Schatten, die sich zeigen
Vor einigen Tagen traf ich mich mit einem Freund zum ersten Mal, seit dem Beginn der Corona-Krise. Schnell stellten wir fest, dass wir die Entwicklungen dieser Zeit recht anders deuten und dabei auch anderen Quellen vertrauen.
Für mich bleibt trotz teilweise einseitiger Berichterstattung die etablierte Medienlandschaft mein Bezugspunkt, für meinen Freund aber auch vor allem alternative Medien. (Mit dem zugegeben etwas schwierigen Begriff etablierte Medien meine ich das ganze Spektrum der Medienlandschaft, die für einen kritischen Diskurs offen ist.) Vor allem auch bei der Einschätzung von Ken Jebsen, einem der einflussreichsten alternativen Medienmacher, sprachen wir eine ganz andere Sprache.
Er sah ihn als einen journalistischen Wahrheitssucher, ich sehe ihn als einen politischen Aktivisten mit Anschluss an antidemokratische und rechtspopulistische Ideen (1). Dieses Gespräch erstaunte mich besonders deshalb, weil unsere grundlegende Weltsicht sehr ähnlich ist. Beide interessieren wir uns für Philosophie und die integrale Theorie Ken Wilbers und haben in verschiedenen Traditionen spirituelle Wege beschritten. Deshalb brennt in mir die Frage, wie wir zu so unterschiedlichen Einschätzungen kommen konnten.
Dringender wird mir diese Frage noch durch die Ereignisse der letzten Zeit und der Tatsache, dass bei den Corona-Demonstrationen auch rechtspopulistisches und reichsbürgernahes Gedankengut Platz findet. Und nicht nur bei einigen Rechtsradikalen, die diese Gelegenheit für sich nutzen, sondern auch im Denken einiger Sprecher und Köpfe der „Querdenker“-Bewegung, die die Anti-Corona-Proteste organisieren. Dies wurde mittlerweile schon mehrfach aufgezeigt (2).
Besonders berührt und erschreckt hat mich das Monitor-Interview mit Michael Ballweg (3), in dem er sagte, dass die Bundesregierung die Demokratie mehr gefährde als Rechtsradikale. Einerseits war ich mir nicht sicher, ob er sich überhaupt im Klaren ist, was er da sagt. Aber Ballweg bemühte auch das Argument der Reichsbürgerbewegung, dass Deutschland eigentlich keine rechtmäßige Verfassung habe, und man eine verfassungsgebende Versammlung initiieren wolle. Eine Aussage, die von Unkenntnis grundlegender demokratischer Prozesse und einem politischen Realitätsverlust zeugt.
Auch als der Moderator Georg Restle, dessen Fragestil ich etwas zu aggressiv empfand, Ballweg mit einer Aussage des als Volkslehrer und Holocaust-Leugner bekannten Nikolai Nerling konfrontierte, schien Ballweg zunächst ahnungslos.
Nerling hatte auf einer Kundgebung von sechs Millionen Teilnehmern der Demo gesprochen und damit eine Parallele zum Holocaust gezogen. Als Ballweg verstand, was Nerling da gesagt hatte, distanzierte er sich sofort von dem Mann, mit dem er zuvor laut Aussage Nerlings gemeinsam grillen war. Immerhin fand ich diese Distanzierung konsequent und ehrlich.
Jeden umarmen, egal welcher Gesinnung
Auch Stephan Bergmann, der Pressesprecher von „Querdenken“, versteht sich scheinbar gut mit Nerling und umarmte ihn bei einer Veranstaltung. Bergmann meinte, er würde jeden umarmen, egal welcher politischen Gesinnung, weil er an die Kraft der Liebe glaube.
Bergmann ist Gründer des Vereins für indianisches Lebensweisen und sein Markenzeichen ist ein Shirt mit der Aufschrift „Ich bin schön, ich bin heil, ich bin wild, ich bin frei“ und eine schamanische Trommel. Auch Bergmann äußert die unter Reichsbürgern verbreitete Ansicht, dass das Grundgesetz nur ein Besatzungsrecht sei.
Diese Ereignisse führen für mich zu der Frage, inwieweit die alternative, esoterische und spirituelle Szene für rechtes Gedankengut offen ist, ihm naiv gegenübersteht oder sich davon vereinnahmen lässt. Dazu gehört auch die Frage: Zeigen sich in der gegenwärtigen Situation auch Schattenseiten, Verkürzungen und Missverständnisse einer spirituellen, alternativen Weltsicht besonders klar, für die wir wach sein sollten?
Natürlich ist es problematisch, von der alternativen, spirituellen Szene zu sprechen, denn darin ist ein breites Spektrum Menschen, Ideen und Bewegungen angesprochen. Deren einfachster gemeinsamer Nenner ist vielleicht der, dass sie innerliche Erfahrungsweisen aufschließen wollen, um neue Sinnhorizonte und Lebensimpulse zu finden. Dieses Anliegen teile ich, sehe aber auch vermehrt, dass es in einigen esoterischen Ausprägungen zu Fehlschlüssen führen kann, besonders dann, wenn man sich in politisches Gebiet begibt.
Fehlende Bereitschaft zu rationalem Diskurs
Ausgelöst durch diese Fragen und das Treffen mit meinem Freund habe ich mir ein Video angeschaut, in dem Ken Jebsen zu einer friedlichen Evolution (4) aufruft. Was er darin aber meines Erachtens tut, ist die Fundamente eines rationalen Denkens und Diskurses zu durchlöchern. Er tut dies auch mit den Mitteln spiritueller Ideen einer uns übersteigenden Quelle oder Kraft des Universums oder einer uns verborgenen Dimension.
Vor allem aber ermutigt er den Zuschauer, sich auf seine Gefühle und Intuition zu verlassen und der Wissenschaft zu misstrauen. Er erklärt zudem, dass niemand nur rechts oder links sein, weil wir doch alle rund, also ganz sind.
Das alles trägt er in einer schnellen Sprache vor, die von einem Thema zum anderen wechselt, ohne seine Behauptungen schlüssig zu begründen. Muss er auch nicht, es sind alles nur Metaphern, wie er sagt. Als Unterstützung für seine Überlegungen zitiert er zum Beispiel den ganzheitlichen Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, der ja auch gesagt habe, dass man letztendlich nichts über die Wirklichkeit wissen könne.
Mir kam es so vor, als zündet er Nebelkerze um Nebelkerze, um die Unterscheidungsfähigkeit und rationale Vernunft des Zuschauers zu vernebeln und auf dessen Sehnsüchte nach einer besseren, gerechteren, ökologischeren Welt anzusprechen. Das aber mit dem Subtext, sich eher auf die eigenen Gefühle zu verlassen, statt auf Fakten, die doch eh manipuliert werden.
Dass Jebsen selbst, in dem Video „Gates kapert Deutschland“ (5), auf das sich dieses Video beziehen soll, selbst massiv Fakten manipuliert hat (6), erwähnt er natürlich nicht. Kein Wort darüber, dass die Feststellung dieses Videos, dass Gates die Welt und Deutschland im Griff hat, durch die realen Zahlen z. B. seiner Zuwendungen für die WHO nicht gedeckt ist.
In einem rationalen Diskurs müsste er darauf eingehen, wie er seine These begründen will, wenn doch die Daten, aus denen er sie zieht, nicht stimmen. Aber er sagt einfach, dass die Mainstreammedien natürlich immer etwas finden, um ihn zu diffamieren.
Damit entzieht er sich aber eines rationalen Diskurses von begründetem Argument und begründetem Gegenargument. Er spricht den Zuschauer in seiner Emotionalität und auch spirituellen Sehnsucht an, wenn er beispielsweise von Liebe, Gemeinschaft, Naturverbundenheit, Evolution und „das nächste Level“ unserer Entwicklung spricht.
Schatten der Spiritualität
Und hier liegt für mich ein Grundproblem dieser Dynamik, weil die Kritik eines allein rationalen Weltverständnisses auch ein Kernelement des spirituellen Denkens ist. So kann es schnell zu einer Verwirrung kommen, die Ken Wilber als Prä-Trans-Verwechslung bezeichnet.
Die berechtigte Kritik am Rationalen, an der materialistischen Wissenschaft, einem gegenständlichen, getrennten Umgang mit der Welt führt uns dann vor das Rationale zurück, wo Naivität, unflektierte Gefühle, spirituelle Verschmelzungssehnsüchte aber auch Schwarz-weiß-Denken und Feindbilder wirken.
Wilber hat den Begriff schon vor Jahrzehnten eingeführt, um eine Spiritualität, die unsere Ratio schwächt, indem wir an Dinge, Ideen und Wesen glauben, die unserer Einbildung entstammen, von einer aufgeklärten, transrationalen Spiritualität zu unterscheiden. Diese aufgeklärte Spiritualität integriert und erhellt die Ratio, statt sie zu negieren oder zu schwächen.
Wilber kritisierte damit auch vieles, was in der New-Age-Szene gedacht und praktiziert wird. Damit ist das Phänomen nicht neu, sondern kommt durch die gegenwärtigen Herausforderungen nun auch in den politischen Raum.
Das geschieht, wenn Menschen, die den Corona-Maßnahmen kritisch gegenüberstehen, sich darin nicht auf begründete Argumente verlassen – von denen es ja auch tatsächlich viele gibt –, sondern auf Verschwörungsideen, verzerrte Daten, auf Gefühle der Bedrohung oder vereinfachte Erklärungen über die Ursachen.
Aber damit besteht die Gefahr, verschwörerischen, antisemitischen und antidemokratischen Sichtweisen die Tür zu öffnen, die auf diese Gefühle und spirituellen Sehnsüchte und Hoffnungen auf eine friedlichere, gerechtere, naturverbundenere Welt antworten und einfache Erklärungen geben. Und Jebsen weiß genau, wie er besonders in einer Zeit massiver Unsicherheit diese Sehnsüchte ansprechen kann.
Die Wissenden, die die Wahrheit kennen
Ein drastischeres Beispiel für diese Dynamik ist Heiko Schrang, der auch auf der „Querdenker“-Demo am 29. 8. 2020 sprach. Schrang steht dem Denken der Reichsbürger nahe, die die Legitimität der bundesdeutschen Demokratie negieren und bezeichnet sich selbst als Buddhist. Bei einem Video über seinen Auftritt bei der Demonstration (7) erklärt er, dass es bei seinem Vortrag am Himmel ein Zeichen gegeben habe. Um dann nur zu bemerken, dass man das vielleicht nicht erklären kann, wobei es ja viele Dinge gäbe, die unerklärlich sind.
Schrang versteht es vor allem, im Zuschauer das Gefühl zu wecken, Teil einer Gruppe von Wissenden zu sein, die die Wahrheit kennen. Sich als Eingeweihter in ein verborgenes Wissen zu fühlen, ist auch bei spirituellen Gruppen weit verbreitet und nährt heute ein ganzes Spektrum an Verschwörungserzählungen bis hin zur Pseudoreligion von Qanon (8).
Das Q, mit dem sie sich erkennbar machen, ist auf „Querdenker“-Demos immer wieder zu sehen. Das „Q“ steckt auch in „QAnon“, einer Gruppe aus den USA, die rechtsextremes Gedankengut im Internet verbreitet. Sie sieht eine jüdische Elite als Fadenzieher hinter allem Übel. Dieser verbreitete Antisemitismus ist natürlich mit rechtem Denken kompatibel.
Schrang spricht immer wieder über Karma, Liebe, Frieden, Freiheit und andere spirituell aufgeladenen Ideen, nur um dann sofort die Feinde des Friedens aufzuzählen: Regierung, Medien, Bill Gates etc. Während seines Auftritts bei der genannten „Querdenker“-Demo werden Plakate mit Politkern und Journalistinnen in Sträflingskleidung und der Aufschrift „schuldig“ herumgetragen in einer Art propagandistischem Standgericht. Damit steht hinter den Friedensbekundungen eine spaltende Agenda – wobei er und damit seine Zuhörer natürlich auf der richtigen Seite stehen.
Dieses „Wir“ der Sympathisanten wird dann häufig gleich auf „das Volk“ übertragen. Schrang und Jebsen sehen sich dann als Stimme des Volkes bzw. sie verkaufen sich so. Die Überzeugung, man vertrete die Mehrheit des Volkes, wenn dies nachweislich nicht der Fall ist, ist eine narzisstische Selbsttäuschung. Man fühlt sich vielleicht als Vertreter des Volkes, aber das heißt noch lange nicht, dass man es ist. In einer Demokratie muss man eben doch das ganze Volk fragen.
Narzisstische Erhöhung der eigenen Meinung
Hier geschieht eine Art narzisstischer Erhöhung der eigenen Meinung zum Volkswillen. Das bringt Schrang zu der Forderung, dass eine demokratisch gewählte Regierung abdanken müsse, was im Grunde anti-demokratisch ist. Solche Fantasien erinnern an die Dynamiken in der Weimarer Republik und es gibt einige Autoren, die darauf hinweisen, wie ähnlich manche der hier beschriebenen Dynamiken denen der Phase vor der NS-Diktatur sind (9).
Dieser Narzissmus, der die eigene Meinung absolut setzt, lässt sich auch beim Verständnis von Freiheit beobachten: Meistens meinen die Verfechter damit ihre eigene, persönliche Freiheit: Ich erlebe es vielleicht als Einschränkung meiner Freiheit, wenn ich im Supermarkt eine Maske tragen soll. Jemand anderes erlebt es als Einschränkung seiner Freiheit, wenn ich keine Maske trage. Natürlich sind Freiheitsrechte essenziell in einer Demokratie, und es ist wichtig zu demonstrieren, wenn man sie bedroht sieht. Aber Demokratie bedeutet auch, die Freiheit der anderen zu achten.
Diese Interessenskonflikte müssen in einem demokratischen Prozess verhandelt werden und demgemäß wird von einer regierenden Instanz entschieden, der die meisten Menschen für eine Zeit das Vertrauen geben. Genau so geschieht es gerade: Laut einer Umfrage vom 17. September 2020 finden 70 Prozent der Bevölkerung die Corona-Maßnahmen derzeit gerade richtig, 18 Prozent meinen, sie müssten noch härter ausfallen werden (10). Das bedeutet für den Einzelnen, dass er oder sie diese Entscheidung mittragen muss, auch wenn sie ihm nicht gefällt und er dagegen demonstriert und Argumente dagegen einbringt. So geht Demokratie.
Ehrlicher Umgang mit den eigenen Schatten
Das sind nun einige Überlegungen, die mich dazu bringen, für die alternative-spirituelle Szene auch die Notwendigkeit eines ehrlichen Umgangs mit den eigenen Schatten und Verkürzungen zu sehen. Und das nicht nur individuell, sondern in den gemeinschaftlichen Feldern.
Diese Klärung ist auch deshalb nötig, weil wir sonst die dringend notwendige Wirkung einer spirituell inspirierten Perspektive im öffentlichen Diskurs verlieren könnten. Wenn Spiritualität, Meditation und Ähnliches als etwas gesehen werden, das uns politisch und demokratisch unreif oder naiv macht, dann entziehen wir uns selbst die Legitimität. Wir bringen den positiven Einfluss, der zum Beispiel durch die Achtsamkeitsbewegung erarbeitet wurde, in Gefahr.
Dadurch würde aber dem demokratischen Diskurs eine wichtige Stimme fehlen. Denn Spiritualität hat die Aufgabe, uns darauf hinzuweisen, dass eine Demokratie ohne Seele, ohne den Einbezug einer tieferen Seinsdimension auch an Grenzen stößt. Auch wird das Gespräch über eine Weiterentwicklung der Demokratie etwa in partizipativere und direkte Formen vereitelt, weil so viel Energie darin geht, die vorhandene Demokratie zu bekämpfen. Ein Gespräch über konstruktive Visionen über das Jetzige hinaus kann nur auf dem Boden fruchtbar sein, das stabile demokratische Fundament zu schätzen und weiter zu entwickeln, statt es zerstören zu wollen.
Denn nur dann kann es gelingen, die wichtigen Probleme unserer Gesellschaft zu lösen, wie den Wandel zu einer gerechteren, ökologischen Wirtschaftsordnung, einer lebendigen Demokratie oder einem effektiven Umgang mit dem Klimawandel. Um hier aufgeklärt, wirksam und wachsam mitreden zu können, müssen wir unsere eigenen Schatten und die Schatten der Ideen und Gemeinschaften, mit denen wir uns verbinden, erkunden. Und das vor allem auch im wertschätzenden, aber auch ehrlichen und manchmal konfrontativen Dialog, der uns gesprächsfähig macht und dem wir auch die Kraft geben, uns zu verwandeln.
Dieser Text erschien zuerst auf dem Portal Ethik heute.
Links und Quellen:
Zu Ken Jebsen:
(2) https://www.facebook.com/watch/?v=805127090233802
(3) https://www.youtube.com/watch?v=687urCFozqg&t=156s
(4) https://www.youtube.com/watch?v=H40a-hPB4zI
(5) https://www.youtube.com/watch?v=xU0g0l8rAQg
(6) https://www.volksverpetzer.de/aktuelles/kenfm-entlarvt/
Zu Heiko Schrang:
(7) https://www.youtube.com/watch?v=dzCDiufWDnk&t=944s
Zu Qanon:
- auch Spiegel-Titelgeschichte vom 19.9.2020 und https://www.domradio.de/themen/corona/2020-05-20/bizarre-ideen-religionswissenschaftler-ueber-antisemitische-mythen
(9) https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/stuttgart-du-jerusalem?fbclid=IwAR00EjWhDrv1F-QQ0-DiCNkxXp1yNOJ7eK0CYkIMILTf5aLZTOhYkH3_gIc
(10) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-corona-proteste-100.html
Zu „Querdenkern“
https://www.youtube.com/watch?v=687urCFozqg&t=156s
https://www.facebook.com/derspiegel/videos/263483017972768
https://www.facebook.com/derspiegel/videos/805127090233802/
Zu Parallelen zur Zeit der Weimarer Republik:
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/stuttgart-du-jerusalem
Weitere Texte von Mike Kauschke zum Thema:
https://www.evolve-magazin.de/blog/corona-als-vertrauensfrage/
https://ethik-heute.org/im-sturm-der-meinungen/
https://mike-kauschke.de/gedanken-zu-corona/