle Milieus ziehen.
Was geschieht hier?, frage ich mich immer wieder. In dem Text „Corona als Vertrauensfrage“ bin ich dem etwas nachgegangen und auf kaum einen Text zuvor erhielt ich so viel Resonanz. Viele Bekannte und Unbekannte schrieben mir, wie in ihren privaten oder beruflichen Beziehungen eine Erregtheit der Positionen entsteht, die uns erstaunen und manchmal verzweifeln lässt. Mir selbst geht es immer wieder so in Gesprächen, wo der gemeinsame Boden wegzubrechen scheint. Der Hinweis auf nachprüfbare Fakten wird damit erwidert, dass diese Fakten keine sind, manipuliert sind oder nicht der Intuition oder dem Bauchgefühl meines Gegenübers entsprechen. Plötzlich erhebt sich in einem Beziehungsraum der Nähe ein Graben und der andere scheint Welten entfernt zu sein.
Und was im Privaten geschieht, scheint in den sozialen Medien seinen algorithmischen Lauf zu nehmen und reicht auch ins Herz der Gesellschaft. Es scheint, dass Corona etwas offenlegt, was bisher im Verborgenen rumorte und jetzt sichtbar wird. Aber was wird sichtbar?

1 Auf der Suche nach Sinn

Das große Misstrauen

Auffällig ist für mich vor allem das um sich greifende Misstrauen. Es scheint, dass in vielen Menschen ein Misstrauen gegenüber Politikern, der Regierung, dem demokratischen Prozess und seinen Institutionen, den Medien, den Wissenschaftlern und den großen wirtschaftlichen Akteuren gewachsen ist. Einerseits kann ich dies nachvollziehen, denn die letzten Jahre haben auch immer wieder gezeigt, wie wenig vertrauenswürdig Politiker, Journalisten oder Konzernleiter sein können. Durch den Lobbyismus hat die Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik und Wissenschaft bedenkliche Ausmaße erreicht, über die wir sprechen müssen. Aber woher kommt die generelle Ablehnung eines demokratischen Gefüges aus Politik, Medien, Zivilgesellschaft?
Mir scheint, es hat auch mit einer ausgebliebenen oder vernachlässigten demokratischen (Weiter)Bildung zu tun, auf allen Seiten. Politiker scheinen oft nicht die richtige Sprache zu finden, um ihre Entscheidungen zu kommunizieren, und wir als Bevölkerung haben scheinbar die Kunst des respektvollen Diskurses nicht ausreichend gelernt. Vielleicht konnten wir uns im Fahrwasser der Normalität und in den Filterblasen der sozialen Medien zunehmend auf unsere sozialen Kreise beschränken, in denen wir konflikthaften Begegnungen aus dem Weg gehen. Aber im Zuge einer so existenziellen Krise zeigen sich die inneren und gesellschaftlichen Bruchlinien unvermittelt.
Dieses Verlernen des Miteinander-Sprechens hat wohl eine Wurzel in dem Individualismus, den unsere Kultur kennzeichnet. Natürlich ist dies eine enorme Errungenschaft, die aber zunehmend vom Projekt einer materialistischen Konsumkultur übernommen wird, die den Menschen als einzelnen oder vereinzelten Konsumenten sieht und konstruiert, der sich durch Konsum Wert und Bestätigung erschafft. Unser Wirtschaftssystem lebt vom Weiterlaufen dieses Motors des Konsums, nur wenn wir immer mehr und Neues brauchen, kann die Produktion wachsen. (Für mich war es erstaunlich, wir viele Menschen in der Zeit der Quarantäne gemerkt haben, wie wenig sie eigentlich brauchen oder was sie nicht bedürfen.)
Unter den Vorzeichen von Konsum, Markt und Wettbewerb basiert unser kulturelles Gefüge umfänglich auf Trennung und Konkurrenz. Und wir haben es sozusagen mit „in Kauf“ genommen, dass uns diese Agenda der Trennung auch menschlich voneinander, von der Natur und tieferen Sinn-Dimensionen entfremdet.
Verschwörungsfantasien sind im Grunde ein verzweifelter Versuch, diesem Sinn-Vakuum zu entkommen. Sie bilden eine große Konstruktion von Sinn, eine Meta-Geschichte, die den vereinzelten Geschehnissen der Welt, aber auch dem eigenen Leben und Leiden einen Sinnzusammenhang gibt.

Befreiung und Trennung

Damit zeigt sich hier vor allem auch ein kultureller Mangel an einem sinngebenden Narrativ bzw. die Unfähigkeit, ein solches gegen Manipulation und Missbrauch zu schützen. Denn unsere Kultur folgt einem Narrativ, das jetzt auch wieder von den Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen oder gegen Rassismus aufgebracht wird: Die Würde des Menschen. Die Frage, was diese Würde eigentlich ist und bedeutet, müssten wir neu stellen und besprechen.
Die Verheißung, dass wir alle ein Leben führen können, in dem wir uns frei und sinnvoll entfalten können, wie es die Aufklärung als Erwachen aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ betont, ist die tiefere DNA unserer Kultur. Aber mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem in seiner heutigen Ausprägung ist sie in einer Weise ausgeformt worden, die diese Befreiung, Unabhängigkeit und Selbstgestaltung zu einem Projekt gemacht hat, das uns unser Eingebundensein in umfassende Prozesse des Lebens vergessen macht. Wir sind eben nicht nur ein selbstbestimmtes Individuum, sondern auch ein Teil eines gesellschaftlichen, ökologischen und globalen Ganzen.
Die Corona-Pandemie hat uns die Grenzen eines solchen Modells der Konkurrenz und Trennung aufgezeigt, plötzlich wurden wir uns bewusst, wie verbunden wir sind. Das zeigte sich in bewegenden Gesten der Verbundenheit und Solidarität aber auch in Protesten, die diese Verbundenheit vor allem als Willkür, Manipulation und Fremdbestimmung verstanden. Und natürlich gilt es hier zu differenzieren und genau hinzuschauen, wann Freiheitsrechte zu Unrecht eingeschränkt werden.
Spirituelle Wege leben auch aus der Erkenntnis, dass wir als Einzelne immer Teil eines Ganzen sind. Was eine Ethik der Verbundenheit wirklich bedeutet, könnte die spirituelle Lernaufgabe der Zukunft sein. Dazu gehört auch die existenzielle Klärung, welchen Bewusstseinsbereich wir eigentlich berühren, wenn wir von Verbundenheit im Gegensatz zu Trennung sprechen. Einige kulturelle Visionäre versuchen mit Formulierungen wie Inter-Sein (Thich Nhat Hanh), Öko-Bewusstsein im Gegensatz zu Ego-Bewusstsein (Otto Scharmer), Enlivenment (Andreas Weber), Kultur der Verbundenheit (Charles Eisenstein) oder Resonanz (Hartmut Rosa) diese Bewusstseinsmöglichkeit anzusprechen. Klar ist, dass es hier nicht um Regression gehen kann, sondern um eine Integration, die unsere Unterschiede und das differenzierende Erkennen und Gestalten der Welt in einer dynamischen Verbundenheit umfasst.
Und jeder kennt wohl solche Erlebnisse, in denen die Grenzen unserer Identität durchlässig werden für das andere, den anderen, für die Natur, für einen anderen Menschen, ein Kunstwerk eine begeisternde Idee oder für das Ganze des Lebens. Solchen Erlebnissen nicht nur im Privaten mehr Räume zu geben, sondern auch in das gesellschaftliche Zusammenleben hineinwirken zu lassen, könnte die Aufgabe einer neuen Bewusstseinskultur sein, die den Boden bietet für eine Ethik der Verbundenheit.
Im Sinne einer solchen Ethik der Verbundenheit könnten wir nun, wo die Corona-Krise erst einmal seinem Abflauen naht, alle Bereiche unserer Kultur neu betrachten. In der Bildung, in der Wirtschaft, in der Religion, in den Medien, in der Politik könnten wir uns fragen, was Verbundenheit bedeutet, wie sie gefördert, gelebt und erlernt werden kann. Wie finden wir Wege, unsere Unterschiede anzunehmen, uns zu respektieren, in aller Verschiedenheit? Wie finden wir Möglichkeiten zu mehr Gerechtigkeit in der Verteilung der Ressourcen und des Wohlstands? Wie kann die Politik näher zu den Menschen kommen und durch welche Foren können wir Bürger an politischen Entscheidungen teilhaben? Wie können die Medien dem Drang zur Polarisierung widerstehen und zu gesellschaftlicher Verständigung beitragen? Wie kann sich Spiritualität auf die tiefe menschliche Verbundenheit besinnen und nicht in Szenarien von Wir und die anderen abgleiten? All das sind Fragen, die uns bewegen werden.

2 Im Sog der Technik

Digitale Manipulation

Ganz dringlich müssen wir uns für eine Ethik der Verbundenheit auch die Frage, stellen, wie wir mit unseren technologischen Möglichkeiten umgehen werden. Kurz vor der Corona-Zeit veranstalteten wir eine evolve Live-Konferenz in Berlin zur Frage „Wie verändert die Digitalisierung unser Menschsein?“: In Zeiten digitaler Vereinnahmung: Menschsein in einer neuen Datenwelt. Dort zeichnete sich ab, wie sehr es auch darum geht, angesichts des technologischer Entwicklung unser Bild des Menschen zu bewahren und neu zu entwerfen. Wir sprachen auch über die Bedeutung eines neuen Humanismus, der das kreative Potenzial des Menschen hervorhebt, das uns von Maschinen unterscheidet, uns aber auch nicht in eine anthropozentrische Trennung von der Natur und dem größeren Lebensprozesses treibt.
Bei der Vorbereitung auf diese Konferenz wurde mir erneut bewusst, mit welchem Ziel Suchmaschinen wie Google und soziale Medien wie Facebook vor allem betrieben werden. Mittels Algorithmen werden Kundendaten generiert, die an Unternehmen und Interessengruppen verkauft werden. Das ist das Geschäftsmodell, das Sushana Zuboff als „Überwachungskapitalismus“ bezeichnet. Und Jaron Lanier, einer der Pioniere des Internets, sagt, dass eine Gesellschaft scheitern wird, wenn die Plattform, über welche die Bürger miteinander kommunizieren, mit der Agenda betrieben wird, sie zu manipulieren. Er ruft damit zu einer Neukonstruktion des Internets und der sozialen Medien auf, damit sie nicht mehr den Dynamiken eines algorithmischen Überwachungsgeschäfts unterliegen. Zum Beispiel schlägt er vor, dass soziale Medien nicht von Privatunternehmen betrieben werden sollten, sondern in öffentlicher Hand, ähnlich wie Bibliotheken.
Die Wahrheit von Laniers Aussagen wird mir dieser Tage immer klarer. Denn die Dynamik der Erregung und der Trennung wird durch die Logik dieser digitalen Medien angeheizt. Dazu gehört auch die undurchsichtige Einflussnahme von programmierten Bots oder ideologischen Akteuren auf die Meinungsbildung, aber auch das Geschäftsmodell von YouTubern in der Konkurrenz um Klicks.
In seinem Buch „Mindf*ck“, bezeichnet der Mitgründer von „Cambridge Analytica“ Christopher Wiley soziale Medien als „Massenvernichtungswaffen“. Cambridge Analytica unterstützte durch Manipulation in sozialen Medien, die vom ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon in Auftrag gegeben wurde, die Wahl Donald Trumps. Wiley erklärt, „Das Ziel der Algorithmen, die Cambridge Analytica erschaffen hatte, war es, diejenigen Menschen in einer Gesellschaft zu finden, die neurotisch anfällig sind und empfänglich für Verschwörungsmythen.“ Die Strategie besteht dann darin, diese Daten auszuwerten und diese Menschen mit maßgeschneiderten manipulativen Inhalten zu versorgen, die auf ihre Ängste ansprechen. Peter Pomerantsev, der Autor des Buches „Das ist keine Propaganda: Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird“ erklärt, dass eine Strategie der ideologischen Einflussnahme im Netz darin besteht, es mit einer Überfülle an Informationen zu fluten (es mit „Bullshit“ zu fluten, nannte es Steve Bannon), so dass man nicht mehr zwischen Wahrheit, Halbwahrheit und Unwahrheit unterscheiden kann. In so einer Überforderung folgen wir dann oft der Meinung, die wir hören wollen oder die für uns aufbereitet wurde, und die uns sehr gern von Facebook oder ähnlichen Medien angeboten wird. Hier wird also Polarisierung zum Geschäftsmodell und Kollateralschaden des Internet-Kapitalismus.
Pomerantsev bezeichnet diese Dynamik als eine neue Form von Zensur, nicht durch Einschränkung der Informationen, sondern eine Überflutung mit Informationen, die es dem Empfänger kaum mehr ermöglichen, deren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Und Ausübende dieser Zensur sind politische Interessengruppen, die ihre Ideologie verbreiten wollen, und Konzerne, die darin ein Geschäft sehen, in einer prekären Allianz.
Den wirksamen Mechanismus dahinter legt der Computerwissenschaftler Stuart Russell in seinem Buch „Human Compatible“ dar, das Gert Scobel in einem erhellenden Video bespricht: selbst lernende Programme künstlicher Intelligenz (Bots) können die Vorlieben und Informationskanäle eines Menschen analysieren und dann die Infosphäre dieses Menschen so verändern, dass eine angestrebte Verhaltensänderung eintritt. Das wird möglich, indem bestimmte Informationen geblockt werden. Diese Bots können auch prüfen, ob eine Verhaltensänderung eintritt und gegeben falls ihre Strategie verändern. Die demokratische Redefreiheit basiert auf dem freien Zugang aller zu allen Informationen, um die Wahrheit einer Aussage zu prüfen. Wenn aber solche Programme die angezeigten Informationen manipulativ filtern, ist dies nicht mehr möglich.
Bisher wurden keine wirksamen Methoden gefunden, um solchen Dynamiken entgegenzuwirken. Hier wird eine intensivere Bildung im Umgang mit den neuen Medien und eine demokratische Steuerung notwendig sein, bevor sich die Meinungsfreiheit gegen sich selbst richtet und das soziale Gefüge zerreißt.

Mensch-Maschinen

In gewissem Sinne sind wir in der Erregung, die sich im Zuge der Corona-Krise verbreitet, individuell und als Gesellschaft auch Geisel einer Mediendynamik, die wir nicht mehr beherrschen. Hier ist eine Welt, in der wir durch Maschinen bestimmt werden, schon wirksamer eingetroffen, als wir es uns manchmal eingestehen. Nicht nur, dass wir manchmal gar nicht mehr unterscheiden können, ob ein Social Bot eine Meinung generiert oder ein echter Mensch, wir selbst werden zu Reaktionsmaschinen, denen Nuancen, Einfühlung, die Verbundenheit mit dem anderen abgehen. Was noch vor Jahren eigentlich selbstverständlich war, dass man sich in einer Diskussion oder einem Streit mit Respekt behandelt, scheint in den anonymen Weiten des Internet in Vergessenheit geraten zu sein.
Diese digitale Struktur, die uns danach scannt, was wir mögen und was nicht, uns durch verborgene Algorithmen analysiert und manipuliert, hat sich in unser Selbstverständnis, unser Denken und unsere Kommunikation fortgesetzt. Es scheint, dass die Zwischenräume des Diskurses immer enger werden, Befürworter und Kritiker der Corona-Maßnahmen beispielsweise stehen sich privat und gesellschaftlich zunehmend als „Lager“ gegenüber. Eine solche Lagerbildung war schon beim Umgang mit der Flüchtlingskrise und dem Klimawandel spürbar, scheint sich nun aber intensiv zu verstärken. Diese digital bestätigte und intensivierte Voreingenommenheit lässt kaum mehr Raum für vorurteilfreies Sprechen. Natürlich wurden in den letzten Wochen von Verantwortungsträgern Fehler gemacht, in manchen Fällen wurde möglicherweise zu zögerlich, in manchen Fällen übertrieben gehandelt. Darüber lässt sich reden, aber über Schuldzuweisungen, Sündenböcke oder geheime Mächte im Hintergrund ebenso wenig, wie aus einer Vorverurteilung jeder Kritik.
Eine solch trennende Struktur der Kommunikation macht eine Kultur der Verbundenheit unmöglich. Auch deshalb wird unser Umgang mit den neuen Medien und ihrer Wirkung auf Denken und Diskurs zentral darüber entscheiden, ob wir das soziale Verbundenheitsgefüge neu beleben können und die Brüche, die auch jetzt entstanden sind, heilen können. (Ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang ist für mich die Nutzung von Videokonferenzen in der Corona-Zeit, wo ich immer wieder mir Erstaunen festgestellt habe, wie viel menschliche Verbundenheit und welch tiefe Dialoge durch dieses Medium möglich wurden.)

Gesundheitsfabriken

Die Technologie stellt uns aber noch vor eine weitere Herausforderung: Auch unser Umgang mit Gesundheit ist zu einem technischen Unterfangen geworden, belebt von der Denkweise der Trennung: jeder Mensch eine Art Körpermaschine, die man durch Ersatzteile oder chemische Substanzen funktionsfähig halten kann. Im Transhumanismus wird diese Idee bis in eine maschinell erzeugte Unsterblichkeit weitergedacht. Hier wird eine Vision der umfassenden Kontrolle verfolgt, die auch unsere Gesundheit miteinbezieht.
Die Corona-Pandemie zeigt auch auf, wie wichtig ein integraleres Bild des Gesundseins ist, einschließlich der psychologischen, ökologischen und spirituellen Aspekte. Denn in der einseitig mechanistischen Sicht bleibt die Impfung das alleinige Mittel gegen eine Pandemie wie Corona. Jenseits von den übertriebenen Ängsten vor einem Impfzwang oder Verschwörungen über eine verborgene Agenda von Bill Gates, sollten wir hier innehalten und überlegen, was Gesundheit für uns eigentlich bedeutet und in welche Richtung wir unser Gesundheitssystem entwickeln wollen.
Denn bei der angedachten Impfung für COVID-19 werden kurz gesagt neuartige mRNA-Impfstoffe erforscht, die darauf beruhen, dass Gene injiziert werden, die dann im Körper dafür sorgen, dass Bestandteile des Coronavirus produziert werden, die eine Immunabwehr stimulieren. Es werden also keine inaktiven Erreger injiziert, wie bei den bisherigen Impfungen, sondern der Körper wird zum Produzenten dieser Erreger-Bestandteile. Ähnliche Behandlungsansätze werden auch für weitere Krankheiten erforscht. Der anthroposophische Arzt Frank Meyer erklärt in der Zeitschrift info3 in einem klärenden Artikel: „Der menschliche Körper könnte somit in Zukunft durch mittels ‚Plug and Play‘ eingeschleuster Erbinformationen quasi zu einer Produktionsstätte werden, zu einer Fabrik für eine bunte Vielfalt von Medikamenten.“
Die Entwickler solcher Impfstoffe sehen diese Impfungen wie eine „App“ für den Computer. In einer Broschüre eines dieser Unternehmen namens Moderna heißt es: „Wir erkannten das große Potenzial der mRNA-Forschung und machten uns daran, eine mRNA-Technologieplattform zu schaffen, die einem Betriebssystem auf einem Computer sehr ähnlich ist. Es ist so konzipiert, dass es austauschbar mit verschiedenen Programmen verbunden werden kann. In unserem Fall ist das ‚Programm‘ oder die ‚App‘ unser mRNA-Medikament … .“

3 Welches Menschsein?

Umgang mit der Technik

Hier zeigt sich, dass diese neuen medizinischen Forschungen von einem Denken angetrieben werden, das den Körper als eine Art Bio-Maschine sieht, die optimiert werden kann durch technische Methoden, die von Unternehmen profitabel produziert und vermarktet werden können. Deshalb ist es vielleicht auch verständlich, dass ein Computer-Pionier wie Bill Gates sich in diesem Bereich so engagiert. Denn wenn man Maschinen immer weiter optimieren kann, warum dann nicht auch den Menschen? Dabei denke ich, dass Gates und andere Technikvisionäre und Transhumanisten oft auch aus der ehrlichen Absicht handeln, unser Menschsein zu verbessern. Das gilt übrigens auch für die Pioniere des Internets und der sozialen Medien. Aber während wir dem Strom und Sog des technisch Möglichen und unternehmerisch Profitablen folgen, sollten wir immer wieder fragen, auf welchem Verständnis des Menschen und seiner Zukunft diese neuen Möglichkeiten beruhen. Dieses Innehalten, um eine breite zivilgesellschaftliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit radikaler technischer Neuerungen zu ermöglichen, wäre auch geboten bei Entscheidungen über autonome Waffensysteme, autonomes Fahren, 5G-Netz-Ausbau oder ähnliches.
Wie wir gesehen haben, die algorithmische Manipulation des menschlichen Verhaltens und die technologische Manipulation der menschlichen Gesundheit zum Zweck der Profitsteigerung haben potenziell tiefgreifende Nebenwirkungen, für die wir wach sein sollten. Darüber hinaus setzen sie ein Menschenbild als alternativlos, dass Menschen im Grunde als Maschinen versteht. Es ist die exponentielle Steigerung eines mechanistischen Denkens der Trennung und Konkurrenz, das unsere Kultur durchdringt. Aber was Gesundheit und Kommunikation als menschlicher Gestaltungsraum wirklich sind und werden können, wird sich wohl nicht in technischer Optimierung finden lassen, sondern in einer Reifung unseres Bewusstseins. Dieser Neubezug zu unseren inneren Quellen des Verstehens, des Heilwerdens, der schöpferischen Kooperation, für Achtsamkeit, Resonanz und Dialog wird als ergänzende Bewegung zum Weiterführen des technologischen Fortschritts entscheidend wichtig sein.
Gerade deshalb ist es für mich auch so bedenklich, dass sich viele Menschen mit alternativen oder spirituellen Denkweisen in die Fantasiewelt von Verschwörungen begeben. Denn es braucht keine Mutmaßungen über verborgene Mächte, um zu sehen, vor welchen existenziellen Entscheidungen wir stehen. Jenseits von Verschwörungsideen wird es in Zukunft um einen Diskurs darüber gehen, wer wir als Menschen sein wollen. Wird uns diese Pandemie weiterführen auf dem Weg zu einem Maschinen-Menschen, der umfassend kontrolliert werden kann, oder in eine Neuentdeckung des Menschlich-Verbundenen (auch unter Zuhilfenahme der Technik)?
Ich glaube auf allen Seiten ist diese Verbundenheit eigentlich die tiefere Sehnsucht. Sie verbindet Verschwörungsanhänger oder Kritiker der Corona-Maßnahmen und diejenigen, die sie weitgehend als angemessen sehen. Unsere Gespräche könnten sich nun auf die Realität und die Entfaltungsmöglichkeiten dieser Verbundenheit richten. Dabei müssen wir alle darauf achten, wo wir in uns selbst Trennung generieren. Immer, wenn wir in Schemen von „Wir gegen die anderen“ denken, folgen wir diesem Muster. Wir sind alle Teile seines Ganzen. Wenn wir das erkennen, können wir gemeinsam das Ganze gestalten. Vielleicht ist das die Botschaft und Möglichkeit dieser Krise.

Verbundenheit gestalten

Jetzt, da wir aus der Corona-Krise herausgehen, werden weitere Krisen am Horizont sichtbar. Zum einen natürlich die Krise unserer Wirtschaft und die Gefährdung vieler Existenzen durch die Corona-Maßnahmen. Hier wird gesellschaftliche Solidarität wichtig sein. Aber auch der Impuls, Wirtschaft und Arbeit selbst neu zu denken, im Sinne der Förderung des Gemeinwohls. Und die Frage, wie wir mit der Ungerechtigkeit umgehen, die unser kapitalistisches Wirtschaftssystem generiert, wie zum Beispiel die ungleiche Verteilung des Wohlstands, bei dem eine kleine Zahl von Superreichen immer mehr besitzen. Zum anderen auch unsere kommunikative Krise, die sich in Polarisierung und Erregung zeigt. Hier sind wir herausgefordert, Wege der Verständigung und des Dialogs zu finden, die das soziale Gefüge nicht nur bewahren, sondern weiter entwickeln können. Damit verbunden ist eine politische Krise, die sich in der Entfernung von Politik und Bürgern zeigt. Hier könnten neue Formen der Partizipation angezeigt sein, wie es der Verein „Mehr Demokratie“ mit einem „Bürgerbeirat“ andenkt oder wie es die Grünen in einem Entwurf zur Teilhabe vorschlagen. In der Tiefe stellt sich hier auch die soziale Aufgabe, mit unserer Verschiedenheit in Bezug auf Herkunft, Ethnie, Geschlecht oder Weltsicht konstruktiv verbunden umzugehen. Wie schwierig und langwierig der Weg zu solch einer Verbundenheit ist, zeigt sich gerade an der Auseinandersetzung um den Rassismus in den USA und in unserer westlichen Kultur.
Wie beschrieben stehen wir auch vor einer Orientierungsfrage bezüglich unseres Gesundheitswesens, in der wir Wege finden könnten, die naturwissenschaftlich-technologisch begründeten Methoden durch alternativ-medizinische Ansätze und ein Forschen über Salutogenese, also den inneren Heilkräften des Menschen, zu ergänzen. Hierhin gehört auch eine offene kulturelle Auseinandersetzung mit unserer Vergänglichkeit und Sterblichkeit.
Und dann stehen wir natürlich auch weiterhin in einer ökologischen Krise, für die wir als Kultur unsere Lebensweise grundlegend überdenken müssen. Es wird sich zeigen, ob die erzwungene Pause der Corona-Zeit uns dafür entschlossener gemacht hat. Und wie ich es versucht habe aufzuzeigen, stehen wir zudem vor der Herausforderung, wie wir unseren Umgang mit den technologischen Möglichkeiten so gestalten, dass sie unserem Menschsein dienen und es nicht bestimmen oder mechanisieren.
Die übergreifende Natur dieser Herausforderungen macht auch deutlich, wie sehr wir die Trennung zwischen einzelnen Wissensdisziplinen und Weltzugängen durchlässig machen müssen, um der Komplexität der Wirklichkeit gerecht zu werden. Gerade in der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass umsichtiges Handeln solch einen Weitblick braucht, in dem in einer integralen Bewusstseinskultur Wissenschaft, Ethik, Philosophie, Kunst, Spiritualität dialogisch zusammengeführt werden. Nur solch ein umfassender Blick verwurzelt uns in einem Empfinden dafür, was wir wirklich wollen, statt nur dem kurzfristigen Zugzwang des Reagierens zu folgen. Denn eines hat die Corona-Krise auch gezeigt, Daten allein geben uns keine ausreichende Grundlage, um unser Handeln auszurichten. In diesem Bezug wurde hier auch die technologische Idee entzaubert, dass wir allein durch mehr Daten zu besseren Entscheidungen finden. Die Interpretation der Daten können uns die Maschinen letztendlich nicht abnehmen und diese Interpretation ist im Grunde eine Frage unseres Bewusstseins.
Denn ganz grundlegend befinden wir uns auch in einer geistigen, philosophischen oder spirituellen Krise. Wir können unsere Vision des Menschseins nicht länger passiv von den Dynamiken des Kapitalismus, des Konsums, der Konkurrenz und des technologischen Fortschritts leiten lassen, sondern müssen und dürfen uns neu als Menschen fragen, wer wir sind und sein wollen. Es geht in dieser Weise um eine Neubesinnung auf die Würde unseres Menschseins, das die Würde des Lebens, in dem wir eingebettet sind, mit in den Blick und ins Herz nimmt. Zur Gestaltung dieser Vision einer Kultur der Verbundenheit sind wir alle aufgerufen, denn Krisen sind immer auch Möglichkeiten für einen Neubeginn.