Wie finden wir einen gemeinsamen Weg durch die Krise?

Diesen Text habe ich als Reaktion auf einige Kritiken geschrieben, die ich auf den Beitrag „Missverständnisse einer spirituellen Weltsicht“ erhalten habe. Es ist eher eine Gedankensammlung als ein ausformulierter Text. Ich möchte ihn hier dennoch als Impuls veröffentlichen. Im ersten Teil äußere ich einige Gedanken zum Ton und der Sprache der gegenwärtigen Diskussion, gehe dann auf einige der Kritikpunkte ein und bewege in einem dritten Teil mögliche Wege der Verständigung.

Wenn man sich in diesen Zeiten zum Corona-Geschehen und den damit verbundenen Verwerfungen äußert, muss man sich auf Kritik einstellen. Das ist gut so, aber oft kommen als Antwort auch Beschimpfungen. Das ist Ausdruck einer zunehmenden Erhitzung dieser Debatte um Sinn und Unsinn der Corona-Maßnahmen. Dass diese Debatte geführt wird, ist gut, aber die Art und Weise richtet sich häufig weniger auf die Suche nach einem Kompromiss, einem Austausch der Sichtweisen. Oft geht es darum, die eigene Meinung zu verteidigen. Das erlebe ich selbst immer wieder in solchen Interaktionen, wenn es mir selbst wichtiger wird, recht zu haben, als dem anderen anzuhören.

In einem Artikel äußerte ich mich vor einiger Zeit kritisch zu den Verbindungen von einigen Menschen in der spirituellen oder esoterischen Szene mit demokratiefeindlichen Tendenzen bei einigen Akteuren oder Impulsgebern der Querdenker-Bewegung. Beziehungsweise auch die Vermischung von spirituellen Ideen mit Verschwörungsideen und rechtspopulistischem Gedankengut. Darauf erhielt ich viele positive Rückmeldungen von Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wie ich sie darin schildere. Aber es gab auch einige kritische Reaktionen, die mich zum weiteren Nachdenken anregten, das ich hier gerne weiterverfolgen möchte.

Geschichten statt Meinungen

Ich fragte mich dabei auch, inwieweit ich selbst zu einer Spaltung beitrage, die doch zuzunehmen scheint. Eine Dynamik, die ich dabei beobachte, besteht darin, häufig in Anschuldigungen zu sprechen, aus denen schnell Feindbilder entstehen. Das passiert auf beiden Seiten, wenn die etablierten Medien pauschal von „Corona-Leugnern“, „Covidioten“ und “Verschwörungstheoretikern“ sprechen und wenn alternative Medien und kritische Stimmen „die Medien“, „die Regierung“ oder Bill Gates als Schuldige anprangern. Es hat sich auf beiden Seiten eine spaltende Rhetorik etabliert, wobei für mich hier die sogenannten alternativen Medien häufig destruktiver vorgehen als die sogenannten etablierten Medien. Das war ja auch ein Thema meines Artikels, auf den ich mich hier beziehe und darauf werde ich hier auch noch eingehen.

Mir scheint, wir müssen Wege finden, auch andere Mittel der Rhetorik in diese Krise stärker einzuladen. Vielleicht sollten wir mehr über konkrete Schicksale erzählen. Unsere eigenen und die der anderen. Konkrete Erfahrungen sind selten schwarz oder weiß. Bei mir wirken sie direkt dem Bedürfnis entgegen, Recht haben zu müssen. Und solche Geschichten kenne ich mittlerweile zuhauf, wie wir alle: Zum Beispiel die Inhaberin eines Restaurants, in das ich gerne gehe, von der ich berührende Emails erhalte, wie sie versucht, im Lockdown ihre Kunden zu erreichen und ihr Unternehmen zu retten. Oft liegt ein verzweifelter Ton darin, im Unverständnis über die Maßnahmen, die ihr Lebenswerk gefährden. Oder ein Freund, dessen Großmutter wegen Atembeschwerden ein ärztliches Attest zu Maskenbefreiung erhielt, aber nicht im Supermarkt einkaufen durfte. Als man dem Supermarkt-Leiter das Attest zeigte, rief er die Polizei. Oder eine E-Mail, die ich gestern von einer Freundin erhielt, deren Ex-Mann mit Mitte 50 an Covid verstorben ist. Er hatte die Folgen der Infektion schon gut überstanden, aber dann wurde er mit Schwindel auf die Intensivstation gebracht und man stellte ein Blutgerinnsel im Gehirn fest. Nachdem er ins künstliche Koma versetzt worden war, entschlossen sich Ärzte und Familie schließlich, die Geräte abzuschalten. Ich denke gerade auch an die Berichte von Pflegekräften auf diesen Intensivstationen, die mich als ehemaligen Krankenpfleger besonders berühren, mit ihrer Wut auf Leute, die ohne Abstand auf Demos gehen, während sie um das Leben von Corona-Patienten kämpfen. Ich denke aber auch an eine Freundin, die zur Corona-Expertin geworden ist, sich in neue Studien einliest und sich auf Facebook verzweifelt über den Umgang unserer Regierung mit dem Virus äußert. Oder die Berichte einer Bekannten, die Behinderte betreut, die keine Maske tragen können. Sie wollen nicht mehr an die Öffentlichkeit gehen, weil sie sich ängstlich beäugt vorkommen oder manchmal auch verbal angegriffen werden. Ich denke auch an eine junge Frau, die mir auf meinen Artikel sehr wertschätzend schrieb, gleichzeitig aber auch die Corona-Maßnahmen nicht vollends nachvollziehbar findet. Gerade in diesem Jahr hatte sie ein Unternehmen gegründet, sie bietet einen Ort der Begegnung für Frauen an. Mit den Maßnahmen und der mangelnden finanziellen Unterstützung steht sie vor dem Aus. In jeder Richtung sprechen wir nicht über Zahlen, sondern über Schicksale.

Wenn wir über schicksalshafte Erfahrungen sprechen und dem, was darin für uns spürbar und lebendig wird, gibt es keine einfachen Antworten. Auch keine Feindbilder. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Menschen, die auch ganz anderer Meinung zu den Corona-Maßnahmen waren. Erst als wir darüber sprachen, welche Ängste und biografischen Erfahrungen diesen Meinungen zugrunde lagen, kamen wir auf eine andere Ebene des Verstehens. Besonders eindrücklich war für mich das Gespräch mit einer Frau, die wie ich in der DDR aufgewachsen ist. Sie war dort auch in der kritischen Bewegung aktiv und Freunde von ihr mussten ins Stasi-Gefängnis. In ihr kam die Angst auf, dass wir nun durch eine autoritäre Regierung unsere Freiheit verlieren und wieder in eine solche undemokratische Gesellschaft hineinwachsen. Ich dagegen äußerte meine Angst, dass durch die Schwächung unserer Demokratie durch Verschwörungstheorien über Medien und Regierung die rechtspopulistischen Kräfte in Deutschland so stark werden könnten, dass diese Demokratie Schaden nimmt und ich wieder in einer Diktatur leben muss. Mit ähnlicher Biografie und der Angst, wieder in einer Diktatur leben zu müssen, kamen wir zu recht konträren Sichtweisen auf die gegenwärtige Situation.

Es mag naiv klingen, aber wir sollten uns weniger Meinungen um die Ohren werfen, sondern mehr Erfahrungen, Ängste, Befürchtungen teilen. Und dabei respektvoll bleiben. Vielleicht kann uns dabei die Kunst helfen, die in dieser Zeit so zu leiden hat. Die Kunst lebt daraus, dass sie aus der Erfahrung spricht, sie berührt, ausdrücken möchte. Und Kunst kommt aus Berührbarkeit. Vielleicht sollten wir alle mehr Corona-Tagebücher, Essays, Gedichte schreiben, statt auf Facebook unsere Kommentare zu hinterlassen. Und wir sollten uns diese Texte vorlesen. Ja, echt!

Die sozialen Medien haben hier denke ich ihre ganze toxische Kraft entfaltet. Die Algorithmen belohnen die Polarisierung, die Erregtheit, die Sprache in Feindbildern. Mich erinnert es an einen Ausspruch des Internet-Pioniers Jaron Lanier, den ich bei der Vorbereitung auf unserer evolve Konferenz zum Thema Digitalisierung gelesen hatte. Er sagt, wenn wir die sozialen Medien in dieser Form bestehen lassen, werden sie unsere Demokratie zerstören. Damals dachte ich, dass sei etwas übertrieben, heute denke ich das nicht mehr. Ich denke, wir brauchen die Neuerfindung der sozialen Medien, die nicht durch Werbung finanziert werden, sondern in öffentlicher Hand sind. Lanier sieht solche neuen sozialen Medien ähnlich wie Bibliotheken als Teil der Gemeinheit und nicht als kapitalistisches Betriebssystem, das aus Überwachung und Polarisierung riesige Profite schöpft.

Der erzählerische, menschliche Blick lässt uns auch verstehen, was zum Beispiel einen Bill Gates, Jens Spahn oder auch Ken Jebsen antreibt. Sie alle haben ihre Erfahrungen gemacht, die zu dem haben werden lassen, was sie sind. Sie zu Feindbildern zu machen, fühlt sich zwar gut an, führt uns aber weiter hinein in die Polarisierung. Und gleichzeitig ist respektvolle, aber auch manchmal scharfe Kritik notwendig, denke ich.

Auf dem Weg in die Abschottung

Nach einigen Rückmeldungen, die kritisierten, dass meine Einschätzung der alternativen Medien und der Arbeit von Ken Jebsen doch sehr einseitig sei, habe auch ich versucht, etwas tiefer zu schauen, soweit es mir in begrenzter Zeit möglich war. Die Kritik richtete sich darauf, dass ich die Arbeit von Jebsen nur anhand eines Videos bewerte und nicht sein Gesamtwerk von vielen hundert Videos in Betracht ziehe. Diesen Einwand konnte ich einerseits verstehen, fand es aber dennoch interessant, dass sich kaum jemand auf die konkreten Aussagen in dem Video bezog. Kurz zum Hintergrund: Wie allgemein bekannt ist, hat Ken Jebsen in einem Video namens „Gates kappert Deutschland“ unvollständige oder falsche Informationen zum Einfluss von Bill Gates geteilt. Auf Kritik an diesen Falschaussagen kommt von Jebsen nur der Hinweis auf die Medien, die ihn diffamieren wollen. Mein Argument war, dass so die Grundlage eines rationalen Diskurses wegbricht. Zumal Jebsen im Folgevideo allgemeine Aussagen zu seiner Philosophie macht, die auch starke Bezüge zur Spiritualität ansprechen, die über die Ratio hinausgehe. Ein Credo dieser Aussagen: Vertraue deiner Intuition, deinem Spüren. Wenn sich aber die Verweigerung des rationalen Diskurses mit einer Spür-Spiritualität verbindet, dann entsteht das, was wir momentan auch bei den Querdenker-Demos sehen. So jedenfalls mein Argument, zu dem ich auch weiter stehe, und das sich für mich sogar noch erhärtet hat.

Ich habe aber durch diese Impulse einige weitere Videos und Texte von Jebsen angeschaut. Auch ein Video mit Florian Kirner und Pedram Shahyar, ehemaligen Mitarbeitern von Ken Jebsen, das mir insbesondere neue Einblicke gegeben hat. Auch dieses Gespräch mit dem Titel „KenFM: Aufklärung oder Volksverdummung“ bezieht sich auf das besagte Video „Gates kapert Deutschland“. Die beiden erkennen darin eine gefährliche Radikalisierung bis hin zur „Bürgerkriegs-Rhetorik“ bei Jebsen. Gleichzeitig erklären sie aber auch, wie Ken Jebsen vor einigen Jahre versuchte, sich mit linken Kräften zu verbinden und es einige Mitarbeiter bei KenFM gab, die eine antifaschistische Denkrichtung vertraten. Und wenn man im Archiv von KenFM stöbert, trifft man auch auf Menschen wie Jean Ziegler und seine Kritik an den Auswüchsen eines neoliberalen Kapitalismus oder Gerald Hüther mit seiner Kritik an gesellschaftlicher Angstmache. Man findet auch Beiträge, in denen verschiedene spirituelle Traditionen vorgestellt werden oder Beiträge zu psychologischen Themen. Aber man findet eben auch Beiträge, in denen von einer großen Verschwörung von Regierung und Medien gesprochen wird. Und diese Beiträge häufen sich und der Ton wird immer radikaler. Ich möchte die Problematik dieser Radikalisierung an einem konkreten Beispiel aufzeigen.

Zuvor noch ein Wort zum Vorwurf des Antisemitismus, den man hier auch nicht aussparen darf. Die Frage, ob Ken Jebsen antisemitisch ist, zieht sich durch die Berichterstattung über ihn, beginnend mit seiner E-Mail, die zur Trennung des RBB führt. Eine Klage dagegen, dass er von der „TAZ“ als antisemitisch bezeichnet wurde, hat er verloren.

Das ist ein komplexes und heikles Thema, weil berechtigte Israel-Kritik und Antisemitismus auseinandergehalten werden sollten, aber eben auch manchmal ineinander übergehen. Bei Jebsen scheint es einen Hang zu extremer Israelkritik zu geben, die auch antisemitisch gelesen werden kann, wie in solchen gefährlichen Formulierungen: »Das Volk ohne Raum, das ausgewählte Volk, agiert mittels Mossad, der sich, welche Ironie, auch mit ss schreibt, nach den Methoden der Nazis. […] Wo ist der Unterschied in der Ideologie und dem Grundanspruch zwischen auserwähltem Volk und Herrenrasse?« oder „Was Adolf Hitler während der Shoa mit den Juden nicht gelungen ist, hätten radikale Zionisten mit den Palästinensern dann erreicht: die Endlösung.« (Quelle)

Nun zu dem Text, der das radikalisierte Denken Jebsen gut widergibt; er erschien zusammen mit einem Video aus der Reihe „Me, Myself and Media“:

„Deutschland schaltet ab!

Massenmedien haben die Aufgabe, den Massen das Gehirn zu waschen. Das Volk soll gehorchen. Es soll die Absichten der Eliten für die eigenen Wünsche halten. So lässt sich über Massenmedien maximaler Gehorsam erzeugen, der immer in die Diktatur führt. Die aktuelle Corona-Krise ist ein trojanisches Pferd, das den Ausnahmezustand rechtfertig. In Wahrheit geht es darum, dass der Geldadel alles unternimmt, um jede Form von Demokratie zurückzudrängen oder zu verhindern. Die Superreichen wollen unter sich bleiben. So simpel ist das.

Um diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen, muss der Bürger eingeschüchtert werden. Er muss in permanenter Angst gehalten werden. Lange mussten die Russen herhalten, dann Terroristen aus dem arabischen Raum, der drohende Klimawandel und jetzt ist es ein Killervirus.

Ohne Massenmedien würden wir alle nichts von den immer neuen „Bedrohungen“ erfahren, denn sie existieren gar nicht.

Wer Massenmedien einschaltet, wird mit Regierungspropaganda synchronisiert und damit gefügig gemacht. Abschalten ist der schnellste und effektivste Weg, die Regierung loszuwerden. Wer aufgehört hat zuzuhören, ist nicht mehr regierbar und kann sein eigenes Leben autark gestalten. Das ist der Beginn echter Demokratie. Fangen wir alle endlich an damit. Selbstermächtigung durch Abschalten von Regierungspropaganda.“

Hier dazu ein paar Bemerkungen im Detail: „Die aktuelle Corona-Krise ist ein trojanisches Pferd“ ist für mich ein Synonym dafür, dass der Corona-Virus absichtlich verbreitet wurde. Wer war es? Dann kommt das Feindbild: „der Geldadel“, „die Superreichen“.

Und die Methode, mit dem „die Bösen“ arbeiten: „Um diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen, muss der Bürger eingeschüchtert werden. Er muss in permanenter Angst gehalten werden. Lange mussten die Russen herhalten, dann Terroristen aus dem arabischen Raum, der drohende Klimawandel und jetzt ist es ein Killervirus. Ohne Massenmedien würden wir alle nichts von den immer neuen ‚Bedrohungen‘ erfahren, denn sie existieren gar nicht.“ Hier wird in einem Abschnitt die Existenz einer fragwürdig demokratischen russischen Oligarchie, der islamistische Terrorismus, der Klimawandel und das Corona-Virus geleugnet.

Und dann kommt eine politische Agenda, die für mich gefährlich ist: „Wer aufgehört hat zuzuhören, ist nicht mehr regierbar und kann sein eigenes Leben autark gestalten. Das ist der Beginn echter Demokratie. Fangen wir alle endlich an damit. Selbstermächtigung durch Abschalten von Regierungspropaganda.“

Was Jebsen hier fordert ist eine völlige Abschottung, Immunisierung gegen andere Meinungen – denn natürlich müssen sich Menschen an irgendwelchen Medien orientieren. Sie werden nun eben anderen Medien zuhören, wie KenFM. Jebsen schwört seine Anhänger hier also auf sich selbst und befreundete Medien ein und nennt dies „Selbstermächtigung“ oder „selbst denken“. Aber dass man anderen Medien zuhört, bedeutet noch nicht, dass man selbst denkt. „Hörigen Menschen einreden, dass sie selbst oder querdenken: das ist leider eine real existierende Paradoxie“, erklärt die Philosophin Marie-Luisa Frick.

Den Ruf nach Selbstermächtigung kann ich zwar gut verstehen, aber dadurch, dass jeder das tut, was er oder sie für richtig hält, entsteht keine Demokratie, sondern vielmehr Spaltung und Fragmentierung. Hier zeigt sich ein narzisstischer Zug, bei dem es eigentlich nur um die eigene Meinung geht, die dann absolut gesetzt wird. Das ist ein politischer Zustand, der für mich eher einer Anarchie ähnelt als einer Demokratie. Und Jebsen schafft durch seine Aussagen ein Misstrauen in die Demokratie, das Rechtspopulisten und Rechtsradikale sehr gern ausnutzen. Ich glaube, genau hier liegt auch die Gefahr der Verbindungen zwischen Rechtsradikalen und den Besuchern von Querdenker-Demos. Wohin eine Aushöhlung der Demokratie führen kann, sehen wir in Ländern wie Ungarn, wie es Goran Buldioski beschreibt, der aus seinem Heimatland fliehen musste.

Fantasien vom Umsturz

Mir scheint, dass sich Jebsen hier selbst in eine zunehmende Radikalisierung begibt, die auch andere Portale wie Rubikon erfasst. Florian Kirner erzählt von einer E-Mail aus der „Rubikon“-Redaktion, in der ehemalige Bundeswehr-Offiziere angefragt worden seien, ob es denn in der Armee Kräfte gäbe, die einen Umsturz unterstützen würden.

Solch eine Radikalisierung findet sich mittlerweile auch in der Querdenker-Bewegung, wenn ein Bodo Schiffmann den Militärputsch fordert. Die Nähe zum Gedanken der Reichsbürger-Bewegung, dass Deutschland keine Demokratie sei und man einen Friedensvertrag mit den Alliierten erst erarbeiten müsste etc. wie ihn einige Querdenker äußern, gehen in die gleiche Richtung.

Ich merke diese Radikalisierung und Hysterie auch in meinem direkten Umfeld bei Freunden, die in einer Art Panikmodus sind, weil jetzt ein totalitäres System eingeführt werde. Sie sind Argumenten und einer gemäßigten Sichtweise kaum mehr zugänglich.

Die Demo in Leipzig hat gezeigt, wie bereitwillig die Teilnehmer der Querdenker-Demo sich von Rechtsradikalen den Weg bahnen ließen. Dabei ging die Gewalt auf Journalisten nicht allein von den Rechtsradikalen aus. Hier entfaltet sich die Radikalisierung, die Jebsen in Worten ausdrückt, schon ganz konkret. Damit scheint sich die Querdenker-Bewegung selbst ins Abseits des politischen Diskurses zu geleiten. Und Teile davon könnten sich in dieser Atmosphäre auch weiter radikalisieren.

Diese Befürchtung habe ich auch bei Ken Jebsen, der jetzt bekanntgab, aufs Land zu ziehen, um dort eine Art Begegnungszentrum aufzubauen. Ganz explizit auch mit Raum für Spiritualität, Meditation, Yoga etc. In dem entsprechenden Video konstatiert er einen herrschenden „Totalfaschismus“ was Björn Höcke gleich als Steilvorlage nahm. Hier könnten Allianzen oder zumindest gegenseitige Duldungen für die vermeintlich gemeinsame Sache eines Umsturzes der demokratischen, offenen Gesellschaft entstehen. Eine Allianz, die sich schon angekündigte, als Ken Jebsen oder Daniele Ganser auch im rechten „Compact“ Magazin Beiträge beisteuerten.

Interessant dabei finde ich, dass die alternativen Medien und Akteure wie Jebsen und Ganser genau die gleichgeschaltete (Gegen)öffentlichkeit schaffen, die sie kritisieren. Die alternativen Medien kritisieren einander nicht, sondern man verteidigt einander. Jebsen interviewt Ganser, Ganser empfiehlt Rubikon, Rubikon verteidigt Ganser, RT Deutsch interviewt beide, Rubikon veröffentlicht Beiträge von Sputnik etc. etc. Wobei mich hier der Einfluss russisch gesteuerter Sender zusätzlich misstrauisch macht.

In manchen Punkten kann ich Ken Jebsens Wunsch nach einem Systemwechsel sogar verstehen. Ich denke auch, dass wir eine radikale Alternative zum neoliberalen Kapitalismus finden müssen, bzw. diesen grundlegend reformieren müssen. Ich verstehe auch seine Ungeduld, dass sich bei bestimmten Themen wie globaler Ungerechtigkeit, ökologischer Zerstörung, Friedenssicherung, globaler Hunger etc. zu wenig bewegt. Das macht mir selbst auch zu schaffen. Aber der Weg ist meiner Ansicht nach nicht die Radikalisierung, Feindbilder, Abschottung und Forderung nach einem Umsturz. Das, so glaube ich, würde die Regression bedeuten.

Was mit dieser Radikalisierung einhergeht ist für mich ein Denken in Feindbildern. Ein Denken, mit dem auch Daniele Ganser arbeitet, wenn auch subtiler. Ganser spricht sicher viele destruktive Dynamiken der globalen Politik an. Wo es für mich schwierig wird, ist genau der Punkt, wo er seine Feindbilder in den Raum stellt. Und seine Ansicht, dass 9/11 und andere terroristische Angriffe ein „Inside-job“ waren, hängt ja auch daran, dass es diese Feindbilder gibt. Dabei arbeitet er gekonnt mit einer Mischung aus bedenklichen Tatsachen und „steilen Thesen“, immer wieder gemischt mit Hinweisen auf Achtsamkeit und die Menschheitsfamilie, der wir alle angehören – sogar die Eliten, die seiner Ansicht nach hinter dem „Staatsterrorismus“ vorgetäuschter Terrorakte stecken.

Ich habe Ganser selbst bei einem Vortrag erlebt und hatte dabei ein ähnlich unwohles Gefühl, das Michael Butter hier beschreibt. Übrigens war das auf einer Konferenz, auf der auch einige Vertreter der Rubikon-Redaktion waren und unter dem Thema Frieden immer wieder Feindbilder in den Raum gestellt wurden, während an den Büchertischen neben Esoterik auch rechte Literatur verkauft wurde. Das darf man vielleicht nicht einfach so verbinden, aber für mich hat es einen direkten Eindruck der Atmosphäre und der Szene gegeben, in der Ganser und Jebsen auch die „Heilsbringer“ sind.

Wie abwegig die Szenarien sind, die Jebsen und Ganser beschwören, hat meines Erachtens der Historiker Yuval Harari kürzlich prägnant formuliert:

„Gegenwärtig haben wir den Eindruck, dass ziemlich viele Menschen auch allerlei Verschwörungstheorien glauben.

Kein Wunder. In Krisenzeiten verlangen Menschen umso mehr nach einfachen Gewissheiten. Es ist sehr kompliziert zu verstehen, was genau ein Virus ist, wie es sich vermehrt und wie es sich verbreitet. Da sind Verschwörungstheorien für viele Menschen ein bequemer Weg, um das Problem vermeintlich zu verstehen, ohne sich vertieft mit ihm auseinandersetzen zu müssen: Sie glauben, dass irgendwelche Regierungen oder Milliardäre dieses Virus im Labor haben entwickeln lassen, um damit die Weltherrschaft an sich zu reißen. Absurd! Verschwörungstheorien suggerieren, dass die ganze Welt von einer kleinen Elite kontrollierbar sei, dabei ist das vollkommen unrealistisch. Schaut man sich die Menschheitsgeschichte an, sieht man deutlich: Selbst die mächtigsten Regierungen sind oft ahnungslos, was geschieht. Sie machen Pläne – aber das genaue Gegenteil tritt ein.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Nehmen Sie die amerikanische Invasion im Irak 2003. Die USA behaupteten, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, und griffen ihn an: mit der stärksten Militärmacht der Welt, unterstützt von zahlreichen Geheimdiensten mit modernster Technik, inklusive Satelliten. In Bagdad konnte niemand einen Kaffee auf der Terrasse trinken, ohne dass die CIA das mitbekam. Trotzdem ist der amerikanische Plan, den Irak im westlichen Sinne zu demokratisieren, völlig gescheitert. Zahlreiche amerikanische Soldaten wurden verletzt oder getötet, die Weltmacht USA wurde gedemütigt, und heute kontrolliert ausgerechnet der Iran große Teile des Nachbarlandes. So gesehen war das eine echte historische Verschwörung, die vollkommen scheiterte. Komplexe Machtpläne bleiben selten im Verborgenen, und sie glücken auch nur selten. Jetzt zu glauben, dass ein paar machthungrige Milliardäre mithilfe eines Virus die ganze Welt übernehmen könnten, ist lächerlich.“

Im Sog der Feindbilder

Bei allem Verständnis, dass ich für Jebsen und Ganser aufbringen kann, und auch für Anliegen der Querdenker mit Kritik an den Corona-Maßnahmen, sie begeben sich häufig in ein Denkmuster des „Wir gegen die anderen“, in dem es einige wenige Schuldige gibt. Dieses Denken verweigert sich aber der Komplexität unserer Welt. Am Beispiel Ken Jebsen hat der Soziologe Felix Schlik, der sich eingehend mit Jebsens Schriften befasst hat, diese Dynamik erforscht und für mich treffend erläutert:

„Wo liegt der Unterschied zu linker Kritik?
Eine linke Analyse beschäftigt sich nicht mit den bösen Entscheidungen einzelner, sondern mit der Struktur des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, die zu diesen strukturellen Effekten führt und dann auch angreifbar ist. Jebsen sucht Sündenböcke, er konstruiert Feindbilder, aber er analysiert nicht.

Können Linke nicht trotzdem punktuell mit Jebsen zusammenarbeiten, etwa in der Friedenspolitik? Wo liegt die Gefahr?
Jebsen entmündigt sein Publikum. Durch ihn werden Menschen, die vielleicht politisch aktiv werden wollen, nicht zum Denken erzogen. Man zeigt, wie böse die Welt ist, man zeigt Betrug und Unterdrückung, man zeigt die Schuldigen dafür, aber das Ganze beinhaltet keine Möglichkeit für politisches Handeln.

Nicht?
Was müsste man denn tun, wenn man Jebsen folgt? Man müsste die schuldige Person entfernen. Im Grunde läuft es auf eine menschenverachtende Praxis hinaus.

Warum hat Jebsen mit alledem so einen großen Erfolg? Seine Reichweite ist vergleichbar mit den meistgelesenen Artikeln von »Zeit Online«.
Was das Ganze so massenkompatibel macht, ist diese leicht konsumierbare Form. Jebsen ist ein guter Redner und ein guter Agitator – eine Führerfigur. Für die Zuschauer ist es zudem nicht schmerzhaft, sich mit seinen Inhalten auseinanderzusetzen: weil es nie um die eigene Involviertheit in Machtverhältnisse geht, sondern immer nur um die Feinde, die man erkennt. Und das generiert einen Kreis von Eingeweihten.“

Einer meiner Freunde schickte mir auch einen Text, in dem die gegenwärtige Dynamik aus einer integralen Perspektive betrachtet wird. Darin antwortet Gotthilf Freudenreich kritisch auf einen Text von Ron Engert, dem Chefredakteur der Zeitschrift „Tattva Viveka“, der darin die Verbindungen zwischen spirituellem Denken und rechten Tendenzen in der Querdenker-Bewegung analysiert.

Freudenreich antworten mit einer Analyse mit dem Integralen Denken Ken Wilbers, mit dem auch ich mich intensiv beschäftigt habe. Ein Element des integralen Modells besteht darin, dass es weiterführend von der Entwicklungspsychologie davon ausgeht, dass wir uns durch verschiedene Stufen der Bewusstseinsentwicklung hindurch entwickeln. Die wichtigsten sind eine archaische, magische Ebene, die wir als Kinder durchlaufen, eine impulsive, egozentrische Ebene, die wir als Jugendliche erleben, um als junge Erwachsene die konventionelle Ebene zu erreichen, wo wir die Normen unserer Kultur verinnerlichen. Auf der folgenden rationalen Ebene entwickeln wir ein rationales, eigenständiges Denken, hier sind auch die Rationalität der Wissenschaft und die Werte der Aufklärung verortet. Hinzukommt eine postmoderne Stufe, auf der es uns möglich ist, verschiedene Perspektiven zu sehen und die Einseitigkeiten der rationalen Stufe zu erkennen. Hier zeigt sich grob gesagt auch ein neuer Hang zur Ganzheitlichkeit, und vieles der ganzheitlichen, ökologischen Alternativkultur würde Wilber hier verorten. Aber die postmoderne Stufe kommt an ihre Grenzen, weil auch sie sich gegen andere richtet, vor allem die rational-moderne Stufe. Über diese postmoderne Stufe hinaus sieht Wilber integrale Bewusstseinsstufen aufscheinen, in denen das „Wir gegen die anderen“ überwunden wird zugunsten eines wirklich holistischen Blicks auf Systeme, Multi-Perspektiven, Komplexität und lebendige Verbundenheit.

In seinem Text versucht Freudenreich nun die Akteure der Corona-Krise in dieses Model einzuordnen. Die Regierung und maßgeblichen Wissenschaftler sieht er vor allem auf der rational-modernen Stufe und viele der Corona-Skeptiker oder Querdenker auf der postmodernen Ebene. Tatsächlich hat die Querdenker-Bewegung viele Verbindungen zur Alternativkultur.

Einige Anregungen im Text fand ich sehr interessant, aber diese schematische Einteilung wird meiner Ansicht nach der Komplexität der Situation nicht gerecht. Denn Wilber erklärt auch, dass es Entwicklungslinien gibt. Man kann also in einem Bereich, beispielsweise der Kognition, sehr weit entwickelt sein, in einem anderen, wie Emotion oder Ethik, nicht so weit entwickelt sein.

Wilber erklärt dabei, dass es gerade auch in der alternativen Szene das Phänomen der „Boomeritis“ gibt, das sich bei vielen Menschen der Baby-Boomer-Generation zeige. Dieses Phänomen erklärt er so: „Boomeritis ist jene seltsame Mischung einer sehr hohen kognitiven Fähigkeit (nobler Pluralismus) mit ziemlich niedrigem emotionalem Narzissmus.“ (in Integrale Psychologie)

Für mich zeigt sich bei vielen Äußerungen aus dem Umfeld der Querdenker-Bewegung diese Verfassung. Auch die Tatsache der Demonstrationen selbst sind Ausdruck davon, wenn man inmitten einer Pandemie, wo die meisten sich an bestimmte Abstandsregeln halten, unter Missachtung dieser Regeln demonstriert. Vereint in dem gemeinsamen Narzissmus, sich als Vertreter des Volkes zu sehen und sich selbst als Freiheitskämpfer. Aber für eine Freiheit, die scheinbar nur den eigenen Empfindsamkeiten gilt und nicht das Ganze der Gesellschaft im Blick hat. Nur dann kann man sich wohl als Teil einer friedfertigen Demo erleben und sich darin auch glücklich und selbstgerecht fühlen, ohne sich zuzugestehen, dass Rechtsradikale den Weg dafür frei machen. Auch das Selbstverständnis als „Widerstandskämpfer“ mit absurden Bezügen zur Nazi-Diktatur oder der DDR hat in sich etwas Widersprüchliches, wie es der Sozialwissenschaftler André Postert analysiert:

„Es hat seinen Grund, wenn mancher sagt, dass in der Demokratie wenig Platz für Widerstand ist. Protest und ziviler Ungehorsam sind die besseren Begriffe. Wer ungehorsam ist, mag die Verhältnisse herausfordern, nimmt Rechtsübertretungen in Kauf, aber steht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Er verweigert sich dem Rechtsstaat und Parlamentarismus nicht per se.

So kann sich Widerstand legitimieren: eingebettet in die Demokratie, Diskussion und Anschluss an die Gesellschaft suchend, dabei auch bereit, sich selbst kritisch zu prüfen. Nur: Wird das, was auf unseren Straßen stattfindet, diesem Anspruch gerecht? Meistens nicht.“

Eine asoziale Spiritualität?

Und ich habe durchaus Verständnis für die Emotionen der Angst, Unsicherheit und Verzweiflung, die viele Menschen bewegen. Diese Emotionen werden von Querdenkern und alternativen Medien häufig angesprochen und in bestimmte Richtung radikalisiert. Der Internet-Analyst Sascha Lobo sieht in dieser emotionalen Komponente einen Kernmechanismus der Radikalisierung:

„Die emotionale Beweisführung halte ich inzwischen für den wichtigsten Mechanismus der Bewegung, weil Gefühle über soziale Medien ansteckend wirken können. Denn genau dafür wurden soziale Medien gebaut, die virale Verbreitung des „Engagements“, wie man die meist emotional gefärbte Beteiligung am Netzgetöse bezeichnet. Wenn man Angst hat, existiert definitiv ein Grund, um Angst zu haben. Wenn man spürt, da sei etwas faul, dann ist etwas faul. Wenn man sich wütend fühlt, dann ist das der Beweis dafür, dass etwas schiefläuft und jemand verantwortlich sein muss.“

Mit Blick auf das, was man vielleicht als spirituelle Szene bezeichnen kann, finde ich das bedenklich. Hat sich darin in den letzten Jahrzehnten auch eine Egozentrik und ein Narzissmus entwickelt, der es uns nun nicht mehr ermöglicht, uns als eingebettet in ein gesellschaftliches Ganzes zu sehen und so zu handeln? Wird, das, was sich für uns richtig anfühlt, zum Maßstab? Tatsächlich geht es ja in dieser New-Age-Spiritualität auch häufig um das Erwachen des Einzelnen, seine Heilung, seine Entwicklung. Hat uns dieser Fokus zu Menschen gemacht, die zwar meditieren, alternative Heilmethoden nutzen oder vermitteln, von Frieden und Liebe reden, aber ihre Mitmenschen nicht mehr achten? Und sie darüber hinaus noch zu Feindbildern („Schlafschafen“) stilisieren? Hat sich hier, etwas krass ausgedrückt, eine Art asoziale Spiritualität entwickelt, die die Schuldigen im Außen sucht? Wenn all die innere Arbeit gerade in solch einer Krise nicht zu einer Ressource wird, durch die wir konstruktiv zur Umgestaltung unserer Kultur beitragen, was war sie dann wert?

Auch Freudenreich kommt in seinem Artikel am Schluss dazu, die Schuldigen ausfindig zu machen und findet sie im „Großkapital“. So sehr ich selbst die neoliberale Wirtschaft für zutiefst fehlgeleitet empfinde, solche pauschalen Vorwürfe führen für mich nicht weiter. Oder besser gesagt nur weiter in die Spaltung. Ein „Wir gegen die anderen“ wird uns nicht weiterbringen und entspricht für mich auch nicht der integralen Vision.

Freudenreich, der auch für das Portal Rubikon schreibt, nimmt in seinem Text auch das Argument auf, wie befänden uns in einem System mit faschistoiden Zügen. Er attestiert dem neoliberalen Kapitalismus einen Hang zu faschistischen Mechanismen. Daran ist sicher nicht alles falsch, und wir müssen auch über totalitäre Tendenzen des neoliberalen Systems sprechen, wie sie sich auch in einem „Überwachungskapitalismus“ zeigen, der eine totale Überwachung ermöglichen soll. Aber der Ausdruck „faschistischer Kapitalismus“ etabliert in alternativen Medien zum neuen Kampfbegriff, wobei mein Eindruck ist, dass die Bedeutung des Begriffs „Faschismus“ dabei verwässert und umgeleitet wird. Denn es ist doch interessant, dass einige alternative Medien, die gern von einer Corona-Diktatur sprechen, selbst faschistoide Merkmale zeigen. Die Politikwissenschaftlerin Katharina Nocun analysiert moderne Formen des Faschismus in einem Artikel:

„Wer kritische Medien und Wissenschaftler sowie Politiker anderer Parteien zum Teil einer großen Verschwörung erklärt, schafft nicht nur sehr wirkungsvolle Feindbilder. Insbesondere Verschwörungsmythen über die Presse erfüllen noch eine weitere Funktion: Anhänger werden gegen Kritik immunisiert.

Eines der prominentesten zentralen Merkmale von Faschismus zu allen Zeiten ist es, die vermeintlich schweigende Mehrheit für sich zu reklamieren. Faschisten nehmen für sich in Anspruch, sie allein würden (unabhängig von Wahlergebnissen) den »wahren Volkswillen« repräsentieren.“

Anschuldigungen vermeiden

Wir sehen gerade die Unfähigkeit, eines materialistischen rationalen Bewusstseins und eines entsprechenden Gesellschaftssystems und eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, auf die Herausforderungen einer komplexen Welt zu antworten und ökologische Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Zudem sehen wir die radikalisierende Wirkung der neuen Medien, mit denen wir noch keinen adäquaten Umgang finden.

In all dem sehen wir, dass eine grundlegende Transformation in Bewusstsein und Kultur notwendig ist. Wir brauchen in diesem Sinne eine innere Radikalisierung in der gemeinsamen Arbeit für diesen Wandel, keine äußere Radikalisierung und Spaltung in der Suche nach „den Schuldigen“. Bei den radikalen Aktivisten von Extinction Rebellion finde ich diese rote Linie sehr treffend formuliert, die für mich den Unterschied macht und die ich häufig bei den Querdenkern und in alternativen Medien vermisse:

„8. WIR VERMEIDEN ANSCHULDIGUNGEN UND HETZE

Das gilt sowohl für unsere Kampagnen nach außen, denn es gibt (fast) nie die „schuldige“ Einzelorganisation oder –Person, aber es gilt auch intern: Wir suchen konstruktive Konfliktlösungen, die unsere Gemeinschaft stärken und weiterbringen.“

Sogar in einem Beitrag auf Rubikon fand ich diese Einsicht zum Ausdruck gebracht:

„Wenn wir die Spaltung wirklich überwinden und Brücken bauen wollen, müssen wir aufhören, mit dem Finger auf andere zu zeigen und darüber zu klagen, wie sehr „die anderen“ alles tun, um zu spalten. Wir müssen stattdessen vorangehen und aufhören, selbst zu spalten: Hier sind wir und dort die anderen. Dazwischen ist ein Graben. Hören wir auf, Feindbilder zu erstellen! Denn Feindbilder sind Keile, die die Menschheitsfamilie spalten!“

Meiner Ansicht nach kennzeichnet ein konstruktives, lösungsorientiertes,  integrales Denken die Transzendenz von Feindbildern, Schuldzuweisungen, sei es nun Bill Gates oder „die Regierung“ oder „die Medien“, „die Eliten“, „der Geldadel“, „das Großkapital“ – natürlich auch „die Corona-Leugner“, „die alternativen Medien“ oder „die Verschwörungstheoretiker“. Ein integrales Denken sieht m. E. die tiefer liegenden Strukturen in Bewusstsein und Kultur, die einem Handeln zugrunde liegen, und arbeitet an einer Transformation durch Integration, Dialog, Prototypen des Neuen, faktenbasierte Kritik und auch zivilen Ungehorsam, aber nicht durch Abschottung, Radikalisierung, Verschwörungserzählungen oder Schuldzuweisung.

Konstruktives Ringen

Nach alldem möchte ich aber auch sagen, dass ich finde, dass die Spaltung auch auf anderen Seiten vorangetrieben wird. Es wäre wichtig, zwischen ernstzunehmender Kritik an den Corona-Maßnahmen und Verschwörungsideen zu unterscheiden. Das finde ich in der Berichterstattung zu selten. Auch die etablierten Medien tragen mit pauschalen Bezeichnungen wie „Covidioten“ zur Spaltung bei. „Die Stigmatisierung der Kritik ist das Ende der Demokratie“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot.

Und durch die Art der Berichterstattung in den Medien wird häufig eine Angstatmosphäre erzeugt, die ich bedenklich und unnötig empfinde. Zeitweilig verfielen 70 Prozent aller Nachrichten auf das Thema Corona. Die psychologischen Folgen dieser Angst und dem Stress, der für viele mit den Corona-Maßnahmen einhergeht, können wir noch nicht überschauen. Hier warnt der Psychologe Joachim Galuska vor einem „Corona-Burnout“. Diese Atmosphäre der Angst hat auch mit unserem unbewussten Umgang mit dem Tod zu tun.

Zum Glück gibt es mittlerweile auch Beiträge, die kritische Stimmen zu Wort kommen lassen, wie diese Arte-Doku. Darin wird auch das Wertedilemma zwischen Sicherheit und Freiheit angesprochen, in dem wir als Gesellschaft einen Weg finden müssen. Dieser Weg kann aber nur in einem konstruktiven Ringen mit verschiedenen Positionen so gefunden werden, dass sich möglichst viele Menschen ernst genommen und „mitgenommen“ fühlen.

Dieses konstruktive Ringen ist das Herz der Demokratie und hier könnten Politiker, Medien und Wissenschaftler einen möglichst mehrstimmigen, differenzierten und interdisziplinären Prozess unterstützen, statt nur einige wenige Sichtweisen im Diskurs zuzulassen. Politiker, Journalisten und Wissenschaftler können sich kritisch befragen, was sie zur Entfremdung beigetragen haben, die sich auch im gegenwärtigen Misstrauen gegenüber dem Regierungshandeln zeigt. Hier wären Themen, wie der Einfluss des Lobbyismus auf die Politik, die wissenschaftliche Forschung und die Medien offener zu diskutieren. Auch die Grenzen und die Instrumentalisierung der Wissenschaft wären zu hinterfragen, wie es der Philosoph Jens Heisterkamp formuliert:

„Hinter dieser Wissenschaftsgläubigkeit wirkt der Irrtum, die immer aufreibende und oft kontroverse Suche nach Wahrheit und Werten ein für alle Mal durch eindeutige Verordnungen beenden zu können, die es dann natürlich auch mit Sanktionen umzusetzen gilt: „Die“ Wissenschaft soll bestimmen, wie wir zu leben haben, wie unser Gesundheitssystem aussehen soll, wie wir uns ernähren und nach welchen Prinzipien unsere Schulen funktionieren.“

Alle Beteiligten können sich fragen, inwieweit sie zu einer Angstatmosphäre und zur Spaltung beitragen. Ich als Medienschaffender möchte dieser Frage jedenfalls nicht ausweichen. Wir tun es immer dann, wenn andere Meinungen pauschalisiert als fehlgeleitet bezeichnet werden. Es ist einfach, auf Querdenker-Demos zu gehen und die verrücktesten Zitate zusammenzustellen. Eigentlich wäre es doch angeraten, auch die intelligentesten Stimmen unter den Kritikern zu Wort kommen zu lassen. Kritiker und Befürworter der Maßnahmen auch unter den Experten hätten viel früher in einen Dialog gehen können. Und sehr viel bliebe zu tun, um die beschlossenen Maßnahmen mit Transparenz und Empathie zu vermitteln.

Deshalb finde ich auch Initiativen wie die von „Mehr Demokratie“ richtig, einen partizipativeren Weg in der Diskussion der nötigen Maßnahmen und deren Kommunikation zu finden. Ich denke auch, das breit angelegte Bürgerräte die Energie der Angst, Unsicherheit und Verzweiflung, die Menschen auf die Straße treibt, einen konstruktiven Raum bieten könnte, wie es in einem TAZ-Artikel ausgeführt wird:

„Die aktuelle Krise wird nicht zu mehr Resilienz führen, und sie kann die gesellschaftliche Spaltung noch vertiefen, wenn der anhaltende Verordnungsmodus der Exekutive das Geflecht gesellschaftlicher Bindungen weiter ausdünnt. Ein nachhaltiger Umgang mit der Krise braucht das genaue Gegenteil: gesellschaftliche Integration durch Verflechtung; breite, kontroverse Debatte; komplexe Verhandlungen und die Repräsentation der Vielfalt der Lebensrealitäten in den Entscheidungen. Das ist weniger effizient als zügiges Durchregieren, und es ist anstrengend. Aber es ist der Weg zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zu gesellschaftlicher Resilienz.“

Gleichzeitig ringen wir auch mit den Folgen einer Hyperindividualiserung der postmodernen Gesellschaften. Der Politikwissenschaftler Torben Lütjen spricht von einer „paradoxen Individualisierung“. Die zunehmende Individualisierung, die mehr Vielfalt, Offenheit, Toleranz und Diversität bringen könnte, führt häufig dazu, dass viele sich noch ausschließlicher mit ihrer individuellen Filterblase assozieren. So führt die Pluralisierung durch mehr Individualisierung paradoxerweise zu mehr Polarisierung. Die Räume, in denen sich Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Ansichten begegnen, nehmen ab. Interessant ist ja auch, dass einige asiatische Länder, in denen der Sinn für die Gemeinschaft ausgeprägter zu sein scheint, besser durch die Pandemie kommen. Ich glaube nicht, dass die dort angewendeten Methoden in jedem Fall erstrebenswert sind, aber es zeigt auch die Grenzen einer stark individualisierten Gesellschaft im Umgang mit Krisen auf.

Eine lieblose Gesellschaft?

Um zum Anfang dieses Textes zurückzukommen, die Spaltung, die gerade entsteht, wird nur im Menschlichen zu heilen sein. Und das heißt, zunächst auch in jedem von uns. Denn es ist einfach, die Schuld bei anderen zu suchen. Wir alle sind angefragt, die Tendenzen der Spaltung in uns selbst zu sehen und zur Verständigung, zum Dialog beizutragen.

Eigentlich sind wir aufgerufen, Empathie und Liebe zu leben. Die Pandemie hat uns ja einerseits gezeigt, wir sehr wir global miteinander verbunden sind, als ein Körper. Gleichzeitig wirft sie uns auf unsere tiefsten individuellen Ängste zurück. Das kann dazu führen, dass wir fast nur noch uns selbst sehen, unsere Emotionen und Ängste.

Jetzt ist die Zeit, diesen Blick zu weiten, um gemeinsam einen Weg zu finden. Denn niemand von uns möchte in einer lieblosen Gesellschaft leben. Die Zeit-Kolumnistin Mely Kiyak schrieb dazu in einer wütenden Kolumne:

„Wir sind mitten in einer Pandemie. Der Tod hat unter uns Platz genommen. Menschen sterben einsam und isoliert, aber jeder stiefelt mit seinen privaten Scheißangelegenheiten durch die Öffentlichkeit. Einer will unbedingt tanzen. Einer will unbedingt unmaskiert einkaufen. Und wieder ein anderer trägt ein Hakenkreuz durch die Innenstadt.

Man kann sich keinen anderen Reim mehr auf die Sache machen als diesen. Lieblosigkeit ist das. Das sind wir. Eine lieblose Gesellschaft von Wichtigtuern und Schwätzern. …

Kann es sein, dass wir uns alle nicht mehr mögen? Und dass wir eine der ältesten Menschheitsweisheiten vergessen haben? Der Hass braucht nur eine Sekunde, um den Weg ins Herz zu finden, aber er braucht Generationen, um diesen Ort wieder zu verlassen. Und diejenigen, die sich nach Freundschaft sehnen, die eine unbändige Lust darauf haben, ob Süd, Nord, Ost oder West, alles miteinander zu teilen, die sich auch hinter dem Rücken der Stinkstiefel zwingend zusammentun müssen: Die müssen sich finden. So ein hässliches Land, wirklich, aus dem tiefsten gebrochenen Herzen gesprochen, steht schönen Menschen nicht.“

Um der Lieblosigkeit etwas entgegenzusetzen wird es von allen Seiten wichtig sein, den Weg in das Verständnis und die Verständigung immer wieder zu wagen. Dazu gehört aber auch die ehrliche und manchmal konfrontative Kritik. Doch das Beharren auf der eigenen Position als der einzig richtigen, wird die Spaltung verstärken. Und wie schon gesagt, vielleicht sollten wir deshalb vor allem in einer solchen Krise mehr auf die Kunst hören. Vor Kurzem führte ich ein Interview mit dem Künstler Alfred Bast, in dem er auch über die Kraft der Kunst spricht, ein spaltendes Denken zu überwinden:

„Ich beobachte auch hier, dass bestimmte Bedingungen die Regierung unbeweglich werden lassen. Die getroffenen Entscheidungen müssen dann durchgeführt und legitimiert werden, auch wenn sie möglicherweise fehlerhaft sind. Dabei kann es zur Verhärtung kommen, die kritische Stimmen nicht mehr berücksichtigt. Es entstehen Lagerbildungen und Konflikte, die sich auch radikalisieren können. Damit wird das Gespräch fast unmöglich. Dann werden in dem schöpferischen Feld zwischen den Polen, Mauern und Zäune errichtet. Wenn die Extreme ihre Orientierung auf das Gemeinsame verlieren, bricht das Ganze auseinander. In eine solche Situation die schöpferische Freiheit einzubringen, wird immer schwieriger, weil es nur noch das Entweder-Oder gibt.

Schon der Versuch, die andere Seite zu bedenken und sich einzufühlen, wird als Bedrohung abgelehnt, wird als Leck in der Schutz-Mauer empfunden und mit Schlagworten niedergeknüppelt, während die Kreativität von intelligentem Zynismus und Ignoranz an kurzer Leine Gassi geführt wird. Leider ein nur zu bekanntes Bild. Das ist ein Verlust der künstlerischen Möglichkeiten, das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, doch auch eine Herausforderung neue Wege zu finden. …

Jeder und jede ist dazu eingeladen, durch das Entdecken und Einbringen der eigenen kreativen Kräfte zum Ganzen beizutragen und es von innen her mitzugestalten, ohne gleich wissen zu wollen, ob sich das irgendwann auch lohnt. Wer ernsthaft damit beginnt, erfährt: es lohnt sich sofort.

Ja, und wir brauchen neue, zeitlos gültige Selbst- und Weltbilder. Die Natur zeigt sie uns. Zum Beispiel das Urzeichen Y – die Astgabel. Aus EINEM Stamm kommen ZWEI Äste, die in gegensätzliche Richtungen wachsen, wachsen müssen, damit es einen Baum gibt. Doch in gesellschaftlichen Konflikten gibt es zu wenig Besinnung und Wahrnehmung auf den ganzen Baum.

Das ist als würde ein Ast mit dem andern streiten und behaupten er sei der wahre Nachfolger des Stammes. Und jeder hat recht, doch keiner nur für sich. Die Kunst kann den Blick erweitern, sie ist „spezialisiert auf das Ganze“, auf den ganzen Lebensbaum.“

Wege der Verständigung

Eigentlich eröffnet auch die spirituelle, mystische Erfahrung diesen Blick auf das Ganze, weshalb ein solches Verständnis unserer Ungetrenntheit als Menschen gerade in dieser Zeit so wichtig ist. Deshalb finde ich es so tragisch, dass es in der alternativ-spirituellen Szene so viel Gehör für Verschwörungsideen und neue Feindbilder gibt. Gleichzeitig formieren sich auch Zusammenschlüsse, die diesen Umstand ansprechen und sich klar positionieren, wie Shantifa, Conspirituality.net oder die Aktion Yogi:nis gegen Rechts, die immer mehr Unterstützer findet.

Mir scheint es eine der wichtigsten Aufgaben für eine sozial verantwortungsvolle, demokratiebewusste, aufgeklärte Spiritualität, sich gegen spirituell „unterfütterte“ Schuldzuweisungen, gegen Verschwörungsmythen und „alternative Fakten“ zu äußern und gleichzeitig den Blick auf das Ganze nicht zu verlieren. Dann kann sich in Verstehen, Klarheit und Mitgefühl immer wieder ein Weg zeigen, die Spaltung nicht zu verstärken und für Heilung und Kooperation einzustehen. Jedes Gespräch bietet zumindest die Möglichkeit dazu.

Es ist ein Lernaufgabe dieser Zeit, wie wir gegenteilige Sichtweisen in ein konstruktives Gespräch bringen können. Die Juristin und Autorin Juli Zeh mahnt zur Einhaltung einer einfachen SOS-Regel im Streit der Ansichten: „Sensibilität im Umgang mit fremden Ängsten, Offenheit für abweichende Positionen, Sorgfalt beim Formulierender eigenen Einsichten.“ Hierbei werden auch neue Prozesse des Dialoges und der Entscheidungsfindung relevant werden. Eine Methode ist zum Beispiel das Systemische Konsensieren, in dem alle Beteiligten ihre Widerstände gegen eine Entscheidung einbringen und alternative Vorschläge äußern können. Gegenüber der Mehrheitsentscheidung hat dieser Prozess den Vorteil, alle in den Gesprächsprozess einzubeziehen. So entstehen weniger Polarisierung und Spaltung. Dieser Ansatz wird bei den Demokratischen Konventen aufgegriffen, wie sie in der Gemeinwohlökonomie praktiziert werden. Christian Felber, der Begründer der Gemeinwohlökonomie, sieht in dieser Methode ein wirksames Element einer „Souveränen Demokratie“:

„Das Verfahren des Systemischen Konsensierens ist ein Musterbeispiel für eine „soziale Innovation“: soziale oder kulturelle Praktiken werden entscheidend verbessert. Die zwei innovativen Elemente – Abstimmung von mehreren Vorschlägen sowie Messung des Widerstands anstelle der Zustimmung – bewirken, dass alle, die einen Lösungsvorschlag einbringen, sich über das Wohl des Ganzen Gedanken machen müssen, weil ein Vorschlag, der nur ein Partikularinteresse bedient oder etwas Wesentliches übersieht, von vornherein keine Chance hätte. So gewinnt am Ende der „empathischste“ Vorschlag, der sich am tiefsten in das Ganze einfühlt. Anders gewendet gewinnt der Vorschlag, der den Freiheitsverlust aller am geringsten hält: ein nicht nur achtsames, sondern eminent liberales Verfahren.“ (Quelle: Antwort auf eine Frage zu einem noch nicht veröffentlichen Beitrag zum Systemischen Konsensieren)

Auch die Politökonomin Maja Göpel und Autorin des Bestsellers „Unsere Welt neu denken“ sieht die Notwendigkeit, über das Beharren auf Gegensätzen hinauszugehen:

„Jedes weitere binäre Festfahren in Gegensatzpaaren und vermeintlichen Unvereinbarkeiten wirkt in einer sowieso schon sehr gestressten Gesellschaft sicher nicht darauf hin, dass wir demokratische Lösungen für diese Krisen finden. Statt große Kategorien in Stellung zu bringen, sollten zentrale politische Stellschrauben identifiziert werden, die Umweltschutz und soziale Ziele zusammenbringen.“

Der Philosoph und Biologe Andreas Weber erklärt, dass wir die Kunst, Kompromisse zu schließen, verlernt haben. Und vor allem dabei auch vergessen, die „mehr-als-menschliche Welt“ in unsere Überlegungen mit einzubeziehen. Eine Ursache der Corona-Pandemie liegt eben auch darin, dass wir dem Lebendigen den eigenen Entfaltungsraum nicht mehr zugestehen:

„Für sie [Hannah Arendt] ist Beziehung gerade nicht das Unmittelbar-sein-Ding-machen, sondern ein Zusammentreffen zweier genuin unterschiedlicher Wesen. Das ist auch das, was Beziehungen immer politisch macht, weil man immer irgendwie einen Weg finden muss, miteinander auszukommen.

Aber wenn man diesen Weg nicht finden würde, dann wäre es eben keine Beziehung, das ist das Interessante. Hannah Arendt nennt das, was erforderlich ist, das Zusammenhandeln. Ganz anders die historische Gestalt Carl Schmitt, der sagt, Politik besteht eben gerade im Zerschlagen von Beziehungen, also im Herausschärfen der Polaritäten und dann möglichst im Eliminieren der anderen Seite. Deswegen ist er eben auch ein Stichwortgeber für die Nazis gewesen. …

Ein Kompromiss, der sich gegen Lebendigkeit wendet, ist kein Kompromiss, und unter diesem Aspekt, glaube ich, können wir auch viele Haltungen und Handlungen in der Corona-Krise und in der Hygienepolitik sehen: Es geht um das Schützen von Lebendigkeit und es geht um das Schützen von Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit. Und das ist, glaube ich, eine wichtige Zielrichtung.“

Zu dieser Förderung der Lebendigkeit gehört auch eine tiefere Analyse, wo tiefere existenzielle Ursachen unserer Sinnkrise, von Wut und Aggression in verschiedenen Formen liegen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht hier ein grundlegendes „Aggressionsverhältnis“ zur Welt, das sich auf vielen Ebenen ausdrückt und in Zeiten der Krise, wie der unseren, wohl noch verstärkt wird.

„Indem wir Spätmodernen auf allen genannten Ebenen – individuell, kulturell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als »Aggressionspunkt« oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt, und genau dadurch scheint sich uns das »Leben«, das, was die Erfahrung von Lebendigkeit und von Begegnung ausmacht – das, was Resonanz ermöglicht –, zu entziehen, was wiederum zu Angst, Frust, Wut, ja Verzweiflung führt, die sich dann unter anderem in ohnmächtigem politischem Aggressionsverhalten niederschlagen.“

Eine Ursache dieser Aggression liegt in einer Haltung der Trennung vom Leben und voneinander, die der Friedensforscher Martin Winiecki in der aktuellen Ausgabe von evolve mit dem indigenen Begriff „Wetiko“ bezeichnet:

„Ein Aspekt der Zuspitzung von Wetiko ist die Demaskierung. Wenn wir auf Hass, Trennung und Angst mit ebensolchen Empfindungen reagieren, dann leben wir in der gleichen Matrix. Donald Trump löst deshalb so viele Reaktionen aus, weil er auf einer emotionalen Ebene sowohl in seinen Fans als auch in seinen Gegnern etwas aktiviert, was auf einen kollektiven Schatten hindeutet. Wenn wir als Menschen in unserer Negativität darauf reagieren, dann füttern wir ein emotionales Massenphänomen. Wir können zwar auf einer un-verkörperten New-Age-Lichtwelle reiten und den Schatten des kollektiven Traumas und der realen Methoden des bestehenden Systems verdrängen, sind dadurch aber auch anfällig für genau diesen Schatten. Beim QAnon-Phänomen sehen wir, wie viele auch spirituelle Menschen auf eine ganz perfide polarisierende Propagandastrategie hereinfallen, weil ihre Spiritualität den Schattenaspekt ausklammert, also die Strukturen von Gewalt und Angst verdrängt, die wir über Jahrtausende in einer patriarchalen Geschichte aufgebaut haben. Gleichzeitig können wir nur so tief in das Trauma hineinschauen, wie wir auch die Perspektive einer möglichen Heilung kennen.“

In diesem Sinne ist diese Zeit auch eine tägliche spirituelle Herausforderung, wie die spirituelle Lehrerin Shakti Catherina Maggi ebenfalls in der aktuellen Ausgabe von evolve erklärt:

„Das Bedürfnis des Verstandes nach Polarisierung entsteht aus der Angst vor unsicheren Situationen. Der Ausweg sind dann oft extreme Positionen – exklusive Standpunkte, die wiederum Trennung schaffen. Das Herz, als Gewahrsein in menschlicher Gestalt, braucht keine Polarisierung. Es ist neutral und in der Lage, alle Positionen in sich aufzunehmen, also eine einschließende, statt ausschließende Perspektive einzunehmen.

Ein Kennzeichen unserer Zeit sind die Konflikte der Menschen innerhalb ihrer eigenen Familien oder Gemeinschaften. Hier können wir lernen, Negativität auszuhalten, ohne selbst negativ zu werden, ohne Position zu beziehen. Sind wir in der Lage, die Unwissenheit in der Negativität zu erkennen? Sind wir fähig, Mitgefühl für Negativität zu entwickeln? Denn Unwissenheit und Negativität entstehen, wenn wir unsere grundlegende Natur nicht kennen – die Liebe.

Wie wirkt sich diese Neutralität aus? Werden wir zu Komplizen der Negativität? Ich glaube nicht. Was wäre der dharmische Weg, auf Negativität zu reagieren, wenn wir Mitgefühl in uns entwickelt haben?“

In solch einer Zeit haben wir alle die Möglichkeit, in unserem Umfeld Räume der Verständigung zu öffnen und daran mitzuwirken, dass die Spaltung nicht noch verstärkt wird. Und wir können uns einsetzen für die Bewahrung unserer demokratischen Gemeinschaftlichkeit und für eine Weiterentwicklung unserer Demokratie hin zu inklusiveren, dialogischeren, partizipativeren, resonanteren Formen.

Diese Möglichkeit, zur Verständigung beizutragen, hat für mich der Sänger Nick Cave kürzlich in berührende Worte gefasst, mit denen ich hier enden möchte:

„Ich glaube, wir leben in einer beängstigenden und zutiefst unsicheren Zeit, und obwohl es da draußen verrückte und zynische Stimmen gibt, die durch die sozialen Medien – diesen verrückten Motor der Empörung – ermutigt und verstärkt werden, repräsentieren sie nicht die Stimmen der Vielen oder der Wohlwollenden. Meine Erfahrung mit Menschen in dieser Zeit ist überwältigend positiv – es gibt viel Liebe und gegenseitige Achtung und Gemeinschaft. Ich denke, die meisten von uns verstehen, dass wir an einem Strang ziehen und mit Höflichkeit, Großzügigkeit und Freundlichkeit handeln müssen, um diesen besonderen Moment zu überstehen. Wir haben eine gewaltige Aufgabe vor uns, die gewaltige Energiereserven erfordern wird – wir müssen die Welt wiederherstellen und neu gestalten – und dieses Mitgefühl und die gegenseitige Achtung sind für diesen Prozess von wesentlicher Bedeutung.

Natürlich gibt es vieles in unserer Welt, das einer Veränderung bedarf, das zurechtgerückt werden muss, und natürlich ist die Menschheit komplex, widersprüchlich und voller Fehler, aber in diesem Moment, in dem unsere Existenz in der Schwebe hängt, müssen wir nicht nur in gutem Glauben und Trost, sondern auch in einem Geist der Kreativität und des Erfindungsreichtums zusammenkommen. Unsere Existenz hängt davon ab, das Beste von uns selbst einzubringen. Negativität, Zynismus und Ressentiments werden nicht ausreichen. ‚Wir müssen einander lieben oder wir müssen sterben‘ (W. T. Auden).“